Begegnung im Calfeisental

Als Geologe im Gebirge blicke ich oft in die hintersten Winkel der Berge und begegne dabei Vierbeinigen, gefiederten oder über den Boden schlängelnden Wesen, aber selten meinesgleichen. Und noch weniger vom anderen Geschlecht. Einmal aber doch. Eine Phantasie.

Zu Erkundungszwecken fuhr ich ins Calfeisental. Von Vättis wanderte ich zu Fuss zum Stausee und stieg dann auf dünnem Steig nach Panära auf. Dort verbrachte ich einen kalten Mittag auf der Bank beim Alpkreuz. Ich sass auf einem schmalen, grünen Bug über der engen Taltiefe und war doch noch überragt von himmelhohen Wänden. Sie waren in Nebelwolken gehüllt, aus denen heraus, über die Felsen hinab, die Lawinen donnerten, während ich fror.

Den Abstieg nahm ich über den Bärenpfad. Schmalster Steig unter frischem Lärchengrün, steil, das Kraut am Boden nass. Bei St. Martin sass ich etwas abseits auf einem grossen Stein. Hier öffnet sich das Tal nach oben hin, weit wie eine Schale. St. Martin selbst ist ein Parkplatz, ein paar Häuser, ein Restaurant und eine Handvoll flanierender Alpengäste, die einen mehr, die anderen weniger in Outdoor-Kleidung angetan.

Als ich grade talauswärts aufbrach, kam auf einmal von seitlichem Pfad, den ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte, eine Frau herab und mir entgegen. An ihren dunklen Stiefeln mit fester Sohle, an den nassen Gamaschen, klebten Gräserpollen, Blütenblätter und Halmfetzten, aus dem ausgeblichenen Rucksack schaute Zaundraht hervor. Ihr dunkelblondes Haar, ebenfalls nass oder vielleicht auch länger nicht gewaschen, trug sie lose gebunden und blickte mit Augen, aus denen das Licht des blauen Himmels und das Dunkel des Bergsees leuchtete. Ich warf ihr ein scheues „Grüezi!“ zu, da kam ein scheues „Hoi“ zurück, und ihr unbeirrter, gerader Schritt trug sie fort, auf die Häuser zu. Doch dreissig oder vierzig Meter weiter, vor der Ecke um die sie gleich darauf verschwand, drehte sie sich noch einmal kurz um.

Da war ich ausnahmsweise froh um meine alten Stiefel, rundgelaufen, eine ausgerissene Öse je, bequem wie Mokassins, die Sohle ein Sicherheitsrisiko. War froh um meine geflickte, vom Dreck des Regentages bis hoch hinauf verspritzte Berghose und die alte Millet-Jacke, die um den Rucksack geknotet, diesen vor dem Regen schützen soll. Den Hammer am Gürtel, die Stifttasche mit dem von der Salzsäure gefressenen Loch schräg umgehängt, gebe ich wohl ein ähnliches Bild.

Unsere Schritte sind entschieden, ruhig und gerade, nichts ist ihnen im Weg. Landstreicher sind stolz und scheu, unsere Worte leise. Du kamst unerwartet, Älplerin, wecktest Misstrauen, das immer auch Interesse ist. Ich werde dich nicht suchen, dich auch nicht wiedersehen, doch wenn sich unsere Wege noch einmal kreuzen sollten, dabei kollidieren, dann braucht es vielleicht nur leise, vielleicht auch gar keine Worte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert