Ein kalter Hauch

Einmal begann ich in Weisstannen, stieg mit den Ski auf sonnig milder Südseite zur Madfurggel auf und fuhr im herrlich pulvrigen Schnee der Nordseite fast bis nach Flums hinab. Das machst du nochmal, dachte ich eine gute Woche später, dieses Mal über den nächsten Pass. Doch dort kam es anders.

Noch im Schatten stieg ich hinter dem Dorf das Tal hinein, dann hinauf zur Alpe Obersiez, wo auf einmal die gemütliche Spur, der ich folgte, in die andere Richtung lief. Vor mir, zu meinem Pass hin, lagen einsam ein Hang, dann ein Couloirartiger aber breiter Durchschlupf, dann ein Hochtal. Alles in der prallen Sonne. Der blendende Schnee war weich und tief. Ich schwitzte. Und ich freute mich auf die Rast, oben, noch in der Sonne, und auf den Pulverschnee der Schattenseite.

Es kam anders.

Später, im Werdenböll, hinterstes Schillstal, sitze ich unter ein paar Tannen auf einem aperen Fleck, zwei Meter vor mir die junge Schils, die plätschert. Geistesabwesend beobachte ich amöbenförmige Luftblasen, die von Zeit zu Zeit unter dem Eis hindurchhuschen, das vom Rand bis halb zur Bachmitte reicht. Mir ist kalt. Ich bin erschöpft. Die Skitour war lang, ist noch nicht zu Ende. Der Schnee war schlecht, Windharsch, knietief, achthundert Höhenmeter. Einmal brachte mich ein zugewehter Block zu Fall. Nach prallem, tief sulzigem Sonnenaufstieg, alles verschwitzt, war nahe der Höhe, bei plötzlich eisigem Wind, keine Pause. Alles dauerte viel zu lange und das Trinken war zu wenig, ist längst aus. In meine Jacken gehüllt sitze ich in der Sonne auf dem aperen Fleck unter den Tannen und friere noch immer. Meine Kehle ist durstig, trockener Hustenreiz bei tiefem Luftzug. Das Plätschern der Schils jagt mir frostige Schauer über den Rücken. Wie eisig muss dieses Wasser sein, dass Luft in Amöben unter Eisränder treibt, wie brennend kalt? Bräche ich hinein, die Kleider nass, finge ich unmittelbar schweres, triefendes Feuer, das mit stichflammenartig raschem Griff mein Herz umschliessen würde, so fest, dass ihm kein atmen mehr möglich wäre.

Tödliches Wasser.

Tödlich hätte Wasser schon bei der Abfahrt sein können. In seiner trockenen, gebundenen, vom Wind aufgenommenen und wieder abgelagerten Form.

Guten Mutes war ich von der Fansfurggla in die zunächst flachen Hänge gefahren, in lockeren Schnee, der so tief war, dass ich darin bald zum Stehen kam, woraufhin ich schob, erneut schwitzte, diese Mal im kalten, schattigen Wind, der den lockeren Schnee um mich auf und an mir vorbei, schneller als ich mich schieben konnte, vor mir her trieb, das ganze lange, leicht fallende Plateau entlang. So erreichte ich umtanzt die Kante und blickte hinab in den Steilhang, in den hinein der Wind all die Schneefahnen, die er auf der Hochfläche aufgehoben und an die Hand genommen hatte, wie ein untreuer Gefährte wieder fallen liess. Windschnee hatte sich seit Stunden über den nordseiteigen Steilhang gelegt, den ich abfahren wollte. Auf den ich gehofft hatte, ich, der hier weit und breit alleine war, und der niemandem gesagt hatte, wohin ich ging.

Windschnee im Steilhang ist Schneebrettschnee. Was ich vorhatte, war unmöglich. Noch weniger aber wollte ich die ganzen Strapazen zurück. Deshalb schloss ich die Augen und stiess mich ab, schnitt quer in den Hang und schwang schwer im tiefen, kompakten, über hunderte Höhenmeter von der fegenden Luft marmorierten Weiss, das hielt. Es war gut gegangen. Achthundert Höhenmeter Hoffen und Bangen, kräftezehrendes Stemmen, bis hinab zum aperen Fleck an der Schils, wo wieder ein kleiner Punkt Sonne war, in dem ich mit trockener Kehle fror, der aber auch ein kleiner Fleck ohne trockenes oder nasses, ohne tödliches Wasser war.

Als ich mich endlich aufraffte, fand ich wenig später eine harte Spur das Tal hinaus. Während des leichten Gleitens in die Tiefe wurde die Sonne wärmer, fast frühlingshaft, und meine Kraft kehrte zurück. Was lag hinter mir? Ein Pass zwischen Weistannental und Schilstal, nichts weiter. Kein dramatischer Schneesturm, keine dünne, eisige Höhe. Und doch war da, bedrohlich, für kurze Zeit ein kalter Hauch um mich gewesen.

Durch die Stille

Ich musste einmal wieder einen Tag hinaus. Nur wohin? Es hatte frisch und viel geschneit und ich hatte keine Begleitung, ausser einem Buch. Da mir die Lawinengefahr nicht geheuer war, wählte ich einen anderen Weg. Nicht auf die Berge hinauf, sondern dazwischen hinein.

