Die Alpen im Anthropozän

Ein überzeugendes Bergbuch zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Alpen. Denen die jüngste geochronologische Epoche, in welcher der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist, besonders zusetzt.

«Nirgends verschränken sich Natur- und Kulturräume so eng wie in den Alpen. Nirgends ist der Einfluss auf die Landschaft des Anthropozän so allgegenwärtig wie in den Alpen: Energielandschaften, touristische Nutzung der Natur, Ergrünen und Erbraunen der Flora, Gletschersterben, Bergstürze. Gerade darum eignen sich die Alpen ganz besonders, unterschiedliche Qualitäten von Nachhaltigkeit im Zusammenspiel zwischen verschiedenen Sektoren wie Land-, Forst- und Energiewirtschaft, aber auch zwischen Tourismus, Wohnen und lokalem Handwerk genauer zu untersuchen und zu beleuchten.»

Schreibt Boris Previšić, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und seit 2020 Gründungsdirektor des Urner Instituts Kulturen der Alpen, im Vorwort zu dem von seinem Institut herausgegebenen Reader „Nutzen, Benutzen, Hegen, Pflegen. Die Alpen im Anthropozän“. In diesen vier Kapiteln bringen bekannte und unbekannte Autorinnen und Autoren aus dem Alpenraum und aus verschiedenen Fachrichtungen anwendungsbasiertes Erfahrungswissen mit der aktuellen Forschung zusammen, schlagen sinnvolle Durchführung vor und verbinden diese mit Zukunftsszenarien. Liest sich schwergewichtig und bedeutungsschwer, nicht wahr? Keine Angst. Ob man mit Köbi Gantenbein alpines Bauhandwerk begutachtet, ob man mit Andrea Meier beim Eisfischen auf dem Arnensee im westlichsten Berner Oberland friert (wenn sich denn auf dem Wasser überhaupt eine tragfähige Eisschicht bildet), ob man – perfekt passend dazu – mit Wilfried Haeberli durchs aufgeheizte Hochgebirge wandert (wenn der Weg wegen Felssturzgefahr nicht gesperrt ist), ob man mit Eva-Maria Müller einen Gipfeldieb in Wien besucht oder ob man mit Roman Hüppi über das Kohlenstoffsenken in der alpinen Landwirtschaft nachdenkt: Immer liest man die 4 x 4 Beiträge mit Interesse und Erkenntnis, Unterhaltung und Gewinn. Zu jedem Beitrag gibt es einen Informationskasten und eine ausgewählte Biografie.

Und, ganz wichtig: Die Beiträge sind fein, geschickt und überraschend illustriert mit Fotos von Marco Volken. Zudem liegt das in Dallenwil NW gedruckte Buch – Broschur mit Klappen – gut in der Hand. Zum Mitnehmen im Rucksack ist es mit den 390 Gramm vielleicht etwas schwer. Doch ist baden nicht ohnehin schöner als wandern? Warum nicht im Urnerland? Beim Reussdeltaturm befindet sich ein Bad, und zum Arnisee mit seinen Bademöglichkeiten fahren zwei Seilbahnen. Worauf warten wir noch? Zum Beispiel auf viele neue Beiträge des Urner Instituts Kulturen der Alpen. Sie sind ebenfalls zu finden und lesen in seinem Online-Magazin „Syntopia Alpina“. Syntopia sind gemeinsame Ort: «Syn-Topoi». www.syntopia-alpina.ch

Urner Institut Kulturen der Alpen (Hg.): Nutzen, Benutzen, Hegen, Pflegen. Die Alpen im Anthropozän. Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023. Fr. 36.-

Buchvernissage mit Apéro und musikalischer Umrahmung: Montag, 11. Septemer 2023, 18 Uhr; Zeughaus Parterre, Lehnplatz 22, Altdorf; Anmeldung erwünscht: veranstaltungen@kulturen-der-alpen.ch.

Weitere Buchpräsentationen: Mittwoch, 8. November 2023, 18.30 Uhr, Alpines Museum der Schweiz in Bern. Sonntag, 12. November 2023, 14 Uhr, BergBuchBrig.

Der Wanderfotograf

Im Zusammenspiel mit ausgesuchten Familienfotos erhellt Mario Casellas biografischer Roman „Der Wanderfotograf“ nicht nur die bewegende Lebensgeschichte Roberto Donettas, sondern veranschaulicht auch die Anfänge der Fotografie in einem hoffnungslos armen Tessiner Tal.

«Das ist nicht gut … Ihr dürft Euch nicht zu mir drehen. Ich bin nicht da. Stellt Euch vor, Ihr wärt allein auf dem Gipfel. Jeder muss in eine andere Richtung schauen.»
Als ich diese Worte sagte, ist es mir vorgekommen, als hätte der Vater sie gesprochen.
Nachdem alles bereit war, habe ich das Foto geschossen, und als ich von der Kamera aufblickte, habe ich mir ausgemalt, was Vater beim Entwickeln sagen würde: «Sehr schön! Weißt du, was mir daran am besten gefällt? Der Hintergrund mit den weißen, aus dem Tal aufsteigenden Wolken. Eine Kulisse von außergewöhnlicher Lichtintensität. Diese Haufenwolken bringen die Bergsteiger besonders zur Geltung und lassen die Szene noch dramatischer wirken, als sie ist … Was für ein Schauspiel!»

Ausschnitt aus dem letzten der dreizehn Kapitel, in denen Saulle, der jüngste Sohn des Tessiner Samenhändlers und Fotografen Roberto Donetta (1865–1932), auf das Leben seines Vaters blickt, vor allem auf seine Arbeit als Fotograf. Und an dieser war Saulle immer wieder beteiligt, zuerst nur als Motiv, aber schon bald auch als Helfer für die beste Inszenierung, und zuletzt gar als Fotograf, weil der Vater den Aufstieg über den Gipfelgrat auf die Adula (3402 m), den höchsten Gipfel des Tessins, nicht mehr schaffte: „Saulle, ich kann nicht mehr. Mein Herz rast, und ich bekomme kaum Luft hier oben. Geh du mit ihnen weiter. Nimm nur das Allernötigste mit. Worauf es ankommt, ist das Gipfelfoto!“ Auf Seite 194 im druckfrischen Buch „Der Wanderfotograf“ sehen wir das schwarzweisse Foto, drei Bergsteiger und rechts der markante Gipfelsteinmann. Der Tessiner Autor, Bergführer, Fotograf und Filmer Mario Casella verfasste den biografischen Roman über Donetta. Er ist sehr schön, ja ein Schauspiel!

Mario Casella erzählt in seinem ersten Roman die bewegende Geschichte Roberto Danettas, der seine Familie, die Menschen und die Landschaft des Valle di Blenio hundertfach in Szene setzte. Eine tragische Figur, dieser Robertón. Ein neugieriger Mensch, der die neue Welt entdecken wollte, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftat. Und die Fotografie war ein Weg, um diese Welt zu erzählen. Aber die Hindernisse am Weg waren hoch, die Familie mit sechs Kindern musste ernährt werden, die Arbeit als fliegender Samenhändler brachte nicht viel ein, diejenige als Fotograf auch nicht, die Ausrüstung war teuer, die Glasplatten ebenso. Ein Künstler, verloren in einem mausarmen Bergtal. Am 6. September 1932 fand man ihn tot in der Casa Rotonda in Casserio bei Corzoneso im mittleren Bleniotal. Die Behörden pfändeten die wenigen von ihm zurückgelassen Sachen, um die Schulden zu begleichen und die Beerdigung zu zahlen. Über fünftausend Fotoplatten, die Notizbücher und der Briefwechsel verblieben in einigen Kisten und Kartons in der Gemeinde Corzoneso. Mitte der 1980er Jahre entdeckte man den Schatz, insbesondere die Fotos. Mario Casella vertiefte sich jedoch noch in die Tagebücher und Briefe. Und hat daraus ein überzeugendes Buch gemacht.

