Biografisches Wandern

Auf den Spuren meiner selbst. So wandere ich durchs Rätikon. Jeder Schritt eine Geschichte. Meine Begleiterin kennt sie alle schon – eine davon ganz hautnah.

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Bald wird es Brillen geben, die jeden Ort, an dem man einmal vorbeikam, mit einem roten Punkt zeigen. Schaut man durch diese besonderen Gläser, so ziehen sich rote Linien den Wegen entlang und über Alpweiden, durch Wälder und selbst die steilen Schutthalden hinauf und noch weiter: durch die weissen Felswände hinauf bis zum himmelhohen Horizont. So stelle ich mir das vor in einer Zukunft, in der jeder sein Leben nahtlos in den uferlosen Datenwolken speichert. Heute aber sehe ich diese Linien erst vor meinem geistigen Auge, während wir unter der endlosen Kalkfelskette des Rätikons wandern, die Daten rufe ich ab aus dem Speicher meines Gehirns, so weit sie nicht verschwunden sind. Schesaplana, Kirchlispitzen, Schweizertor, die dreigipflige Drusenfluh, die Drusentürme, Sulzfluh und Schienflue. Ein Lebensfilm rollt ab nach einem Drehbuch, das tausend Seiten füllen würde, untermalt mit dem Klangteppich der Kuhglocken von den Alpweiden und vom Klingen und Klickern der kantigen Kalksteinkiesel im Geröll. Ja, so klingt das Geröll nur im Rätikon, wird mir bewusst, und so klingen Kuhherden nur im Widerhall dieses Felsentheaters.
Ich nerve meine Begleiterin mit alten Abenteuergeschichten, sie kennt sie doch schon alle. Die wahnsinnigste Tour des Lebens, damals, keine Haken mehr und keine Holzkeile und noch drei schwere Seillängen in brüchigstem Fels vor uns und der Tag neigt sich. Am andern Morgen vor der Hütte treffen zwei Bekannte ein, steigen ein und am Abend, wir sind schon über alle Berge, schlägt der Blitz in die Wand über ihrem Biwak und eine Felsplatte löst sich, zerschmettert dem einen das Bein. Handys gab es noch nicht, nur Hilferufe, die zwei Tage später ein Hirt von der Alp hörte. Und so weiter und so weiter. Und deine Traumtour, meine Liebe, oder Alptraumtour, erinnerst du dich? Du siehst den Ausstiegsriss dort oben gegen den Grat. Als es blitzte und hagelte und du glaubtest, keinen Meter mehr höher zu kommen. Doch nun sind wir da und schauen hinauf und es sind Jahrzehnte vergangen wie der Blitz.
Wir wandern von der Schesaplana- zur Carschinahütte, unter den Kirchlispitzen kühlen wir die Füsse im kalten Wasser einer Quelle und beobachten am Schweizertor die einzige Seilschaft, die wir klettern sehen. Ich kenne die Route und du die Geschichte dazu. Einsam scheinen mir diese schroffen Kalkwände geworden, die Dolomiten der Ostschweiz. Kein so exklusives Klettereldorado mehr wie einst, dafür Wanderland. In Gruppen kommen sie uns entgegen, mit Stöcken bewehrt und funktionsbekleidet und meist von ennet der Grenze. Die Hütten sind gut besetzt und beliebt und umtriebig, fast kleine Hotels, Halbpension «aber es gibt nur einen Teller!». Ich habe mir vorgenommen, keine Heldengeschichten zu erzählen am Tisch und muss dann doch zum Besten geben, wie es damals auf der Carschina erst die kleine Bretterbude gab nebenan, die jetzt Freund Peter gehört, ein einziger Raum mit Pritschen und an Pfingsten 1962 so tief unter dem Schnee begraben, das man nur das Kamin sah.
Am andern Tag wandern wir noch auf die Sulzfluh, trotz dicken Wolken und Nebelballen und gelegentlichen Regentropfen – und nur dank dem Mut der Begleiterin, denn der Held wäre feige abgezogen aus seinem Heldentheater. So vergeht halt die Zeit und alles ist relativ, der Mut, das Alter und auch der Wetterbericht. Drunten im Land strahlt die Sonne.

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