Auf den Spuren meines Urgrossvaters

Wer über Berge spricht, nimmt gern das Wort «ewig» in den Mund. Ewiger Schnee ect. Wie heilsam es ist, die Bergwelt auf den Spuren eines Vorfahren zu durchwandern, zeigt vorliegender Band von Gilles Renaud. Nichts ist mehr, wie es war zur Zeit, als sein Urgrossvater mit Kamera und Hanfseil die Walliser Viertausender bestieg.

Auf den Spuren meines Urgrossvaters

„Mit den ersten Sonnenstrahlen verlassen wir die Monte Rosa-Hütte. Wir folgen der Moräne, steigen den Felsen hinunter und gelangen auf den Grenzgletscher. Die Eisenstufen und die Fixseile sind uns eine wertvolle Hilfe. Wie schon vor zwei Tagen staunen wir, wie weit sich der Gletscher zurückgezogen hat. Die Seilschaft um meinen Urgrossvater fand damals das Eismeer einige Meter unterhalb der Hütte. Wir müssen dafür mehrere Dutzend Meter absteigen. Unten angelangt ist es ein sonderbares Gefühl, auf die 150 Meter weiter oben liegende Moräne zurückzublicken und sich dabei das geschmolzene Eisvolumen vorzustellen.
Wir wandern eine Weile und finden den Standort der ersten Aufnahme ohne Mühe. Die Kammlinie stimmt, wir dürften den richtigen Standort gefunden haben. Nur der Blick auf das Matterhorn ist völlig verändert! Der Grund liegt darin, dass wir uns heute viel weiter unten befinden als damals, die Perspektive hat sich verändert, es ist unmöglich, noch einmal das gleiche Bild aufzunehmen.“

Auch wenn sich die Szenerie verändert hat: Gilles Renaud fotografierte die gleiche Szene wie sein Urgrossvater Charles Renaud (1865–1947). Im Vordergrund der apere Gletscher mit drei Alpinisten, voraus ein Mann, dann eine Frau, als dritter am Seil wieder ein Mann, auf dem Eis kniend und mit dem Rucksack beschäftigt. Von ihm läuft das Seil weiter zum vierten Mann, zum Fotografen. Links schwarzweiss, rechts farbig. Klar, die Ausrüstung hat sich gewaltig verändert, aber noch viel mehr die Landschaft. Vom Theodulgletscher ist heute nichts mehr zu sehen, nur trostloses Geröll. Und das Matterhorn versinkt immer mehr hinter dem Felskamm, auf dem die Gandegghütte steht. Wenn die Urenkel von Gilles Renaud seinen Spuren folgen werden, wird es wohl von diesem Standort nicht mehr sichtbar sein.

In der elterlichen Bibliothek von Gilles Renaud befanden sich zwei Alben mit Fotografien von seinem Urgrossvater, einem begeisterten Bergsteiger, Fotografen und Filmvorführer in Château-d’Oex. 95 Jahre später begab sich Gilles mit Freunden im Monte-Rosa-Gebiet auf die Spuren von Charles und suchte die Standorte, wo die Bilder aufgenommen wurden. Er brachte ortsgetreue Bilder zurück, die spektakuläre Vergleiche ermöglichen. Bei einigen Aufnahmen hat man den Eindruck, es habe sich nicht viel verändert; andere, wie schon erwähnt, zeigen überdeutlich die Spuren der Klimaerwärmung. Eindrücklich sind aber auch andere Veränderungen, wie etwa der Wald, der die Kornterrassen im Val d’Hérens verschluckt hat.

Die Fussreise führte Renaud bzw. Gilles und ihre Begleiter in fünf Etappen von Täsch über die Monte-Rosa-Hütte auf die Dufourspitze, dann weiter zur Schönbielhütte und via Tête Blanche und Cabane de Bertol hinab nach Arolla und Euseigne. Wer sie nachvollziehen will, sollte unbedingt vorher den Bildband mit den Ansichten von einst und heute in die Hände nehmen. Und auch die welsche TV-Sendung „Passe-moi les jumelles“ anschauen, die im September 2014 eine Reportage über die Hochtour auf den Spuren des Urgrossvaters gedreht hat.

Ich selbst werde in drei Wochen den Spuren meines eigenen Urgrossvaters folgen. 1917 erschien im „Berner Heim“, der Sonntagsbeilage zum „Berner Tagblatt“, in vier Folgen der Reisebericht „Im Banne des Matterhorns“ von Theophil Anker. Der letzte Abschnitt lautet so:

„So seid denn noch einmal gegrüβt, ihr schimmernden Berge mit den blendenden Firnen und mächtigen Gletschern. Ihr habt uns frohe, glückliche Stunden geschenkt; mit frischem Mute kehren wir an die Arbeit zurück und zehren noch lange an der herrlichen Erinnerung. Überall wirkt uns die Titanengestalt des Matterhorns, sie ist das Symbol der gewaltigen Gröβe jener Bergnatur; warte nur, wir sehen dich wieder!“

Gilles Renaud: Auf den Spuren meines Urgrossvaters. Reiseziel Monte-Rosa 1918–2014. Editions Monographic, Siders 2015, Fr. 49.-

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