Zwei sich abwechselnde Erzählstränge beleuchten Leben und Werk von Donetta. Der eine Strang schildert in 15 Kapiteln, oft mit Zitaten aus Tagebüchern und Briefen, die Bemühungen, die Ideen, die Versuche, die Freuden und das Versagen eines Mannes, mit sich und seinem Umfeld ins Reine zu kommen. Besonders faszinierend dabei, wie der Biograf ihm über die Schulter schaut, wenn er seine Gedanken ins Notizbuch schreibt: „Man muss Worte finden und sie auf Papier bannen“ lesen wir auf der ersten Seite. Mario Casella fand sie. Er fand sie ebenfalls in den Saulle-Kapiteln, die jeweils mit einem Foto eingeleitet werden, dazu sich dann feine Erläuterungen finden. Man liest, blättert zurück, schaut sich das Foto an, liest weiter. Wandert sozusagen durch das Buch, auf gut geschnürten Schuhen, geführt von einem Bergführer, der den Stift so gekonnt handhabt wie den Pickel.

„Senza Scarpe“: So lautet der originale Titel – ohne Schuhe. Doch gute Schuhe hätte der Fotograf brauchen können, der mit Samenkiste, Kamera und Stativ sein Tal immer wieder durchwanderte. Gute Schuhe brauchte Saulle, als er Holzfäller wurde und das Tal und seinen Vater schliesslich verliess. Für die Besteigung der Adula hatte er ein Paar gebrauchte Schuhe erhalten: „Auf der Bank neben dem Vater, den Rücken an die Hüttenwand gelehnt, habe ich die Augen über das Tal schweifen lassen. Dann ist mein Blick auf die vom Schnee feuchten und den vorangegangen Touren unseres Kunden abgenutzten Schuhe gefallen. Fest und stabil sahen sie aus, bereit, meine Füße in ein neues Kapitel meines Lebens zu tragen.“

Mario Casella: Der Wanderfotograf. Biografischer Roman. Mit Fotos von Roberto Donetta. Vorwort von Guido Magnaguagno. Atlantis Literatur Verlag, Zürich 2023. Fr. 35.-

Fondazione Archivio fotografico Roberto Donetta, Casa Rotonda, a Cassì 27, 6722 Corzoneso, https://archiviodonetta.ch

Buchvernissage «Der Wanderfotograf»: Alpines Museum der Schweiz in Bern, Mittwoch, 30. August 2023, 19 Uhr. Mit Mario Casella und Guido Magnaguagno, Moderation Daniel Anker. Eintritt Fr. 15.-/10.-. Anmeldung: libromania@libromania.ch

Talgeschichten aus hohen Bergen

Drei unterschiedliche Talgeschichten aus hohen Alpentälern der Schweiz: Avers, Ursern, Arosa.

«Um ein Haar wäre das Hochtal unter Beton verschwunden. Dutzende von Baggern hätten den Boden umgepflügt, Kran neben Kran am Himmel gekratzt, Betonmischer das Pfeifen der Murmeltiere übertönt, unzählige Lastwagen Steine und Holz ins Tal gekarrt – um im Obertal ein Megaresort zu bauen. Eine gigantische Retortenstadt, wie sie damals zu Dutzenden in den französischen Alpen buchstäblichen aus dem Boden schossen. Mit seinen zwanzig Anlagen und 10000 Gästebetten hätte das Feriendorf im Kanton Graubünden jeden Rahmen gesprengt.»

So kraftvoll leitet die Publizistin und Kulturwissenschaftlerin Ina Boesch das Kapitel „Aus dem Nichts der Bergeinsamkeit. Wie ein Genfer Unternehmen das Avers zubauen wollte (20. Jh.)“ in ihrem Buch „Schauplatz Avers. Geschichten einer Landschaft“ ein. Geblieben von diesem grössenwahnsinnigen Plan aus den 1960er Jahren, eine der vielfältigsten und schneesichersten Skitourenregionen Graubündens dem Pistenskilauf zu opfern, sind zwei kleine Skilifte. Ein paar Jahre später kam die nächste Gefahr für das Avers, genauer für sein unendlich langes, unendlich schönes Seitental Val Madris: Die Kraftwerke Hinterrhein AG wollten dort ein Pumpspeicherwerk bauen. 1998 wurde das Projekt begraben, vor allem dank des so hartnäckigen wie witzigen Widerstandes der Hirten, Avnerinnen und Umweltschützer. Zwei Kapitel aus einem sehr lesenswerten, fein illustrierten Buch über ein sehr besuchenswertes Tal, sommers wie winters.

«Es war eine wundervolle Nacht, der Mond warf sein silbernes, sanftes Licht über die flimmernde Ebene und die glänzenden Berge, davon grossartige Massen prächtiger dunkler Schlagschatten über das schneebedeckte Tal sich hin strekten.»

Notierte der Basler Textilkaufmann Albert Emanuel Hoffmann-Burckhardt (1826–1896) im zweiten Band seines insgesamt 14 Bände umfassenden Tagebuches über die abendliche Ankunft in Andermatt im Spätherbst 1874. Er befand sich auf dem Weg über den Gotthard nach Mailand. Er kannte aber nicht nur diesen Arbeitsweg, sondern auch die Berge hinten im Urserntal sowie im Nachbartal von Göschenen: Der Mitbegründer des Schweizer Alpen-Clubs bestieg als erster sowohl Schnee- als auch Dammastock. Tagebuchnotiz und Angaben zur beruflichen Tätigkeit von Hoffmann-Burckhardt finden sich im Kapitel „Ein Basler Geschäftsmann auf Reisen“ im Essayband Talgeschichte Ursern im 19. und 20. Jahrhundert“ des Baslers Geschichtsprofessors Martin Schaffner. Spannende Aspekte beleuchtet er, insbesondere zur Agrargeschichte. Aussen vor bleiben erstaunlicherweise Militär (Gotthardfestung), Energie (die Überflutungspläne von Ursern) und Tourismus (Skigebiete Nätschen, Gemsstock und Winterberg). Und die Bildstrecke des Basler Fotografen Serge Hasenböhler könnte auch von x-einem anderen Hochtal stammen.

«Im ersten Winter in Arosa macht Otto seine ersten Versuche als Skifahrer. Die Skier kommen aus Norwegen und sollen zehn Kronen gekostet haben. Der Berliner Freund, der sie organisiert hat, schreibt dazu: „Die Dinger sind höllisch lang und schmal, einfach aber gut verarbeitet und für die Grösse ausserordentlich leicht.“ Als sie schliesslich vor der Pension Brunold stehen, lösen sie bei den Einheimischen Kopfschütteln aus, wie Else Schütz-Herwig, eine der Töchter von Otto Herwig, in ihren Erinnerungen schreibt. Die Aroser fragen sich, was der Doktor mit den „kuriosen Latten“ wohl anfangen will. Otto erklärt ihnen, es seien norwegische Schneeschuhe, mit denen man über Schnee fahren könne. Wie, das wusste er allerdings selbst nicht.»

