Architektur mit Aussicht

Als seien die Berge nicht hoch genug, hat sich der Alpen-Club in früheren Zeiten beim Bau von Aussichtstürmen engagiert. Verständlich zum Beispiel auf dem Eschenberg bei Winterthur, das bekanntlich ziemlich im Loch liegt. Die Bauten des «Zeitalters der Aussichtstürme» waren noch bescheiden im Vergleich mit den babylonischen Exzessen der vergangenen fünfzehn Jahre.

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„Der Thurm auf dem Eschenberg ist im Laufe des letzten Sommers erstellt worden. Er ist 30 m. hoch, ganz aus Eisen gebaut, mit einer Wendeltreppe in der Mitte und sieben Stockwerken, unten 8 m., oben 4 m. im Quadrat. Da die verschiedenen Plattformen den Blick in die Tiefe und nach oben abschneiden und zugleich angenehme Ruheplätze bilden, so ist der Aufstieg weder schwindlig noch beschwerlich. Eine weite Rundsicht belohnt den Ersteiger; die Alpenkette ist vom Säntis bis zur Jungfrau sichtbar. Der Bau, von Boßhard & Co. in Näfels ausgeführt, kostete Fr. 13,209.-, wovon Fr. 11,579.45 auf die Eisenconstruction entfallen. Die Kosten sind durch Gaben von Privaten, einzelnen Vereinen und der Stadt bestritten worden. Der Thurm wurde am 25. August [1889] feierlich eingeweiht und der Stadt als Eigenthum übergeben. Seither ist er ein eigentlicher Wallfahrtspunkt für die Bevölkerung der ganzen Umgegend geworden.“

Schreibt die Sektion Winterthur des Schweizer Alpen-Club in ihrem Bericht für das Jahr 1889, abgedruckt im 25. SAC-Jahrbuch. Prägnanter kann man es kaum formulieren: Architektur, Aussicht, Ausgaben und Adressaten. Der SAC als Förderer von Tourismus, Landeskunde und Fitness. Wer von Winterthur auf den südlich der Stadt liegenden Eschenberg (591 m) wandert, tut etwas für die Gesundheit, fördert den lokalen Tourismus (insbesondere natürlich, wenn noch in der nahen Gaststätte eingekehrt wird…) und lernt vom Aussichtsturm das Land kennen und schätzen, einst mehr mit einer Panoramatafel, heute eher mit dem PeakFinder-App.

„Im Besonderen aber war das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Aussichtstürme“, schreibt Hubertus Adam in der von ihm zusammen mit dem Schweizerischen Architekturmuseum herausgegebenen Publikation „Luginsland. Architektur mit Aussicht“. Und er zitiert Johann Wolfang Goethe, der gegen Ende des zweiten Teils der Faust-Dichtung den Türmer Lynkeus auftreten und den Ausblick besingen lässt:

Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh,
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.“

Ein paar Verse weiter hinten spricht Goethe vom „Luginsland“. Dieses ins Land Hinausschauen, das ja nicht nur eine romantische, touristische und patriotische Seite hat, sondern auch mit Überwachung und Beherrschung einherging (und –geht), hat in den letzten Jahren wieder zunehmend an Attraktivität gewonnen. Auf der ganzen Welt sind Aussichtsbauten entstanden, die als Besucherplattformen der Schaulust und dem Standortmarketing dienen, in den Bergen so auffällig wie in Stadtnähe, ja mitten in der Stadt. Die mit vielen Fotos und einzelnen Modellen und Plänen reich illustrierte Publikation entwirft – nach Rückblicken auf die Geschichte dieser ganz besonderen Architektur – ein Panorama architektonischer Interventionen aus den letzten fünfzehn Jahren. Ein besonderes Augenmerk gilt touristisch inszenierten Landschaften, wie beispielsweise dem „Jinhua Architecture Park“ in China, der „Ruta del Peregrino“ in Mexiko, den „Nasjonale Turistveger“ in Norwegen. Oder auch dem „Tour de Moron“ von Mario Botta auf dem Moron im Berner Jura. Und der Aussichtsplattform „Il Spir“ am Rande der Rheinschlucht bei Flims.

Gipfel in der Nähe, nämlich die Pizol-Ringelspitz-Gruppe nördlich des Rheins, bildeten vor 125 Jahren das offizielle Exkursionsgebiet des SAC. „Mitten im Sattel erhebt sich ein Thurm von etwa 5 m Höhe, der von ferne gesehen ganz den Eindruck eines Steinmanns macht“, schreibt der Zürcher Walter Gröbli im SAC-Jahrbuch von 1889 über eine Neutour in diesen Bergen: „Die Aussicht ist heute noch schöner als gestern.“

Hubertuns Adam, Schweizerisches Architekturmuseum (Hg.): Luginsland. Architektur mit Aussicht. Mit Beiträgen von Hubertus Adam, Gion A. Caminada und Joachim Kleinmanns. Deutsch und Englisch. Christoph Merian Verlag, Basel 2013, Fr. 29.-

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