Bonatti, Gervasutti & Co.

Wir Eidgenossen haben doch das Gefühl, dass die Alpen uns gehören: Liegt nicht hinter dem Mont Blanc, der dummerweise grad nicht mehr in der Schweiz steht, das Mittelmeer, und beginnt nicht hinter der Silvretta schon bald die Puszta? Solchem Irrglauben sei eine Zahl entgegengesetzt: 15 Prozent. So klein ist der schweizerische Anteil am Alpenbogen zwischen Nizza und Wien. Eine zweite Zahl ist noch schlimmer: Erzfeind Österreich besitzt doppelt so viel. Auch Italien und Frankreich haben mehr Alpenanteil als die Schweiz, nämlich 28 bzw. 20%. Svizzera povera! Und dass neue grosse Bergbücher von bella Italia stammen, ist irgendwie auch kein Trost. Dafür aber höchst spannend – buona lettura!

„Ich sinke in die Knie und weine.“

22. Februar 1965, 15.12 Uhr: Walter Bonatti erreicht das Gipfelkreuz auf dem italienischen Gipfel des Matterhorns. In vier Tagen ist er alleine durch die Nordwand geklettert, auf einer neuen, direkten Route. „Le plus grand alpiniste du monde“: So bejubelte der „Paris Match“ den Italiener in einer 26-seitigen Exklusivreportage. Mit dieser Tour setzte Bonatti seiner Karriere die Krone auf, um sich gleich danach im Alter von 35 Jahren überraschend vom Spitzenalpinismus zu verabschieden und sich grossen Reisereportagen zu widmen. Nun ist ein grossartiger Bildband erschienen, der sein alpinistisches Leben beleuchtet: „Walter Bonatti. Il sogno verticale. Cronache, immagini et taccuini inediti di montagna.” Aus dem Nachlass, der im Museo della Montagna di Torino aufbewahrt ist, ist unter der Führung von Angelo Ponta das vielschichtige Werk „Der vertikale Traum“ entstanden, das mit unveröffentlichten Fotos, Zeitungsausschnitten, Briefen, Topos und Tourenbücherkopien Bonattis Wege und Umwege, Erfolge und Erschütterungen nachzeichnet. Von der „Geburt eines Alpinisten“ bis zum „nachvollziehbaren Abenteuer“ liegt da Seite um Seite die Karriere eines ganz grossen Bergsteigers vor uns ausgebreitet vor.

In Italien wird ein anderer Alpinist fast ebenso verehrt wie Bonatti: Giusto Gervasutti. 1909 im Friaul geboren, am 16. September 1946 beim Rückzug an einem undurchstiegenen Granitpfeiler des Mont Blanc de Tacul ums Leben gekommen; der Pfeiler trägt heute seinen Namen. „Il fortissimo“ (der Stärkste): Unter diesem Spitznamen ist Gervasutti noch heute bekannt. So heisst auch die Zweitausgabe seiner alpinistischen Schriften, die übersetzt als „Bergfahrten“ in der Reihe „Alpine Klassiker“ 1992 erschienen sind. Was aber bisher fehlte, war eine Biografie des legendären Alpinisten, der bei der Lösung der letzten Probleme der Alpen (wie an den Grandes Jorasses) in den 1930er Jahren mitmachte. Enrico Camanni, Journalist und Buchautor, hat diese Aufgabe mit Bravour gelöst. Von den ersten Kletterversuchen bis zur letzten Fahrt (und zur letzten Foto) zeichnet Camanni das Bild eines starken Alpinisten nach, dem die Abenteuer in Fels und Eis mehr zusagten als diejenigen im Alltag und in der Politik.

Und da wären wir mitten in einen Schneesturm geraten, der eigentlich schon lange vorbei sein sollte, aber immer noch nachhallt – und der vor allem auch noch nie wirklich aufgearbeitet wurde. Thema ist die politische Auseinandersetzung um die Schutzhütten in Südtirol: Die Hütten waren und sind begehrte Objekte, um die sich die Länder und ihre Vereine fast so heftig stritten wie um den Boden, auf dem sie gebaut wurden. Südtirol eben: einst österreichisch, heute italienisch; Erster und Zweiter Weltkrieg; Faschismus und bombenüberschattete Nachkriegszeit. Zum Beispiel die Hallesche Hütte im Ortler-Cevedale-Massiv, 1897 von der Sektion Halle des Deutschen Alpen-Vereins erbaut, im Januar 1911 von drei Schweizern während der ersten Ski-Umrundung des Ortlers besucht, im Ersten Weltkrieg von der italienischen Artillerie unter Beschuss genommen und 1918 abgebrannt. Sie ist auf dem Titelbild der grundlegenden Studie von Stefano Morosini zu sehen: „Il meraviglioso patrimonio. I rifugi alpini in Alto Adige/Südtirol come questione nazionale (1914–1972).” Bergsteigen und erst recht der Bau und Unterhalt von Hütten und Häusern für Bergsteiger finden halt nicht im luftleeren Raum statt.

Das weiss natürlich ebenfalls der Architekt Antonio De Rossi, Direktor des Istituto di Architettura montana am Polytechnikum von Turin. Nach seinem ersten, preisgekrönten Band „La costruzione delle Alpi. Immagini e scenari del pittoresco alpino (1773–1914)” ist der Nachfolgeband herausgekommen: „La costruzione delle Alpi. Il Novecento e il modernismo alpino (1917–2017)”. Ein gigantisches Werk darüber, wie der Mensch im 20. Jahrhundert – vom Aufbruch in die Moderne nach dem Ende der Belle Epoque über die Bauhaus-Epoche bis heute – die Alpen gestaltet und umgestaltet hat. Aus dem 656-seitigen, mit 181 Abbildungen illustrierten Meisterwerk seien nur ein paar Kapitelüberschriften notiert, um einen Eindruck davon zu erhalten, was Antonio De Rossi detailliert, mit vielen Fussnoten und Literaturhinweisen unter die Lupe nimmt: „Una civilizzazione d’alta quota?“, „L’epopea delle Hochalpenstraβen“, „Spazialità ed estetica dello sci da discesa“ oder „Chalet du skieur e Sporthotel.“ Nur schon damit ist ersichtlich, dass De Rossi weit über den Rand der italienischen Alpen hinausgeschaut hat. Klar, Sestriere, Baronecchia und Cervinia, diese „Baustellen der alpinen Moderne“, werden vertieft behandelt. Auch Walter Bonatti tritt zweimal auf, so mit seiner alleine geglückten Erstdurchsteigung des Südwestpfeilers des Petit Dru vom 17. zum 22. August 1955: „una tappa fondamentale nella storia dell’alpinismo.“

Angelo Ponta (a cura di): Walter Bonatti. Il sogno verticale. Cronache, immagini e taccuini inediti di montagna. Rizzoli, Milano 2016, € 35.- www.rizzoli.eu

Enrico Camanni: Il desiderio di infinito. Vita di Giusto Gervasutti. Editori Laterza, Bari 2017, € 19.- www.laterza.it

Stefano Morosini: Il meraviglioso patrimonio. I rifugi alpini in Alto Adige/Südtirol come questione nazionale (1914–1972). Fondazione Museo storico del Trentino, Trento 2016, € 20.- www.museostorico.it

Antonio De Rossi: La costruzione delle Alpi. Il Novecento e il modernismo alpino (1917–2017). Donzelli editore, Roma 2016, € 42.- www.donzelli.it

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