Aber der deutsche Arzt Otto Herwig (1852–1926) lernte schon im Winter 1883/84 Ski laufen und übte diesen Sport bis ins Alter aus. Er war nicht der erste Skifahrer in Arosa, aber er verwandelte das Bauerndorf zuoberst im Tal des Schanfigg in einen boomenden Kurort. Sein Sanatorium Berghilf, wo sich Lungenkranke Heilung erhofften, machte den Anfang. Nachzulesen und mitzuerleben im Buch „Herwigs in Arosa. Die Erfindung eines Kurortes“ von Thomas Gull. Er beschreibt ganz nah, wie die Familie Herwig über drei Generationen hinweg Arosa prägen, wie sie unermüdlich arbeiten, von der Sonnenlage profitieren und von behördlichen Schatten weniger. Viele schwarz-weisse Fotos bereichern diese ganz besondere Talgeschichte. Gut gefällt mir die doppelseitige Nr. 44: „Am Schlepplift bergwärts: Arosa eröffnet 1938 die ersten drei Skilifte, einer davon ist der Carmenna.“

Ina Boesch: Schauplatz Avers. Geschichten einer Landschaft. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 36.-

Martin Schaffner: Talgeschichte Ursern im 19. und 20. Jahrhundert. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 34.-

Thomas Gull: Herwigs in Arosa. Die Erfindung eines Kurorts. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 36.-

3000er im Wallis und Tirol

Hoch hinaus, zwischen 3000 und 3999 m. Drei neue Führer helfen mit Vorschlägen.

«16. Juli 1964. Oberrothorn (3415 m). Aufstieg von Sunnegga – Stellisee – Furggi. Mühsam, aber prachtvolle Aussicht! mit Vati»

Mein erster Dreitausender! Mit knapp zehn Jahren. Zwei Tage später mein zweiter, das Mettelhorn (3406 m), von Zermatt (1605 m) aus, in 4.40 Std. „Statt in der Lücke zu warten, gehe ich allein über den Gletscher“, lese ich in meinem ersten Tourenbuch, das mein Vater für mich führte. Am 25. Juli 1964 stand ich zum zweiten Mal auf dem Oberrothorn, zusammen mit Mutter, Grossvater und Bruder; der Vater ging mit seiner Mutter aufs Unterrothorn (3103 m), das damals noch nicht mit Seilbahnen erschlossen war.

Alpengipfel über 3000 Meter: natürlich nicht ganz so magisch wie solche über 4000 Meter. Aber trotzdem: schon hoch, in vielen Regionen der Alpen gar die höchsten. Und das macht sie besonders: oft erwanderbar. Aufs Oberrothorn führt ein Weg, aufs Obergabelhorn (4063 m) hingegen schwierige Fels- und Eisrouten, nur für erprobte Alpinisten zu empfehlen. Auf viele Dreitausender gelangt man gäbig in Wanderschuhen, und wenn sich ein Firnfeld in den Weg stellt wie am Mettelhorn, dann wandert man (über)mutig darüber hinweg… Eine neue Routenbeschreibung liest sich so: „Vom Pass gehen Sie nach Osten und überqueren einen kleinen Gletscher (die Bedingungen können variieren – im Jahr 2018 war der Gletscher zum Beispiel komplett geschlossen –, deshalb sollten Sie sich vor der Überquerung über die Bedingungen erkundigen). Schliesslich machen Sie den letzten steilen Aufstieg zum Gipfel des Mettelhorns.“

Die Beschreibung stammt aus diesem Führer: „100 Gipfelziele über 3000 M. Wandern im Kanton Wallis. Ein originelles Projekt von Xavier Fernandes“. Der Autor stellt mit Text, Fotos, Kartenausschnitten und Symbolen 100 Touren im ganzen Rhonekanton vor, von der Haute Cime hinter dem Schloss Chillon bis hinauf zum Chli Furkahorn, von drei Wanderungen mit Schwierigkeit T2 bis zu 24 anspruchsvollen Alpinwanderzielen wie Grand Muveran, Löffelhorn und Strahlhorn (3026 m); das berühmtere Strahlhorn gehört zu den 48 offiziellen Viertausendern der Schweiz. Eine spannende, verlockende Auswahl von erwanderbaren VS-3000er, mit einigen ganz unbekannten Zielen. Leider fehlen Zeitangaben, Richtungspfeile auf den Karten, Angaben zum öV und zu Unterkünften, und die Angaben zu den Höhenmetern wackeln da und dort auch. Und es sind auch mehr als 100 Dreitausender, die man besteigt: So überschreitet man bei der vorgestellten Route aufs Oberrothorn gleich zweimal das Unterrothorn, ohne dass es zählt! Am 13. Juli 1970 bestieg ich alleine beide Rothörner von Zermatt aus; ich erinnere mich noch, wie ich vom höheren in kurzer Zeit über die Geröllhänge ins Furggi (2983 m) hinunter sprang und rutschte.

Jetzt in eine Region, in der sich nur 3000er erheben, aber was für welche: Großvenediger,  Hochgall, Östliche Simonyspitze, Tulpspitze, Kleiner Hexenkopf, Hoher Zaun, Ahrner Kopf und natürlich Grossglockner (3798 m), Top of Austria. Auf den beiden zuletzt genannten Gipfeln war ich mal. Wie man diese hierzulande meist unbekannten Berge besteigt, steht mit allem Drum und Dran und Drauf im Führer „3000er in Osttirol. 66x hoch hinaus“ von Thomas Mariacher. Doch aufgepasst: Viele dieser Dreitausender sind Hochtouren, für die Seil und Pickel und alpinistische Kenntnisse gebraucht werden. Auf den Ochsebug (3007 m) jedoch führt ein markierter Schuttsteig, der sich geschickt über versteckte Felskare zum höchsten Punkt windet; die 1570 Höhenmeter fordern schon stabile Puste und Knie. Kürzer ist die Besteigung des Böses Weibl (3119 m) – was für ein origineller Name, da können die Walliser 3000er nicht mithalten, trotz Wildstrubel, Mont Gelé oder Bella Tola.

Bevor wir loswandern zum Wildhorn und zum Wildenkogel noch rasch der Tipp für einen ganz aussergewöhnlichen Dreitausender, den Mont Emilius (3559 m) im Valle d’Aosta. Er erhebt sich ziemlich genau 3000 Meter und schier senkrecht über der Autobahnausfahrt Aosta Est. Doch von der Rückseite ist der Monte Emilius locker zugänglich. Vor 1839 war die Pyramide unter den Namen Pic de dix heures, Pic Chamosser oder Pic Chamoisier bekannt. 1839 bestieg der Domherr Georges Carrel den Gipfel mit Emilie Argentier, der vierzehnjährigen Schwester des Arztes und Alpinisten Auguste Argentier von Cogne. Zu Ehren der jungen Frau erhielt der Berg den Namen Emilius. Alles Weitere im Führer „Sommets autour du Mont-Blanc. De la randonnée sportive à l‘alpinisme“ von Bruno Duquesnoy. Darin sind auch ein paar 3000er im Wallis zu finden, zum Beispiel die Haute Cime der Dents du Midi. Bonnes balades!

Xavier Fernandes: 100 Gipfelziele über 3000 M. Wandern im Kanton Wallis. Eigenverlag, 2023. Erhältlich in F, E und D. Fr. 60.- www.100sommets3000.ch

Thomas Mariacher: 3000er in Osttirol. 66x hoch hinaus. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2023. € 25,00.

Bruno Duquesnoy: Sommets autour du Mont-Blanc. De la randonnée sportive à l’alpinisme. Éditions du Chemin des Crêtes, Marseille 2023. € 24,00.

Therese Baumgartner (1920–1938)

Die Tochter und der Sohn eines Landarztes und Alpinisten unternehmen im August 1938 eine wilde Tour in den Berner Alpen. Die Schwester stirbt im Steinschlag. Die Tragödie hinterlässt Spuren in der Familie und in Büchern.

«Ueber das Bergunglück am kleinen Finsteraarhorn vom vergangenen Samstag, bei welchem die Tochter des Arztes Frl. Therese Baumgartner in Lützelflüh ihren Tod fand, wird geschrieben, daß der Absturz an einer ganz ungefährlichen Stelle stattfand. Die Verunglückte, die an Nase und Ohren blutete, soll noch zwei Stunden gelebt haben. Der sie begleitende Bruder blieb bis zum Verscheiden stets an ihrer Seite. Dann seilte er die Leiche an; sie soll um mehr als einen Meter unter Neuschnee liegen; an eine Bergung der Toten ist vorläufig nicht zu denken. Bis zum Grimselhospiz, allwo dann der Bruder das Unglück telephonisch seinen Eltern melden konnte, waren aber immerhin noch acht Bergstunden.»

Meldete das „Bieler Tagblatt“ am 18. August 1938 auf seiner dritten Seite unter „Bergunglück am Finsteraarhorn“. Am gleichen Donnerstag – das Unglück passierte also am Samstag, 13. August, – war im „Oberländer Tagblatt“ zu lesen: „Ueber ein weiteres Bergunglück wird uns von Planalp berichtet. Zwei Geschwister, die 16jährige Therese Baumgartner, Tochter des Arztes Baumgartner in Lützelflüh, und ihr Bruder unternahmen am Samstag zum Abschluß ihrer Ferien eine Tour auf das Kleine Finsteraarhorn. Beim Abstieg gegen den Studerfirn stürzte Frl. Baumgartner zu Tode. Ihre Leiche konnte geborgen werden und ist bereits nach Lützelflüh übergeführt.“

In der SAC-Zeitschrift „Die Alpen“ von 1939 listete Rudolf Wyss in „Die alpinen Unglücksfälle der Jahre 1935–1938“ unter der Nummer 52 auf: „Finsteraarhorn, Südostgrat; Therese Baumgartner, 18j., Lützelflüh; Absturz aus Übermüdung nach Biwak“. Die gleiche Zeitschrift publizierte im April-Heft 2023 diese von mir verfasste Meldung: „Der ‚Historische Moment‘ in der Ausgabe der Zeitschrift ‚Die Alpen‘ vom November 2022 berichtete über Therese Baumgartner als mögliche Erstdurchsteigerin der Südostwand des Finsteraarhorns. Nun stellte sich heraus, dass die 18-Jährige aus Lützelflüh beim Abstieg durch diese Wand am 13. August 1938 tödlich verunglückt ist. Ihr Begleiter war Bruder Albert (1918–2012); er überlebte den Erstabstieg.“

Im erwähnten „historischen Moment“ berichtete ich unter dem Titel „Therese oder Patrick?“ von einem alpinistischen Rätsel zur Südostwand des Finsteraarhorns, die laut dem SAC-Alpinführer „Jungfrau Region“ am 27. Mai 1982 von Patrick Gabarrou und Wilfried Colonna erstmals durchstiegen wurde. Doch in meinem vor langer Zeit antiquarisch erstandenem Exemplar von Charles Gos‘ Bergsteigerroman „Die Nacht am Fels“ aus dem Jahre 1937 (Originalausgabe „La nuit des Drus“, 1929) ist auf dem rechten Vorsatz querformatig ein schwarzweisses Foto eingeklebt. Darauf ist eine gepünktelte Linie durch die Südostwand eingezeichnet, fast identisch mit dem Routenverlauf von 1982 und mit einem Kreuzchen für das Biwak in dreifünftel Wandhöhe – bei besserem Hinschauen hätte ich gemerkt, dass es kein Kreuzchen, sondern ein Totenkreuz ist! Auf dem linken Vorsatz befindet sich das Ex Libris „Therese Baumgartner“, auf Seite 1 ist sie auf einem Porträtfoto zu sehen, lachend in Bergsteigerkleidung aus den 1940er Jahren. Da stellte sich für mich und die LeserInnen der „Alpen“ im November 2022 die Frage: Hat Therese Baumgartner erstmals die knapp 700 Meter hohe Wand durchstiegen, wann und mit wem?

Die Frage hat sich geklärt. Vor allem dank der Ärztin Annemarie Baumgartner, Tochter von Albert und Nichte von Therese. Zusammen versuchten wir herauszufinden, wie genau das Unglück passiert ist. Ich konnte auch Fotoalben anschauen, zum Beispiel dieses: „Sammlung meiner schönsten Fotos, 1937 – . Therese Baumgartner, Lützelflüh“. Darin ist sechsmal das Finsteraarhorn eingeklebt, einmal vom Oberaarjoch aus mit der SAC-Hütte und der Südostwand. Annemarie Baumgartner schenkte mir das Buch „Noch sieben Tage“, das ihr Vater kurz vor der Pensionierung als Hausarzt in Lützelflüh schrieb und das er unter seinem Couleurnamen „Firn“ 1991 als Jahrring im Berner Haupt Verlag veröffentlichte. Im ersten Kapitel erinnert er sich unter dem Stichwort „Schicksal“ an die Tragödie von 1938. Ausschnitt:

«Das Biwak auf dem Finsteraarhorn ist traumhaft schön (wie oft waren wir schon hier oben?). Dann kommt Nebel auf und klebt am Morgen, zeitweilig von grellen Sonnenstrahlen aufgerissen, in den Felsen.
Zum Ostgrat – wie haben ja Zeit. Dann verspüren wir Hunger und setzen uns in eine sonnendurchwärmte Granitnische – dann ein teuflisches Knirschen und Krachen – und nachher das Nichts…
Wie lange hing ich am Seil, eingeklemmt in der Wand? Warum traf mich im Pfeifen und Poltern der Steinlawinen nur ein einziger Brocken? Wer jagte mich über den mächtigen Bergschrund, durch das Spaltenlabyrinth des Gletschers in die von der Abendsonne grell beleuchtete Hütte, in diese Welt zurück. Warum gerade mich – und nur mich?»

