So glatt war der Glatten nicht

Wäre ich doch besser ans Kaltwasserschwimmen gegangen und im Zürichsee geschwommen. Doch das sieben Grad kalte Wasser und die Nullgradtemperaturen hatten mich davon abgehalten. Im Nachhinein ist man immer schlauer. © Annette Frommherz

Geschwommen war ich den Sommer durch oft genug im nahen Moorsee, der mir Heimat ist. Meine Skier hingegen hatten den ganzen Sommer über – stark unterbeschäftigt – im Keller an der Wand gelehnt und sich im Übermass gelangweilt. Ich hatte sie vor zwei Wochen aus dem dunklen Kellerdasein befreit und sie erstmals nach draussen durch die trübe Nebelsuppe auf das Laucherenstöckli ausgeführt. Was wollte ich sie wieder links liegen lassen!
So fuhren wir durchs enge Muotathal, wo sich die urchigen Mannen mit ihren langen Bärten und mit Selbstgebranntem wärmen und die Frauen ungefragt hinter dem Herd stehen. Wir waren nicht die einzigen, die zuhinterst im schattigen Bisisthal ihre Skier fellten. Die Minusgrade liessen uns beeilen. Steil verlief die Spur, wie sie diejenige spuren, die nach dem Schneefall als ungeduldige Erste den Berg erklimmen. Meine Augen suchten nach der Sonne, die von hoch oben winkte. Wir liefen im eisigen Schattenhang. Schon bald meldete sich meine Hüfte. Fast bereute ich die zweistündige Jogging-Tour, die ich tags zuvor unternommen hatte. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Mein Partner lief zielstrebig bergan.

Die letzten steilen und eisigen Meter zum Gipfelpunkt schenkten wir uns. Mein Liebster wollte mir den Gipfelkuss erst verweigern, weil hier auf diesem Plateau der Gipfel doch fern und deshalb das Ziel nicht erreicht. Aber es brauchte nicht viel, um ihn umzustimmen.
Ein paar Kalorien später und nach einem heissen Most sonnten wir unsere bleichen Gesichter. Den etlichen Gleichgesinnten kehrten wir bald den Rücken, um ins Tal zu fahren. Da und dort liess der Schnee die Steinsbrocken nur knapp bedecken. Ein solcher kam mir denn auch in die Quere, und noch während ich stürzte, sah ich den blauen Himmel über mir und spürte den Schmerz im verdrehten Knie und Fuss. Mein Pendant eilte herbei, nahm mir den Rucksack ab und half mir auf die Beine, so gut es ging. Aber es ging nicht gut. Wir hatten noch beinahe zwölfhundert Höhenmeter hinabzufahren, und ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Aber es war, wie es immer ist, wenn einem keine Wahl bleibt: Es ging trotzdem. Irgendwie.
Tags darauf, nach stundenlangem Betrachten der weissen Decke in der Notfallkoje Nummer 3, kam ich gut ausgerüstet nach Hause: Gel, Verband, Medikamente und Krücken. Es hätte schlimmer kommen können, zum Beispiel erfrieren im sieben Grad kalten Zürichseewasser. «Das war meine letzte Skitour!» Diese Worte, die ich nach dem Sturz in einem unbedachten Moment in die Winterkulisse entlassen hatte, darf man nicht zu ernst nehmen.

Mit drei Männern im Schnee

Ganz ohne Material gelingt es selten, auf hohe Berge zu steigen. Diese Feststellung ist uns zwar nicht neu, aber nun präsenter denn je. © Annette Frommherz

Das Hirschlein, das erlegte, lag abends zuvor gar saftig und zart auf unseren Tellern. Wir nächtigten im Berghaus Sulzfluh in Partnun, von wo aus wir anderntags bis zur Einstiegsstelle des Klettersteiges nur eineinhalb Stunden Aufstieg vor uns haben. Der 750 Meter lange Klettersteig, der 2005 eröffnet wurde, soll uns auf den Gipfel der 2‘817 Meter hohen Sulzfluh bringen. Es liegt Schnee da oben, auch in der Route haben wir einzelne weisse Flecken entdeckt. Weil garstiger Föhnwind vorausgesagt wurde, haben wir genügend warme Kleidung eingepackt. Mein Begleiter allerdings sucht vergeblich nach dem Klettergurt. Auch das Klettersteig-Set lässt sich nicht finden. Die beiden liegen als verschworene Verbündete unnütz im Auto unten und machen auf gemütlichen Sonntag. Gopfertami! Fluchen am Berg, das schickt sich nicht. Für einmal lassen wir es durch. Überhaupt: Ich kann mich nicht erinnern, mein Pendant jemals fluchen gehört zu haben. In den Bergen, das sei hier bestätigt, lernt man sich selbst nach längerem noch besser kennen.
Zu unserem Dilemma gesellen sich zwei Burschen, die wir kurz zuvor überholt haben; der eine Bursch‘ aus Österreich, der andere aus dem Rheintal. Weil ohne Klettersteig-Set selbst ein guter Kletterer nicht in die Wand einsteigen sollte, will mein Partner mich den Beiden anvertrauen. Beinahe wäre es ein Handel unter Männern geworden, hätte ich nicht mein frauliches Veto eingelegt. Der Liebste will alleine um den Berg herum auf den Gipfel stapfen und uns dort in Empfang nehmen.
«Geht es mit dem Tempo?» werde ich als Hinterste gefragt, kaum dass wir die kalten Griffe in die Finger bekommen. Der Berg muss geduldig sein. Erst wurde er mit Metall verbohrt, mit Leitern und Seilen bestückt, und seither stehen die Erwartungsvollen hier an Sommertagen im Stau, um auf den Gipfel zu gelangen. Heute aber, so kurz vor dem Winterbeginn, sind wir die Einzigen. «Alles klar bei dir?» Mir gefällt die Fürsorge, obschon ich in dieser sicher eingerichteten Route weder Höhenangst verspüre noch Zweifel an meiner Kondition hege. «Sollen wir kurz rasten?» werde ich gefragt, und verneine. Lieber möchte ich vorankommen, der Föhnwind ist ab der Hälfte der Wand zu garstig geworden, um länger zu verweilen. Kurz darauf spritzen dunkle Tropfen auf den hellen Fels. Aber die schwarze Wolke zieht über uns hinweg. ‚Panoramica‘ und ‚Deichmann-Steg‘ liegen bereits hinter, also unter uns, als die Burschen voran durch die ‚Klagemauer‘ steigen. Insgesamt 450 Meter Höhendifferenz sind zwischen Ein- und Ausstieg zu bewältigen. Den letzten Abschnitt zum Gipfel erreichen wir ungesichert. Diesmal wird auf mich gewartet, denn der sulzige Schnee und die dadurch rutschigen Stellen sind mir nicht geheuer.
Nur wenige Minuten vor uns erreicht mein Partner von der anderen Seite her den Gipfel. Es ist Ehrensache, dass meine Gipfelküsse zuerst den beiden fürsorglichen Burschen gehören, bevor ich mir denjenigen des Liebsten abhole. Mit der föhnigen Wetterlage sehen wir weit ins Montafon und hinüber nach Rätikon, und das Prättigau liegt zu unseren Füssen. Lange bleiben wir nicht beim Gipfelkreuz, der Wind pfeift böse um unsere Ohren. Gemeinsam steigen wir ab; erst vorsichtig über schneeverwehte, steinige Stellen, später halb rutschend, halb im Schnee einsinkend, talwärts.
Das Radler im Berghaus Sulzfluh nimmt mein Partner auf seine Runde. Schliesslich haben mich die Burschen wieder unversehrt abgeliefert.

Smoke on the water

Der Herbst hält Einzug, doch nicht sang- und klanglos. Sound pur am Mattstock, dem geduldigen. © Annette Frommherz

Ihre Hand legt sie flach auf die glatte Ebene, als wolle sie die Wand vor sich begrüssen. Noch ist der Felsen warm und trocken. Die Wetterprognosen kündigten Wind, sogar etwas Regen an. Sie wählen die Route unweit des markanten Bruchs. Von weitem sind nur zwei kleine Punkte – rot und schwarz – in der Wand zu erkennen. Wo nur sind all die Kletterer geblieben?

Von Amden her weht das Sonntagskonzert hinauf und prallt an den Felsen ab. ‚Smoke on the water‘ spielt die Dorfmusik zu Ehren des Tages, an dem man ruhen soll. Nebelschwaden ziehen längs über den Walensee und trennen sich fetzenweise in alle Richtungen.
Nie kommt mir der Berg entgegen, denkt sie in der zweiten Seillänge. Nie sagt er: Moment, ich reich‘ dir meine Hand. Stattdessen steht er abwartend da. Nur eine Hand breit müsste es sein, schnauft sie, hin zur nächsten Felsennase oder zum Haken. Deep purple im Ohr, die Nase in der Herbstluft. Der Mattstock meint, es verliere derjenige, der aufgibt, der nicht durchhält, den der Mut verlässt. We made a place to sweat.

Die beiden haben dem Felsen zu gehorchen. Sie sind ihm untertan. Sie haben ihn so zu nehmen, wie er ist. Tastend sucht sie nach dem nächsten Griff. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Er ist vorgestiegen und schaut über die Platte zu ihr hinunter. Das Kalkgestein ist so kantig, wie sie es in ihrer Erinnerung nirgends findet, und die Sanduhren sind ihr zu weit rechts. Verrostete Haken zeugen von alten Routen, die gebleichten Schlingen lässt sie aus. Er sichert sie nach, sie spürt an der kniffligen Stelle das satter angezogene Seil.
Sie meint, Rauch zu riechen. Der Nebel schleicht durch das Tal, windet sich die Matten hoch. Die Gedanken weiten sich, der Himmel verfinstert sich. fire in the sky. Am Ende der fünften Seillänge wartet verschmitzt der Berggipfel und raunt ihr zu: Die letzten Meter mit etwas Geduld, denn hinauf willst du doch, oder? I know, I know we’ll never forget.

Die Alp und der Prinz

Eine Alp ist eine Alp ist eine Alp. Es gibt keinen Grund, das Banale zu leugnen. Ausser man wird eines Besseren belehrt. © Annette Frommherz

Ein Prinz mehr auf dieser Welt. Noch weiss George nichts von der grossen Welt, von Tälern und Bergen. Er kennt die Obere Walalp nicht, am Fusse des Stockhorns, wo sich Kühe und Gemsen gute Nacht sagen, wenn es langsam dunkelt. Und morgens streichelt die Nacht gutmütig den Tag und lässt die Schatten wandern.
Orange leuchtende Kapuziner suchen sich ihren Weg vom Hüttenfenster hinauf zum Vordach, entlang der Regenzinne. Das Radio steht stumm auf zwei Nägeln, die aus der Hüttenwand ragen. Käsetücher flattern im Sommerwind. Als Bühnenbild im Hintergrund der Flecken Schnee, der übrig blieb vom langen Winter. Falsche Versprechungen vom Abendrot, das ferne blieb und sich erst am nächsten Abend trauen wird. Wie tote Hände hängen die grünen Plastikhandschuhe neben dem Kupferkessel, beleuchtet von der Neonröhre, die sich kalt an der Decke räkelt. Das Buch ‚Vom Ende einer Geschichte‘ wird draussen zwischen Schafgarben und Kuhfladen gelesen. Nichts lenkt ab. Nur das Klatschen, wenn die Rossbremsen plagen.
Glockenblumen baumeln, Margeriten wuchern masslos auf den Weiden. Die Trampelpfade der Kühe weisen den Weg ins Nirgendwo. Gockel und Hühner eilen zum Futtertrog der Ferkel, wo Salatblätter serviert werden. Das Gemüt legt sich in die Alpenwiesen und döst in den Nachmittag, bis die letzten Sonnenstrahlen schmeicheln. Im Kopf öffnen sich die Grenzen, Gedanken bahnen sich vorsichtig den Weg hinaus in die Freiheit. Chömed, Chueli, chööömed! Die Rufe am Berg gehen in einen Singsang über. In die Rufe stimmt das Glockengeläut ein, das sich nähert und die Herde ankündigt.
Nachdenken geht von alleine. Allem nachhängen, was erst hier oben möglich wird. Sinn und Unsinn, Vergessenes und Unmögliches, Entscheidendes und Verdrängtes. Applaus! Beifall! Die Entschleunigung wirkt im Verborgenen.

Hier auf der Alp finden sich die Genügsamen, die Arbeitswilligen und Zivilisationsmüden. Hier oben ruft man nichts unerwidert. Auf jeden Jodel folgt eine Antwort. Kuhschwänze peitschen ins Gesicht. Fladen spritzen die Hosen fleckig. Die Milch schwappt über den Kesselrand und ist gelber als aus der Packung. Auf die Arbeit folgt der Heisshunger. Am Tisch unter dem Vordach wird aus den Schüsseln geangelt, wird kauend berichtet und aus dem Tag ein wichtiger gemacht. Unterdessen behält das Schicksal alles im Auge. In der Seele wird bewahrt, was der Erinnerung entgehen könnte.
Wer wird dem Prinzen je davon erzählen?

www.walalp.ch

Der Berg ruft!

Schon lange hatte ich ihn im Visier. Immer wieder sah ich zu ihm hinüber. Wie oft hatte er mir aus der Ferne zugewinkt. Nun endlich stand ich auf ihm, dem höchsten Glarner. Der Tödi, meine Sehnsucht. © Annette Frommherz

Ich meinte es ernst. Monate zuvor deckte ich Anny laufend mit Bildern des Tödi ein, die ihr meine feste Absicht bekräftigen sollten. Ich hatte die Sportliche letzten Sommer bei einem Gletschertrekking kennengelernt, und für mich stand fest: Mit ihr wollte ich auf diesen Glarner Prachtskerl. Zweimal wöchentlich rannte ich zielstrebig auf meinen Hausberg, den Bachtel, der sich darüber wunderte, wie oft und unverhofft ich ihm die Ehre erwies. Anny konnte schliesslich nicht nein sagen. Wir buchten als Bergführer Lucas, dem man gewöhnlich eher auf Viertausender begegnet oder als Expeditionsführer in Asien und anderswo. Nun wollen wir ihm das Glarnerland näherbringen, denn unser auserkorener Gipfel ist ihm ebenso unbekannt wie uns.

Der Tödi, unser Berg, wie wir ihn inzwischen nennen, hat unverdient eine schwere Last zu tragen. Es wird vermutet, dass sich sein Name aus dem Schweizerdeutschen ableitet. Ich gange i d’Ödi, wird sich Herr Curschellas, einer der beiden Erstbesteiger, gesagt haben, als er auf den kahlen Deckel des Berges schaute. Einhundertneunundachtzig Jahre später nähern wir uns dem Tödi auf der gleichen Route wie damals die Unbeirrbaren. Von der Bündner Seite her wandern wir ab der Alp Schlans den Höhenweg hinauf zur Alp da Punteglias und bald steil bergan durch die ersten Schneefelder zur Puntegliashütte.
Der Schlaf war kurz, als wir um drei Uhr in der Früh in die schwarze Nacht hinaustreten. Unsere Stirnlampen suchen sich den Weg durch die Einsamkeit. Schweigend stapfen wir durch Schnee, wo normalerweise Schuttfelder liegen. Es liegt eine sanfte Ruhe um uns und auf dem Glatscher da Glims genug Schnee, um ohne Steigeisen darüber laufen zu können. Bevor der Anstieg steiler wird, montieren wir sie und seilen uns an. Langsam erwacht der Tag, der uns viel verspricht und ein weiches Rosa an den Horizont malt. Nach einer ersten Kletterpassage erreichen wir den Sattel. Anny wirft mir einen übermütigen Blick zu. Ich habe es auch gesehen: Die Zipfel der Berge um uns recken und strecken sich, als wollten sie noch höher werden. Über den Bifertenfirn legen wir unsere Spuren, die Sonne ist vollends erwacht. Nun ist unser Berg endlich im Blickfeld: der Piz Russein mit seinen 3‘614 Metern über Meer, der höchste der drei Tödigipfel. Mir ist, als winke er uns. Kommt her, ihr seid willkommen! Der Drang, den Gipfel zu erklimmen, lässt mich vergessen, dass wir seit über fünf Stunden unterwegs sind. Steil verläuft jetzt der letzte Anstieg. Auf dem Grat wage ich keinen seitlichen Blick. Ich bilde mir ein, meine Höhenangst sei verschollen. Unbeirrt laufe ich hinter unserem Bergführer, Meter um Meter unserem Ziel entgegen. Wie wir das Gipfelkreuz erreichen, bleiben mir die Worte weg. Unser Berg empfängt uns mit offenen Armen. Ich drehe mich um mich selber, schaue in die Unendlichkeit und fühle mich so vergänglich wie noch selten zuvor. Wem will ich beschreiben, was in mir vorgeht, wer es nicht selber schon erlebt hat! Mir schwimmen die Augen, wir liegen uns in den Armen und stammeln etwas von ‚fantastisch‘ und ‚vollendet‘. Dieses Glück, das sich in mir ausbreitet, wärmt mich von innen.
Noch liegen aber ein paar weitere Stunden vor uns, bis wir unser Tagesziel, die Fridolinshütte, erreichen werden. Beim Abstieg blicke ich zurück zu unserem Tödi, diesem lieblichen Ungetüm. Mit Erfolg verdränge ich die Schmerzen, die mir die zwei Blasen auf den Fersen bereiten. Auf dem Bifertenfirn umgehen wir die Spalten oder springen über sie, und bald sehen wir hinüber zur Gelben Wand. Lucas springt über den breiten Spalt zwischen Firn und Fels, klettert gewandt hoch und lässt uns gesichert nachkommen. Lange nachdenken lohnt sich nicht, geht mir noch durch den Kopf, bevor ich den Sprung hinüber wage. Auch Anny kommt ohne Zögern nach, und im Abstand klettern wir nacheinander hoch, laufen das Band hinüber zur anderen Seite der Wand und klettern steil über loses Gestein hinunter zum Schneefeld. In der Ferne thront an der Ostflanke des Tödi die Grünhornhütte. 1863 wurde sie vom Schweizer Alpenclub als erste Berghütte für Alpinisten erbaut und diente lange Jahre als Notunterkunft. Dieses Jahr feiert die Hütte mit dem SAC ein gemeinsames Jubiläum: 150 Jahre. Wir benötigen nochmals unsere ganze Kraft, um zur Hütte hochzusteigen, aber es ist – abgesehen davon, dass es sich lohnt – der einzige Weg. Das Innere der Hütte zeigt sich spartanisch: zwei Bänke, ein Tisch, in den geritzt werden darf. Lucas kratzt die Buchstaben F l o r i a n aus, der Name seines achtundzwanzig Tage jungen Sohnes.
Die Rast in der Sonne vor der Hütte lässt uns nochmals Kraft tanken für den letzten Akt unserer heutigen Tour. Vor uns liegt bald die Fridolinshütte. Genau zehn Stunden waren wir unterwegs. Unsere Füsse sind dankbar, als wir sie von den Bergschuhen befreien.
Nachmittags legen sich Nebelschleier um die Berggipfel, aber da bade ich längst im Evakostüm im kleinen See neben der Hütte, und Kinder spielen Bergsee-Kapitäne im Boot ‚Fridolinghi‘. Vor der Hütte verarzte ich Lucas‘ Wunde am Fuss. Am Abend vor der Tour ist er auf die Spitzen seiner Steigeisen getreten. Tapfer und ohne Wehklagen lässt er die Prozedur über sich ergehen.

Am andern Morgen schauen wir in einen weiteren klaren Tag. Den steilen Weg hinab nach Tierfehd nehmen wir mit frischem Schwung. Überhaupt sind wir wie von Geisterhand zu neuen Kräften gekommen. Es mag wohl auch an der Gastfreundschaft der Fridolinshütte liegen. Hinab begleiten uns der Hainlattich, die Schwarzrote Akelei und sogar die imposanten Feuerlilien. Auch Glockenblume, Knöterich, Teufelskralle und Enzian und was weiss ich sich alles brüstet in dieser bunten Herrlichkeit. Unsere Schritte sind lang, die Zehen taub, der Kopf leer und bereit für alles, was kommen möge. Unterwegs malen wir uns aus, welcher Höllenlärm hier herrschte, könnten all die vielen Steine sprechen. Die Pantenbrücke mit den steinernen, imposanten Bögen steht schon bereit, als wir uns durch Wald und Grünwerk der engen Linthschlucht nähern. «Gar wunderlich Werk, daz ouch der Tüvel sich dez wundern müsst», liest sich auf der Tafel. Wir nicken zustimmend. Bis hinab naschen wir händeweise wilde Erdbeeren, die am Wegbord locken.
Im Zug durch das Lintthal sagt Anny, als sie zum Fenster hinausschaut: «Sieh nur, unser Tödi! Mir scheint, er lächelt uns an!» Tatsächlich, ich sehe es auch. Da erst beginne ich zu begreifen: Wir waren da oben.

Solothurner Kalk

Das Teufelsjoch brachten wir letzten Winter mit den Skiern bestens hinter uns. Weshalb also nicht zum Klettern ins Teufelsgrätli? Namen schrecken uns nicht mehr vor Taten ab. © Annette Frommherz

Unter uns sind grüne Teppiche ausgelegt. In aller Herrgottsruhe weiden die Kühe. Wir müssen höllisch aufpassen, dass ihr Glockengeläute uns nicht in Trance versetzt. Schliesslich sind wir kaum einen Katzensprung von der Berner Grenze entfernt, wo erfahrungsgemäss alles ein bisschen gemächlicher vonstattengeht. Ruhig hebt ein Bauer in Gummistiefeln seine Hand zum Gruss, und wir sind uns nicht sicher, ob er von der gestrigen Heuete müde Arme hat oder uns in Hypnose versetzen will. Ich nehme meinen Fuss vom Gaspedal, im Rückspiegel sehe ich den Landwirt, wie er uns nachschaut. Er scheint zufrieden zu sein.

Gestern schon fuhren wir Richtung Solothurn. Von weitem zogen uns die ersten Jurafalten in den Bann, die sich in einer Kette von Kalksteinfelsen von der Lägeren bis zum Genfersee ziehen. Bald erreichten wir das verschlafene Dorf Attiswil, wo uns vier Halbwüchsige wortreich und in Engelsgeduld erklärten, wie wir nach Farnern kommen sollten. Es hörte sich an, als sei es eine Weltreise, welche wir vor uns hatten, obschon wir kaum ein paar Minuten später zu den paar Häusern gelangten, die da so vor sich hinstanden und den Samstagabend begrüssten. Oberhalb des Ortes fanden wir am Waldesrand ein Schlafplätzchen in Mutter Natur, die uns mit bunten Trockenwiesen, weiter Rundsicht und später mit einem vollen Mond beschenkte.

Am nächsten Morgen sind wir bereits so weit verlangsamt, dass wir diesen beinahe verpassen und das Morgenessen im Freien kurzerhand zum Mittagessen erklären müssen. Wir erinnern uns vage daran, dass wir zum Klettern hierhergekommen sind und nähern uns deshalb der Region Rüttelhorn, wo im Sektor Teufelsgrätli allerlei Routen darauf warten, erklommen zu werden. Das Wetter zeigt sich kühl, ein Pullover lässt sich bitten, der Wind hat einen Gang höher geschalten. Meiner Idee ist es nicht zu verdanken, dass wir als Einstiegsroute die ‚Cement highway‘ wählen, eine 5c; und das, nachdem ich seit mindestens einem halben Jahr keine Kletteroute mehr von nahem betrachtet habe. Ich schlucke leer, was meinem Heuschnupfen zuzuordnen ist. Wie bin ich dankbar, auf diesem Highway keinen Gegenverkehr zu haben, ich benötige alle Kanten, Risse, Absätzchen und Löcher im Felsen für mich alleine.
Später können mir der Teufelskamin und die Verlängerung dieser Route nicht mehr viel anhaben. Auch die Route Teufelsgrätli komme ich hoch – allerdings im Nachstieg und mit vollem Einsatz aller erdenklichen Muskeln, Sehnen und Flüchen. Unterwegs im Felsen begegnen mir blühendes Berg-Steinkraut und Felsen-Bauernsenf, dessen Namen ich erst zu Hause herausfinden werde. Mir ist, als wachsen die Pflanzen immer genau dort, wo ich meinen Fuss hinsetzen will oder eine besonders griffige Kante entdeckt habe. Den Gipfel erreiche ich mit blutigen Fingern und zittrigen Beinen. Es erinnert mich daran, wie schnell einem die Kondition und die Finessen der Technik abhanden kommen können. Das Abseilen kommt meinem Gusto wieder sehr entgegen.

In der Wirtschaft Hintere Schmiedematt tischt uns zum Abschluss dieses Sonntags eine blau-weiss-karierte Schürze ein währschaftes Abendessen auf. Fliegen jagen sich durch die Wirtsstube, vor dem Fenster weiden die Fohlen, die hier sommers beheimatet werden. Meine Beine sind schwer, der Kopf leer, die Seele baumelt. Wir sind ganz zufrieden mit uns und der Welt.

Auf Hochtouren bringen

Die Rufe verhallen nicht mehr ungehört. Deutlich gibt man mir zu verstehen, dass zu lange kein Text mehr aufgeschaltet worden ist. Ich kann es nicht leugnen. © Annette Frommherz

Die einen fragen schüchtern an, ob es mit dem Wetter zusammenhinge, dass die Blogeinträge aussetzten. Andere fragen ganz unverhohlen, ob ich mit den Bergen nichts mehr am Hut haben möchte. Einer der treuesten Leser vermutet, ich hätte vielleicht mein Leben auf den Kopf gestellt und die gute Feder an den Nagel gehängt. Nichts von alledem! Seid beruhigt und harrt der Dinge, also der Texte, die schon wieder kommen werden.

Der Grund für die ausstehenden Beiträge ist banal: Ich tanze auf etlichen Hochzeiten, und das hat zur Folge, dass ich kaum zum bergschreiben komme. Wäre ich klüger, würde ich die fehlenden Blogeinträge dem schlechten Wetter in die Schuhe schieben. Schliesslich trägt der neueste Kälteeinbruch weder dazu bei, meine Laune zu heben, noch lässt er mich auf Berge steigen. Was also soll ich schreiben? Dass ich mich danach sehne, meinen Rucksack zu packen mit all dem Kletterzeugs, das seit Monaten still vor sich hinwartet? Dass ich träume von saftigen Wiesenblumen, die sich im Winde wiegen und denen ich stundenlang zusehen möchte? Ich würde mich auf einen Stein setzen, irgendwo am Wegesrand, und in die Sonne blinzeln. Sie steht schon hoch am Himmel, hat mich begleitet beim Abstieg vom Gipfel. Die Beine sind mir schwer geworden, so steil war es, so lang der schmale Pfad. Alleine unterwegs zu sein, schien mir nichts auszumachen. Einmal blieb ich stehen, weil mir schwindlig war. Ich lehnte mich an einen Felsen und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, zogen weisse Wolken über den Himmel und ein Vogel liess sich mit weit ausgebreiteten Schwingen durch die Lüfte gleiten. Es war ein Adler, ich konnte es sehen, weil er schnell näher kam. Es war, als würde er sich vom Himmel abstossen, als hätte er mich zum Ziel genommen. Er kam geradewegs auf mich herabgeschossen. Ich hielt meine Arme vor die Augen, um mich zu schützen; aus Angst, der Vogel könnte es auf meine Augen abgesehen haben. Ich hörte Flügelschlag, spürte einen Luftzug. Als ich die Arme langsam senkte, sass der Adler dicht neben mir auf einem Felsvorsprung und schaute mich an.

Alles erstunken und erlogen! So also lassen sich die Leser in die Irre führen, zum Narren halten und durch ganze Abgründe schleifen. Eine kleine Träumerei, ausgeschmückt mit Redewendungen und ein paar hübschen Metaphern, und fertig ist das Bergtextlein. Es muss vorerst genügen. Als Überbrückung bis zu meinem nächsten Abenteuer, das mit Sicherheit ganz echt sein wird.

Milde gestimmt

Selbst dann, wenn die gute Laune auf Sparflamme schwelt, gibt es ein Rezept: raus in die Natur. Besonders bei einem Wetter, das die Goldmedaille verdient. © Annette Frommherz

Das böse Wetter hatte mir nebst Energielosigkeit eine besonders üble Laune besorgt. Nichts wollte gelingen, alles war zu wenig oder zu viel, und überhaupt schien die ganze Welt gegen mich zu sein. Winterblues? Nachdem ich zwei volle Tage Trübsal geblasen hatte, beschloss ich, dem ein Ende zu bereiten.
Still lag der Wägitalersee vor uns und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Der Frühling vielleicht? Ich sehnte mich danach, keine Frage. Aber der Prachtstag verleitete uns dazu, den Winter nochmals voll aufzusaugen. Endlich, war versprochen worden, sollte sich das Wetter versöhnlich zeigen, nachdem es lange genug weite Teile Europas seine garstigste Seite gezeigt hatte. Die Schneeverhältnisse in der Innerschweiz boten sich so sensationell an wie ganz selten anfangs April: traumhafter Tiefschnee, mässige Lawinengefahr und eine Sonne, die sich nicht zierte.
Meine neueste Errungenschaft – massgeformte Skischuhe – trug ich stolz zur Schau für jeden, der mich überholte. Im Wald hingen tiefverschneite Äste, denen es auszuweichen galt, bevor sie uns den Nacken mit pulvrigem Weiss kühlten. Für die steilen Stellen zwischen den Bäumen hatte ich in weiser Voraussicht die Harscheisen montiert (ok, es war mein Liebster, der sie montiert hatte, weil es dafür einen zielgerichteten Schlag und deshalb etwas mehr Kraft benötigt).
Nachdem wir den Wald hinter und unter uns gelassen hatten, drehten wir uns um zum Nebelmeer und dachten etwas mitleidig an jene, welche in Pantoffeln vor dem Fernseher sassen und keinen Blick zum Fenster hinaus wagten. Uns bot sich ein Bild, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, wenn ich in den Märchen gelesen hatte, die von funkelnden Diamanten erzählten und von Frau Holle, die tags zuvor die Kissen geschüttelt hatte. Es war mir, als wolle die Natur sich für die vielen Tage entschuldigen, an denen sie uns prächtiges Wetter vorenthalten hatte.
Mit unseren Skistöcken testeten wir die Schneedecke. Luftig rieselte das Weiss. Wir liessen uns Zeit für den Aufstieg, der uns über sanfte Hügel führte. Vor jedem glaubte ich zu wissen, dahinter verstecke sich bereits der Gipfel. Wir waren nicht die einzigen mit dem Ziel Redertengrat, fürwahr, aber wir gönnten es jedem. Oben suchte ich vergeblich nach dem Gipfelkreuz und hätte deswegen beinahe den Gipfelkuss vergessen. Die Ostereier würden sich hier gut verstecken lassen, dachte ich noch, während mein Liebster schon welche aus Schnee formte. Damit tütschten wir, im Hintergrund sah uns das Vreneli aus dem Garten zu, und weiter hinten thronte der Tödi, der Gute, und tat nichts dergleichen. Noch kurz ein Winken Richtung Clariden und Teufelsjoch, das sich an uns zu erinnern schien, und bald sah man uns die Skier schnallen. Ich staunte nicht schlecht, wie leicht es sich im tiefen Schnee nach unten segeln liess. Mein Liebster übte sich in Nachsicht und lächelte milde, wenn er warten musste oder meine Bogen nicht so eng wie seine wurden.
Die üble Laune war mit einem Male Lichtjahre von uns entfernt, ja nicht einmal mehr in meinem Vokabular vorhanden. Ich hatte sie verloren, irgendwo zwischen Wägitalersee und Rinderweid.

Teufel und Glückspilze

Wir scheren uns ausnahmsweise einen Teufel, was andere an diesem prächtigen Wochenende tun. Hauptsache, wir sind dort unterwegs, wo man uns am glücklichsten sieht: in den Bergen. © Annette Frommherz

Normalerweise vergesse ich bei jeder Gelegenheit etwas nie: mein Schreibzeug. Ausgerechnet als wir die tausend Höhenmeter zum Gemsfairen in Angriff nehmen, kommt mir der Satz, den ich dringend für eine Geschichte benötige, in den Sinn: ‚Die Lust, sich zu beherrschen, hält sich in Grenzen.‘ Es ist kein langer Satz, aber mit der Höhenluft kann er allzu schnell vergessen gehen. Mein Schreibzeug jedoch liegt auf dem Nachttisch, wo ich es für die wortgetränkten Nächte platzierte. Während wir uns dem Gipfel nähern, kreist der Satz in meinem Kopf. Ich versuche, mir die drei prägnanten Wörter zu merken: Lust, beherrschen, Grenzen. Ein Wort bei jedem Schritt, der den Schnee unter den Skiern knirschen lässt.
Heute ist ein Tag, an dem uns die eigene Unwichtigkeit unseres Daseins bewusst wird, denn ganz im Gegensatz zur Natur sind wir doch mehr als bedeutungslos. Vom Gipfel aus betrachten wir die Welt, wie sie zu unseren Füssen in Watte gepackt liegt. Etwas überheblich haben wir uns bereits im Linthal die Sonnenbrillen aufgesetzt. Die Glückspilze sind unterwegs.

Milchig gelb umarmt die Sonne die Bergspitzen, als wärs der Morgenkuss. Südlich hockt der Tödi wie ein mächtiger Klotz. Ich weiss, lieber Tödi, dass du der Grösste in den Glarner Alpen bist! Dich komme ich im Sommer besuchen, warte nur! Der Südhang hinab zum Claridenfirn ist steiler, als mir lieb ist. Mein Liebster schwingt munter und wartet unten geduldig. Wir haben alle Zeit der Welt, Uhren und Terminkalender sind faul zu Hause geblieben. Entlang dem Bocktschingel lösen sich da und dort lose Schneemassen von den Felsen und stieben mit Wucht in die Tiefen. Sonst umgibt uns Weite, Vertrautheit und Ruhe. Sogar der Tinnitus, dieser Schurke, gibt auf und überlässt mich der Stille.
Unser Ziel, das sich in die Länge zieht, ist die Planurahütte. Auf fast dreitausend Metern liegt diese höchstgelegende Alpenclubhütte der Ostalpen, imposant in den Felsen gebaut. Das Panorama ist im Pensionspreis inbegriffen, auch das Toilettenhäuschen, in dem der Schnee durch die Ritzen gedrungen ist und sich neben den Thron gesetzt hat. Für das Geschäft beeilt man sich hier unaufgefordert. Der Hüttenwart liess verlauten, die Hütte öffne zwar erst Mitte März, aber er werde gleichentags samt Material hinaufgeflogen und wir seien willkommen. Abends sitzen einige Berggänger mehr am Tisch. In der riesigen Pfanne türmt sich der Schnee für Tee, Suppe und Pasta. Noch bevor die Nacht hereinbricht, bestaunen wir auf der Terrasse schlotternd das abendliche Panorama, wie nur die Natur es malen kann. Die Lust, sich zu beherrschen, hält sich in Grenzen.
Kalt ist die Nacht, auch drinnen. Der Sechserschlag bietet, was er kann: schäbige zwei Grad über Null. Geschlafen wird mit der Wollmütze, in Thermowäsche und mit Skisocken, und am andern Morgen haben wir auf immerhin zehn Grad Celsius aufgeheizt. Mutter Natur übertrifft sich bereits mit ihrem nächsten Spektakel. Wir wagen uns in die klirrende Kälte und bereuen es nicht. Dass der Tropfen, der an meiner Nasenspitze hängt, innert Kürze gefriert, lässt mich unbeeindruckt. Es gibt Wichtigeres: Die Berge vor uns als mächtige gräuliche Zipfel, wie von Geisterhand schattiert. Dazwischen und darüber ein zaghaftes blaues Band, ein Streifchen Violett, ein Häubchen unscheinbares Rot, und fertig ist das Wunder. Es ist, als würde in diesem Moment die Welt neu erfunden.
Es ist der Clariden, der uns auf den Plan ruft. Unsere Siebensachen sind schnell gepackt. Zurück auf dem Firn, kurz entlang dem grössten Windkolk Europas, nähern wir uns dem Objekt der Begierde. Wir sind früh dran, so früh, dass wir ohne Hast als die Ersten den Gipfel erreichen. Ich bin froh, die Spitzkehren hinter mir zu haben, aber ich weiss, es werden heute nicht die letzten sein. Bald ziehen wir den Skis die Felle über die Ohren, lassen unsere Gesichter noch eine Weile von der Sonne braten und machen uns auf zu unserem nächsten Ziel, dem Teufelsjoch. Ich hatte es mir gestern heimlich aus dem Seitenblick heraus angeschaut, wie steil es da hinauf geht, und mir gesagt: Der Teufel soll mich holen, wenn ich das nicht irgendwie schaffen werde. Die Harscheisen werden montiert, wir gehen den Hang ohne Eile an. Aber die Spitzkehren werden bald so steil, dass wir die Skier weiter oben buckeln müssen. Ich will es nicht leugnen: mein Liebster trägt mir meine Latten bis zuoberst. Schon ohne habe ich das Gefühl, ich stehe in der Senkrechten und der schwere Rucksack reisse mich hinab in des Teufels Rachen. Auf dem schmalen Rücken des Jochs montiere ich die Steigeisen an den Skischuhen, nehme den Eispickel hervor, montieren wir die Skier an unsere Rucksäcke. Die senkrechte Felswand hinten hinab steht uns noch bevor. Schritt für Schritt setze ich die Zacken auf, halte ich mich mit der einen Hand am Seil oder an der Kette, sichere ich mich mit dem Karabiner immer weiter nach unten und hoffe darauf, dass der Teufel seine Hand nicht im Spiel hat. Kaum dass das Seil ein Ende nimmt, steigen wir im steilen Gelände auf unsere Bretter, und irgendwie gelingt es mir, den stotzigsten Teil zu überwinden.
Auf Teufel komm raus liegen Pulverhänge für uns bereit. Wären meine Beine nicht schon etwas bettlägerig und meine Fahrkünste weniger bescheiden, würde ich mich so freuen können wie mein Liebster. Sein Strahlen ist mir nicht verborgen geblieben, seit gestern liegt es unverhohlen auf seinem Gesicht. Nie sehe ich ihn glücklicher als auf Skieren und in steilen Hängen. Wie viele Höhenmeter es sein werden bis zur Klausenpassstrasse, will ich gar nicht wissen. Abends werden mir die Beine schwer sein. Um keinen Preis aber hätte ich woanders sein wollen. Nichts hätte besser sein können. Die Lust, sich zu beherrschen, hielt sich in Grenzen. Es ist ein kurzer Satz, aber ein wichtiger. Hier darf er sich niederlegen.