Der Steinschlag hat Theres und Albert nicht oben auf dem Grat überrascht, sondern unterhalb davon, eben in der Südostwand. Warum sie dort abgestiegen sind, weiss man nicht. Die gepünktelte Linie durch diese Wand, das Totenkreuz und die Bildlegende „Finsteraarhorn von Südosten“ stammen laut Annemarie Baumgartner von ihrem Grossvater Walter Baumgartner (1887–1978), ebenfalls Landarzt in Lützelflüh und sehr versierter Alpinist mit einigen Ersttouren, Mitglied des Akademischen Alpen-Clubs Bern. Klar wäre es einfacher gewesen, vom Gipfel des Finsteraarhorns über den Normalweg zur Finsteraarhornhütte abzusteigen; bei der Hütte, die Albert erwähnt, muss es sich um die Oberaarjochhütte handeln. Das Biwak auf dem höchsten Gipfel der Berner Alpen war der krönende Abschluss einer mehrtägigen Tour, die sich Therese zum 18. Geburtstag gewünscht hatte. „Kaum eine Wand zu steil, ein Grat zu scharf, eine Bergfahrt zu lang“, lese ich im Buch von Albert Baumgartner: „War es Übermut, Freude am Wagnis, war es Opposition?“

Leider hat Albert kein Tourenbuch gehalten, deshalb gibt es nur einen ungefähren Verlauf: Am Donnerstag, 11. August 1938, Besteigung des Schreckhorns wohl von der Schwarzegghütte aus, Abstieg zur Strahlegghütte. Anderntags ins Finsteraarjoch und sehr steil hinauf ins Agassizjoch – „Stein- und Eisschlag ersticken im weichen Schnee des steilen Couloirs, langsam gleiten kleine Schneerutsche in die Tiefe“. Vom Agassizjoch Aufstieg über den Nordwestgrat aufs Finsteraarhorn; Biwak. Am Samstag dann das Unglück. Wie die Leiche von Therese hoch oben in der Südostwand geholt wurde, weiss ich nicht. Die Recherchen bei Bergführerverein und Rettungsstation Oberhasli blieben im weichen Schnee stecken.

Nicht allein der Bruder hat sich in einem Buch zum Tod von Therese geäussert, sondern auch der Vater. 1980 kam Walter Baumgartners Gedichtband „Hof mit Brunnen und Kastanienbaum“ heraus. Im Klappentext heisst es, wohl zum Verständnis, warum ein Kapitel mit „Theres“ betitelt ist: „Von seinen drei Kindern erlitt Theres im Alter von 18 Jahren den Bergtod.“ Das im August 1938 entstandene Gedicht „Totenwache“ beginnt so:

Ich höre deiner Stimme Klang,
ein Jauchzen ist’s, vom Schnee zerstäubt:
So mir ein treuer Freund verbleibt,
wird nimmermehr mir bang.


Dein Haupt bett‘ ich in meinem Schoss
an harter, steiler Felsenwand
und spreche dich von Erden los
mit meiner warmen Führerhand.

„Wir haben gespielt, zu hoch gespielt – und verloren!“ Dieses Fazit zieht Albert Baumgartner in seinem Rückblick. „Mir ist ja praktisch nichts passiert, mit durchgescheuerten, abgefrorenen Fingern und einem mächtigen Kopfschwartenriss wurde ich ins weitere Leben ausgespuckt, aber mit dem Makel der uneingestehbaren Schuld des Überlebenden gezeichnet. 50 Jahre später steht mein 92jähriger Vater plötzlich unter unserer Stubentür: ‚Gäll, du dänksch de dra, a Todestag – morn!“

Klettern in Bern und anderswo

Zwei klassische Kletterführer für alle mit starken Armen und/oder Träumen. Wer die besten Hallenkletternden live sehen will, tut dies bis zum 12. August 23, an der Kletter-WM in Bern.

«Katherine Choong in ‚Cabane au Canada‘ 8c+, Rawyl. Foto: Rainer Eder»

Legende zum Titelbild im neuen Kletterführer „Schweiz extrem WEST [band 1]“ von Sandro von Känel in der Edition Filidor. Die Kletterin, in gelbem, ärmellosem Shirt und roten Hosen, klettert von rechts unten in überhängendem Gelände hoch und macht grad einen gleichzeitig sehr elegant und schwierig aussehenden Kreuzgriff – ein dynamisches Foto auf einem Buch mit einer steilen Vergangenheit. 1986 erschien der erste Kletterführer von Jürg von Känel, dem Vater von Sandro: „Die schönsten Sportkletterein im Berner Oberland; auf dem Cover Jürg selbst, in weissem, ärmellosem Shirt und roten Hosen, an senkrechter Wand. Die erste Ausgabe von „Schweiz-Extrem“ folgte drei Jahre später. Heute gibt es Filidors „extrem“ für Jura, Ost, Süd und West, wobei West neu in zwei Bände aufgeteilt ist. Der nun vorliegende Band 1 stellt die attraktivsten Klettergärten vor, Band 2 wird die schönsten Mehrseillängenrouten enthalten. Erstmals dabei ist das Gebiet Dossen bei Zermatt, „der neue Oberwalliser Klettersport schlechthin!“. Wenn man so stark klettert wie Katherine Choong. Sonst sei eine andere Neuheit oben im Mattertal empfohlen: Die Seilbahn vom Kleinen Matterhorn nach Testa Grigia, die eine schneelose Überquerung von Zermatt nach Breuil-Cervinia und so ins Valle d’Aosta ermöglicht.

Und dann fahren wir ganz hinauf durch dieses Tal mit den höchsten Gipfeln der Alpen, erreichen den Fuss des Mont Blanc und zücken den fünften, revidierten und ergänzten Band „Val Veny“ der renommierten Reihe „Mont-Blanc GRANITE. Les plus belles voies d’escalade“ von François Damilano und Gefährten. Auf dem Rückseitenbild Robin Revest im Pilier Central du Frêney, diesem neben dem Walker wohl berühmtesten Pfeiler im Mont-Blanc-Massiv, wo sich im Juli 1961 die Erstbegehungstragödie mit vier Toten und drei Überlebenden abspielte (wie am Matterhorn 1865). Auf dem Cover des handlichen Führers klettert Enrico Bonino in „Les anneaux magiques“ am Pilier Rouge du Brouillard; diese Route eröffneten Daniel Anker und Michel Piola am 19. Juli 1989. Aber natürlich nicht der Schreiber dieser Zeilen, sondern der Bergführer gleichen Namens (vgl. https://bergliteratur.ch/eiger-eiger-eiger-2/). 116 unvergessliche Felsklettereien verspricht der Führer, darunter auch ein paar wenige in Talnähe für die Plaisir-Kletternden.

Und wenn wir ganz einfach nur beim Klettern zuschauen möchten, dann ab nach Bern, vor Ort oder am Bildschirm. Vom 1. bis 12. August 2023 finden dort die Weltmeisterschaften im Klettern statt. Zum dritten Mal nach 1995 (Genf) und 2001 (Winterthur) ist die Schweiz Gastgeberin der globalen Titelkämpfe. Lead, Boulder, Speed und Kombination – in vier Kategorien kämpfen die weltbesten Kletterinnen und Kletterer in der PostFinance Arena und  in der Curlinghalle um Gold, Silber und Bronze. Die Halbfinals in allen Kategorien werden im Livestream auf srf.ch/sport sowie in der SRF Sport App übertragen. Sämtliche Medaillenentscheidungen kann das Publikum live im Fernsehen auf SRF zwei oder SRF info verfolgen. Nicht mehr in der Nationalmannschaft ist Katherine Choong, Jugend-Weltmeisterin im Jahr 2009. Ende 2021 entschied sie sich, das Schweizer Team zu verlassen, um sich auf das Klettern draussen am Fels zu fokussieren. Sie ist die erste Schweizerin, die eine Route im Schwierigkeitsgrad 9a geklettert hat, den „Jungfraumarathon“ in Gimmelwald.

Sandro von Känel: Schweiz extrem WEST [band 1]. Edition Filidor, Reichenbach 2023. Fr. 44.-

Enrico Bonino, François Damilano, Julien Désécures, Louis Laurent: Mont-Blanc GRANITE. Les plus belles voies d’escalade. Tome 5: Val Veny. JMEditions, Chamonix 2023. € 28,50. Disponible en version anglaise et italienne.

Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators

Bergliteratur vom Feinsten: die Dolomiten in Worten und Bildern. Nur schöner wäre es, dorthin zu reisen und zu klettern.

«Die so schönen Dolomiten… Ja! Und wir werden uns wieder von einem Turm zum anderen zurufen wie damals, als wir uns vom Winkler[turm] zur [Punta] Emma im Gesang herausforderten, indem wir die schönsten Lieder unserer Alpen zum Besten gaben und die Paula jenes stolze Lied der Bergsteiger des Kaisergebirges ‚Stolze Zinnen zu gewinnen‘ anstimmte und ich mit ‚Montagnes de ma vallée‘ antwortete. Die Leute, die zum Gartl aufstiegen, hielten an, um unserem Gesang zu lauschen (und um Luft zu nehmen) und schauten hinauf, um herauszufinden, woher die Stimmen kamen.»

Die beiden Sängerinnen sind zwei ganz grosse Kletterinnen der Alpinismusgeschichte, beide Pionierinnen des sechsten Grades mit je mehreren Erstbegehungen. Mary Varale (1895–1963), geboren als Maria Giovanna Gennaro in Marseille, aufgewachsen in Milano, verheiratet mit dem Sportjournalisten Vittorio Varale; 1933 die erste Begehung der berühmten Gelben Kante an der Kleinen Zinne gemeinsam mit Emilio Comici und Renato Zanutti. Paula Wiesinger (1907–2001) aus Bozen, verheiratet mit Hans Steger; 1929 zwei Neutouren an der Punta Emma zusammen mit Hans; 1932 in Cortina d’Ampezzo Weltmeisterin in der Abfahrt. Das Gesangsduett fand in der Rosengartengruppe mit den Vajolet-Türmen statt, im Gartl liegt die gleichnamige Hütte, auch Rifugio Re Alberto genannt. Und mit diesem König Albert I., dem belgischen König, kletterten Paula und Hans in der Zwischenkriegszeit schwierigste Routen.

Doch zurück zu den singenden Kletterinnen. Das Zitat von Mary Varale fand ich auf Seite 171 in einem 445seitigen Buch, das ich allen unbedingt empfehlen kann, die sich erstens für die Dolomiten interessieren und zweitens für Leute, die über Berge geschrieben haben, in welcher Form auch immer. Das Buch heisst „Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators. Was Reisende über die Dolomiten schrieben“.Verfasst hat es Ingrid Runggaldier, Übersetzerin im Amt für Sprachangelegenheiten der Autonomen Provinz Bozen und freie Publizistin; ein Meilenstein ist ihr „Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte“ (2011). Der Titel ihres neuen Buches bezieht sich auf einen Satz aus John Murrays Reiseführer „A Handbook for Travellers in Southern Germany“ von 1837, darin die Dolomiten als „teethed like the jaw of an alligator“ bezeichnet sind.

Ingrid Runggaldier vereint in ihrem Buch Auszüge aus Werken der Weltliteratur genauso wie Reiseberichte, Briefe und Tagebücher, und zwar aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; zeitgenössische Literatur, zum Beispiel die vielen Dolomiten-Krimis, sind nicht berücksichtigt. Etliche Textauszüge aus dem Englischen, Französischen oder Italienischen wurden erstmals ins Deutsche übersetzt, wie eben die Erinnerung von Mary Varale. Doch wir lesen nicht nur die Texten des Geologen und Namensgebers Dolomieu, der Pioniere Josiah Gilbert und George C. Churchill, des Reisebuchautors Karl Baedeker, des Zionisten Theodor Herzl, des italienischen Dichters Giosuè Carducci, des Kriegsreporters Robert Musil, der Krimiautorin Agatha Christie oder der Begründerin des modernen Frauenbergsteigens Jeanne Immink. Sondern auch die Biografien der Schreibenden, angeseilt in der damaligen Zeit. Das Literaturverzeichnis umfasst 18 Seiten, das Register sieben.

Einen Namen sucht man vergebens: Vicki Baum. Die österreichische Schriftstellerin wurde und ist bekannt durch ihren Roman „Menschen im Hotel“ (1929). Vergessen ist leider ihre grossartige alpin-touristische Novelle „Das Joch“, veröffentlicht im Band „Die andern Tage“, 1931 wieder aufgelegt als achter und letzter Band von „Romane des Herzens“. Die Novelle mit dem gewollt doppeldeutigen Titel beginnt so: „Als Florentin auf der Paßhöhe den Zug verließ, griff Bergluft stark in sein Gesicht. Gleich sah er nach dem Zwölferkopf, sein Auge war schon bereit, die vertraute Kontur in sich aufzunehmen. Die Häupter standen da wie Freunde, im goldenen Nachmittagsnebel hintereinander geschichtet. Auf alten Tarockkarten sehen Berge so aus, so naiv an Perspektive, so klein und blau ins Ferne wandernd. Das Joch zwischen Zwölferkopf und der Roten Nadel war von einer tiefen, einzeln schwebenden Wolke verdeckt, auch die Rote Nadel streckte ihr spitzes Dolomitengezacke nur da und dort zwischen Dunst und Glast hervor.“

Die Alligatorzähne als Dolomitengezacke. Mehr davon gibt es im Juliheft von Meridiani Montagne: „Cristallo e Valle del Boite“. In diesem Tal liegt Cortina d’Ampezzo. Amelia Ann Blanford Edwards hat es ausführlich bereist und beschrieben; sie hat einen Ehrenplatz im Buch von Ingrid Runggaldier. Das Juliheft wird zusammen mit dem Fotoband „Grido di Pietra. Campanili, torri e monoliti dal Brenta alle Giulie“ verkauft. Auf dem Titelbild die stolzen Torri del Vajolet, mit dem Winklerturm rechts.

Ingrid Runggaldier: Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators. Was Reisende über die Dolomiten schrieben. Edition Raetia, Bozen 2023. € 35,00. www.ingridrunggaldier.it

Meridiani Montagne: Cristallo e Valle del Boite. N° 123, Luglio 2023. Mit topografischer Karte und dem Fotoband Grido di Pietra. € 13,90. Erhältlich an Kiosken in Italien.

Gigantisch – Wo Meer und Berge sich berühren

L’année prochaine, j’irai à la mer: Das sagt man in Frankreich, wenn der Urlaub im Gebirge wieder mal ins Wasser fiel. Mit einem neuen Bildband findet man Ziele am Meer, ohne auf die Berge verzichten zu müssen.