Jedem seine Leidenschaft

Garmil. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört. Dabei wollten wir doch auf den Gemsfairen. Konfetti war auf den Strassen in rauhen Mengen gestreut worden, in höheren Lagen lag haufenweise Schnee herum. © Annette Frommherz

Die Schneeverhältnisse und die Lawinensituation würden es nicht zulassen, auf den Gemsfairen zu steigen, liess man verlauten. Man werde deshalb einen geeigneten anderen Berg in Betracht ziehen. Ich stieg frühmorgens in den Zug, die Schneeschuhe an den Rucksack geschnallt. Fasnachtsleichen hingen in den Polstern wie schlaffe Teppiche, die man nach dem Ausklopfen zwar aufgerollt, aber vergessen hatte einzusammeln. Konfetti klebte an meinen Schuhen, als ich in Schänis ausstieg. Die Fasnacht ist ein eigenartiges Treiben.

Eine ganze Weile später sah ich mich mit einer Gruppe den Hang hinaufsteigen. Verzuckerte Tannen, ein Glitzern wie verzauberte Konfetti, bunte Jacken, keine Masken. Von ferne hörte ich die Glocken der Kirchen, die zum sonntäglichen Gebet ruften. Weiter oben versuchte ich die Tourenfahrer zu ignorieren, die mit Stiebern durch den tiefen Schnee an uns vorbeifuhren. Es war kalt, und unsere Nasen färbten sich rot. Noch kälter wurde es, wenn wir auf die anderen warten mussten.
Ein Augenblick ist eine verdammt lange Zeit, dachte ich, aber auch andere Gedanken machten sich in mir breit. Ich dachte zum Beispiel daran, was mich um Himmels Willen dazu bewogen hatte, mit Schneeschuhen diesen Prachtstag zu begehen. Ich fand keine Antwort, dafür einen dieser knusprigen Schokoriegel in meinem Proviantsack. Weit unten im Rheintal trommelten und trompeteten die Nimmermüden einer Guggenmusik. Ich jauchzte die Sonne und den Schnee an. Jeder hat seine eigene Musik. Dem Gipfel hatten wir längst den Rücken gekehrt, als die Sonne sich hinter den Bergketten verzog. Genug jetzt, wird sie sich gesagt haben, noch ist nicht aller Tage Abend. In langen Schritten rutschten wir die steilen Hänge hinunter. Im Pizolstübli trafen wir auf ein paar hängengebliebene Fasnächtler, die sich mit Perücken tarnten und mit schwerer Zunge parlaverten. Die Witze, die sie zum Besten gaben, waren nicht stubenrein.

Gegen Abend war der Zug voll von diesem und jenem. Eine mächtige Tuba versperrte den Gang. Ihr Besitzer, im Zottelkostüm und rotbemaltem Gesicht, sah abgekämpfter aus als jeder Pistenrowdy. An sein Instrument gelehnt, sass er da mit leeren Augen, die ihm ab und zu schwer wurden. Die Posaune, die zwischen Skiern, Snowboards und Schlitten lag, konnte ich keinem Kostüm zuordnen. Schichten von Konfetti dekorierten den Boden der Südostbahn. Ich war etwas benommen von den vielen Farben, Facetten und Gerüchen, die ich hier traf. Verschiedene Welten im selben Land. Etwas aber, dachte ich, etwas war uns gemeinsam: wir waren in unseren Leidenschaften unterwegs.