Globi räkelt sich am Strand.
„Keine Felsen mehr! Nur Sand!
Ich hab’s geschafft!
Es ist vorbei mit der Alpenkraxelei!“

Die erste von fünf Strophen auf der Doppelseite „Der Wellenbergsteiger“ im Band „Globis Alpenreise“ von 2006. Gefunden in meiner dicken Materialsammlung mit Zitaten, Buchhinweisen, Illustrationen etc. zum Thema „Berg & Meer“. Zwei weitere Kostproben mit Vergleichen, einmal vom Land aus, das andere Mal vom Wasser, immer mit Türmen aus gefrorenem Wasser, wie im Ischmeer ob Grindelwald und Mer de Glace ob Chamonix.

«Das Eismeer. – Warum Meer? Das alles hat mit einem Meer nicht gemein. Das Meer ist schön, immer, auch im Sturm. Im Wellenschlag liegt Harmonie. […] Das aber gleicht einem ungeheuren Hexenkessel. Das ist ein sinnloses Durcheinander, ein ungeheurer Trümmerhaufen, überwältigend durch seine Größe und unbegreifliche Wildheit. Wahllos liegen die riesenhaften Eismassen übereinander, Stücke, größer als Kirchen.»
Karl Friedrich Kurz und Othmar Gurtner: Zwischen Aare und Rhone. Pochon-Jent & Bühler, Bern 1920.

«Eine Nacht in strömendem Regen, nachdem wir in der Nähe des Archipels Fernando de Noronha den Äquator passiert haben. Ganz alleine geniessen wir am Bug das Spektakel der riesigen Wellen. Das Schiff versinkt bis zum Anker darin, sogar der Name ‚Océania’ wird überflutet! Was für Farben! Wir denken an Gletscher, an Séracs.»
Tagebuch der Anden – Dorly und Frédéric Marmillod 1938-1959, AS Verlag, Zürich 2016.

Der Bildband „Gigantisch – Wo Meer und Berge sich berühren“ zeigt mit kurzen Texten und prallen Farbfotos solche Orte, 55 in Europa und 65 auf der restlichen Welt. Vom schwarzen Strand Reynisfjara auf Island bis zur weissen Antarktischen Halbinsel, von den oft grünen Färöer-Inseln bis zum gelb leuchtenden Pan de Azúcar im gleichnamigen Nationalpark in Chile, von den bläulich schimmernden Felsenbögen der Playa de las Catedrales in Galicien bis zu den roten Kliffs der Insel Hormus in Iran. Wer durch den Bildband reist, wird viele schöne, lohnende Reiseziele finden; sie müssen ja nicht grad am andern Ende der Welt liegen. Zu den Cinque Terre oder den Calanques kommt man locker mit der Bahn hin, und auch die Seven Sisters, diese wellenförmigen Kreidefelsen an Englands Südküste, liegen nicht ausser Reichweite.

Natürlich ist eine Auswahl immer eine solche. Aber es wurden doch einige malerische und touristisch interessante Orte ausgewählt, wo sich die Berge kaum zeigen, wie beim Parque nacional Marino Ballena in Costa Rica. Andererseits vermisse ich die Cliffs of Moher in Irland, das Cape Canaille in Frankreich oder Marettimo in den Ägadischen Inseln westlich von Sizilien, ein knapp 700 Meter hohes Gebirge im Mittelmeer mit einer Verflachung an seiner Ostküste, wo es grad Platz für ein paar weiss gestrichene Häuserkuben hat. Mehr Meer am Berg geht kaum, wenn man in der Abendsonne über den schmalen Felspfad zum kleinen Gipfelkreuz der Punta Basana (184 m), der Südostspitze der Insel, balanciert. Im südlichen Atlantischen Ozean erheben sich zwei ganz besondere und ganz abgelegene Inseln: Tristan da Cunha mit dem 2060 Meter hohen Queen Mary’s Peak und vor allem Bouvet Island mit dem 780 Meter hohen Olaftoppen hätten sich die Bezeichnung „gigantisch“ allemal verdient. Und noch eine kritische Anmerkung: Bei den eingefügten Reisetipps gibt es auch solche zum Tauchen, aber keine zum Klettern. Dabei ist Deep Water Soloing die Sportart, die Meer und Berge vielleicht am idealsten verbindet – Free Solo über tiefem Wasser, das bei einem Sturz die Kletternden auffängt.

Wenn wir schon beim Küstenklettern sind. Im Transa-Buchshop in Bern entdeckte ich den Bildband „The Great Seacliffs of Scotland“ – gigantisch, dieses Titelbild, die perfekte Inszenierung von „Berg & Meer“.

Ein aktueller Hinweis zum Thema: Der höchste Schweizer, Nationalratspräsident Martin Candinas, wurde Anfang Juli 2023 zum Ehren-Leuchtturmwärter 2023/2024 des Leuchtturms Rheinquelle auf dem Oberalppass gewählt. Am Sonntag, 23. Juli, findet die Einsetzung stand. Nach einer gemeinsamen Wanderung vom Oberalppass zur Rheinquelle (Tomasee) beginnt der Festakt um 15 Uhr beim Leuchtturm Rheinquelle mit einer Laudatio und der Übergabe der Insignien an Martin Candinas. Weitere Infos und Anmeldung bei hanno.wyss@gmail.com.

Mit einem Schweizer Gedicht startete diese Buchvorstellung. Mit einem zweiten soll sie enden. Es stammt von Beat Brechbühl aus dem Zyklus „Schweizer Postkarten“ im Gedichtband „Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens“ (Diogenes Verlag, Zürich 1970); Titel „Binnenland“:

Die Träume vom Meer
blasen sich hier auf.
Die Berge werden allmählich kleiner;
bis 50 cm pro Jahr.

Bald sehen wir über sie hinweg
aufs Meer.

Gigantisch – Wo Meer und Berg sich berühren. Kunth Verlag, München 2023. € 45,00.
The Great Sea Cliffs of Scotland. Compiled by Guy Robertson. Scottish Mountaineering Press 2020. £ 30.00.


					

Bauen im Gebirge

Zwei Bildbände, darin höchst unterschiedliche Bauten die Hauptrollen in den Granitlandschaften des Bergells und der Grimsel einnehmen.

«Erneuerung hat auch mit zeitgenössischer Architektur zu tun. Ich meine, dass man viel mehr differenzieren sollte. Es gibt Sachen, die man unbedingt erhalten muss, aber es gibt in historischen Dörfern Situationen, die man verändern können sollte. Wichtig ist, dass das, was an die Stelle des Alten tritt, mindestens ebenso gut, womöglich besser ist. Und dafür besteht keine Garantie. In der Regel wird es schlechter. Das Problem ist, dass das Bauen zur Investition geworden ist. Früher war es eine Notwendigkeit. Sobald Geld ins Spiel kommt, rutscht dir das aus der Hand.» 

Sagt der 1954 geborene Bergeller Architekt Armando Ruinelli im Gespräch „Zwischen Erhalten und Gestalten“ mit Gion A. Caminada, Architekt aus Vrin und Professor an der ETH Zürich. Das von Ludmila Seifert moderierte Gespräch über Dorferneuerung, Ortsbildschutz und die Architekten als politische Akteure findet sich in der grossen Monografie „Armando Ruinelli Architetti Architekten“. Wie Caminada ist auch Ruinelli mit seinem Dorf verbunden, mit Soglio, dem berühmten Dorf auf der Sonnenterrasse im Bergell mit Blick auf die unverwechselbaren Granitgipfel gegenüber. Und so gleichzeitig eigenständig und verbunden mit dem Dorf sind die Bauten von Ruinelli. Er wurde eine internationale Autorität im Weiterbauen am Vorhandenen, gerade in den Bergen. Er lehrt, hält Vorträge, sitzt in Jurys und Gestaltungskommissionen. Und er baut. Nicht viel, aber fein. 

Das zeigt das von Axel Simon herausgegebene Buch, das mit 137 farbigen und 214 s/w-Abbildungen, feinen Plänen, klaren Texten und einem Werkverzeichnis zu Bauten und Projekten von 1982 bis 2022 aufwartet. Ein auch haptisch überzeugendes Werk, das sofort einen Wunsch aufkommen lässt: auf ins Bergell und nach Soglio, um Ruinellis Bauten vor Ort zu bewundern. Es gibt von ihm allerdings auch ein Anwesen in Dobbin im flachen Mecklenburg-Vorpommern, und am Fuss der Weissen Berge auf Kreta wird eines entstehen. 

Doch zurück in die Schweiz, zurück zum Granit, nun zu demjenigen der Grimsel. Der Fotoband von Jürg Stauffer widmet sich dieser Region mit dem so überraschenden wie überwältigenden Mix aus Natur- und Industrielandschaft. „Grimsel – Kontraste“ nennt der Fotograf denn auch seinen Bildband, und ein Kapitel ist perfekt passend mit „Granit Beton“ überschrieben. Letzterer wird zur Zeit heftig verbaut, die neue Spitallamm-Staumauer beim Grimsel Hospiz soll im Herbst 2025 fertig sein. Andere Kapitel leuchten die energetische Welt unter dem Boden aus, befassen sie mit Fels, Wasser und Erde, folgen Wegen, Strassen und Leitungen, immer beeindruckend fotografiert sowie ergänzt mit aktuellen und historischen Texten von Fachleuten. Grund genug, wieder mal zur Grimsel zu reisen. Das machten wir letzte Woche und schwebten mit der neuen Oberaarbahn vom Hospiz über den Grimselsee zum Oberaarsee, von wo wir über die Staumauer Richtung Aarequelle gingen. Nur wandern ist schöner als schöne Bildbände studieren. 

Armando Ruinelli, Architetti Architekten, Progetti Bauten 1982–2022. Leggere il tempo. Herausgegeben von Axel Simon. Park Books, Zürich 2023. Fr. 59.- 

Jürg Stauffer (Fotos): Grimsel – Kontraste. Mit einem Vorwort von Christine Häsler und Texten von Beat Fischer, Georg Humbel, Jon Mathieu und Jürg Stauffer. Herausgeber Verlag, Riedtwil 2023. Fr. 52.- 

Wandern und lesen mit de Simoni und de Roulet

Zwei rucksacktaugliche Bücher für unsere Sommerwanderungen. Wir dürfen sie auch in der Badi lesen.

«Dieses Buch ist weder ein Reiseführer noch ein Ratgeber; dieses Buch ist ein Steinbruch. Eine Sammlung aus Gedanken und Erlebnissen anderer. Eine andere Auswahl an Texten mag zu anderen Einsichten führen.»

Und wohl auch zu anderen Wegen, über Grund oder im Grind. Wie auch immer: Das Zitat stammt aus dem rucksacktauglichen Buch „wandern/schreiben. Lektüren zum zeitgemäßen Reisen“ von Christian de Simoni. Darin befasst sich der Wahlheimat-Berner mit diesen Fragen: Warum zu Fuß gehen? Wann un warum begann man zu wandern? Wie beginnen wir heute? Wohin wandern? Was mitnehmen? Was erkennen? Und, nicht ganz nebensächlich: Was lesen? Die Literaturliste enthält einige unbekannte Werke. Zum Beispiel „Extremwandern und Schreiben. Ein kulturhistorischer Streifzug von Goethe bis Hesse“ von Birger Solheim. Ehrlich gesagt: Diese beiden Dichter stellte ich mir bisher nie als Extremwanderer vor. Dann schon eher die heutigen Autoren Franz Hohler und vor allem Sylvain Tesson. Sie fehlen im viereinhalbseitigen Literaturverzeichnis, aber diese Wanderlektüretipps nur nebenbei. Man kann nicht alles lesen, in den Rucksack packen schon gar nicht.

Im Kapitel „Wohin wandern?“ lese ich: „Die Schönheit ist oft in einem Detail, der Reichtum im Innern, in der Erinnerung oder in den Gedanken, in Texten anderer, an die wir beim Wandern denken, über die wir vielleicht nachdenken oder von denen wir spazierend tagträumen. Sehenswürdigkeiten lenken hiervor eher ab. In der Nähe einer Autobahnbrücke befindet sich vielleicht ein kleiner Weiher, auf dem Seerosen blühen. Obwohl man das Geräusch der vorbeirasenden Autos und Lastwagen hört, ist die Stimmung vielleicht gerade im Kontrast zur Hässlichkeit und dem Lärm der Zivilisation idyllisch, und es werden einem die Schönheit der Natur und ihre Fragilität zugleich bewusst.“ Sehr schön gesehen und geschrieben. Ein anderer Schweizer Autor wird diesen Kontrast oft erlebt haben.

Zweimal ist der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet in den letzten Jahren durch die Schweiz gewandert: Zuerst von Genf nach Rorschach, dann von Porrentruy nach Chiasso. 26 plus 32 Halb- und Tagesetappen, die wir dank zwei Karten gut nachvollziehen können. Allerdings nicht die genaue Route – wo der Weitwanderer über die Autobahn gerannt ist, das möchten wir ja nicht nachmachen… Begleitet wurde er von Werken bekannter und vergessener AutorInnen und Persönlichkeiten wie Dürrenmatt und de Saussure, Dunant und von Flüe, Vreneli und Agota Kristof. „Durch die Schweiz“ ist ein Wanderlesebuch, mit dem wir Seite um Seite, Schritt um Schritt in die Geschichte und Gegenwart, Landschaft und Literatur der Schweiz eintauchen. Unweit der Mündung der Ilfis in die Emme kreuzen sich die beiden Wege von de Roulet: „Ich webe ein helvetisches Kreuz, um mich an der Welt festzuhalten.“ Dass ein paar Stolperer zu verzeichnen sind, kann beim Schreiten und Schreiben passieren. So ruhte sich Friedrich Schiller nie am Vierwaldstättersee aus. Goethe hingegen schon. Aber wo war der Johann Wolfgang nicht? Er folgt dem Daniel Richtung Gotthard – mais bien-sûr!

Christian de Simoni: wandern/schreiben. Lektüren zum zeitgemäßen Reisen. Mit einem Nachwort von Katharina Bendixen. edition taberna kritika, Bern 2023. Fr. 18.-

Daniel de Roulet: Durch die Schweiz. Wanderungen durch ein Land und seine Erzählungen. Limmat Verlag, Zürich 2022. Fr. 32.-