Hinter Bad Ragaz öffnet sich im Berg ein tiefer Spalt. Er mag oft düster wirken, doch heute gab ihm der Schnee etwas Helles. Keine Spur war zu sehen, nur ein geschlossener Schlagbaum, ein Schild „gesperrt!“. Und dennoch nahm der breite Weg mich auf und mit hinein. Es wurde still und der Schnee rasch höher, der weich war wie eine Sommerwiese, indem er  jeden Schritt federte und an den Beinen bis zum Knie hinauf reichte. Als die Schlucht sich einmal etwas weitete und zwischen Tamina und Weg Platz für eine Gruppe bewegungsloser Bäume liess, sass dort, den Kopf eingezogen, ein Bussard auf verschneitem Ast. Ich hielt nicht inne, schaute nicht hin, sagte nur, er brauche nicht aufzufliegen, lautlos, weil er es so vielleicht besser versteht. Da tat er es doch, strich ab in den Wald und war in der winterlichen Reglosigkeit verschwunden. Weil sich so gar nichts bewegte, sah ich später das kleine Flattern an der Felswand sofort. Ein Mauerläufer ging dort auf und ab, Silbern, rot und schwarz. Der Klettervogel! Sein Erscheinen, seinen Gruss zur Weihnachtszeit, nahm ich als Verheissung für das kommende Jahr.

Nach einer Ewigkeit des Stapfens, eine gute Stunde nachdem ich die Schlucht betreten hatte, war ich beim alten Bad Pfäfers. Das stattliche, glänzend renovierte Haus mit den roten Fenstern im weissen Putz und den Wappensteinen der Bischöfe, auch die angebaute Kapelle, waren stumm und tief verschneit. Keine Spuren führten von einer der Türen weg, oder zu einer anderen hin, nur meine lagen bald ringsum, wie suchend, zu wirren Schleifen geflochten im Schnee, und leiten einen später vielleicht fragenden Blick noch ein Stück weiter, bis zum Ende des Weges. Hier, wo die Wände so nahe zusammentreten, dass nichts als Wasser zwischen ihnen Platz findet, sass ich unter einem grossen Felsüberhang, an seine Rückwand gelehnt und las im mitgebrachten Buch. Es war still bis auf das Murmeln, nicht rauschen, der Tamina. Ein paar Schneeflocken, die einst hereingeweht waren, lagen auf den Steinen wie Staub und ich konnte sie wegpusten bevor ich mich setzte. Mir war kalt, doch ich fror nicht, las im Buch vom Roten Ritter, der durch einen Spalt im Berg zog, mitten hindurch, und an ein kaltes Haus kam, der, als er floh, ahnungslos auf eine Schlucht zu galoppierte und das Pferd, dass versuchte darüber zu setzen, verlor, weil es in den Abgrund stürzte, an dessen Zweigen er selbst sich hielt und wieder emporzog.

Auch mein Weg führte irgendwann die Schluchtwand hinauf, doch war er breit und zeichnete sich auch unter dem hohen Schnee noch ab. Treppenstufen leiteten an den Felsen entlang und ich brauchte die Hände nicht ein einziges Mal aus den Taschen zu nehmen. Im Hier und Jetzt gehen wir leichter durch Schluchten als die Ritter der Fabel. Wir setzen auch gelassen hinüber, in makellosem Schwung aus federleichtem Beton, unter dem ich das zweite trockene Plätzchen heute fand. Hier, unter der Taminabrücke, wehte aber der Wind herein und ich legte das Buch bald wieder weg. Mein kalter Störenfried trieb auch den Dampf zur Seite, der von der Tasse aufstieg, die ich mit beiden Händen vor den Lippen hielt. So fiel mein Blick über den heissen Tee hinweg auf eine, durch die Ingenieurskunst zur Symmetrie gewordene Landschaft. Bis wieder Vögel darin auftauchten, irgendwo weit draussen, man sah sie sofort, stets schwarz auf weissem Grund. Wie zufällig flog hier mal einer, mal dort eine kleine Schar, und brach so den Bann der Symmetrie. Nein, die Welt war nicht erstarrt.

Auch ich ging weiter, zurück nach Hause. Und als ich dort ankam, es früh und noch vor dem Abend dämmerte, da war ich nicht nur im Buch einige Seiten weiter gekommen, sondern auch im Leben einen Weg mehr gegangen.

Leichtigkeit

Wenn mit den Blättern von den Bäumen endgültig auch die Farben gefallen sind und die kahlen Äste grau in den grauen Hochnebelhimmel ragen, dann zehre ich so manches Mal von der Erinnerung an vergangene Leichtigkeit. Zum Beispiel an einen Sommertag, an dem alles Spiel und alles perfekt war.

Damals stiegen wir mit dem ersten Tageslicht kurz ein Tal entlang, dann nach links abzweigend, stille, da bereits verlassene Alpweiden empor. Eine blockige Rinne brachte uns in die Scharte am Beginn des Nordgrates, auf der sich der Blick in die ostseitige Tiefe auftat, und auf der uns die Sonne begrüsste. Nun ging es an grossen Rissen über eine erste Stufe und dann fast beliebig steigend oder verspielt kletternd weiter, mal im Licht, mal im Schatten, stets am Fels. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch standen wir am Gipfel des Kleinen Widdersteins, angesichts einer weiten Aussicht ins morgendliche Alpenvorland auf der einen, und schroffer Nah- und Tiefblicke auf der anderen Seite. Der Weiterweg windet sich ziemlich herum, hinab in eine Scharte, hinüber in die Nordflanke, hinauf auf den Südgipfel und über eine steile Rippe wieder hinab ins grasige Karlstor.

Tor ist der treffende Ausdruck für diesen Ort. Nach Norden und Süden streben Felspfeiler empor, nach Osten und Westen sinken Geröllkare ins Tal, umgekehrt liegt der Torbogen im Bergleib. Mit Schwung kamen wir seinen nördlichen Pfeiler herab, durchliefen sein Bogenrund ohne zu halten, und rollten im Süden noch ein ganzes Stück wieder hinauf, ehe wir die Rucksäcke absetzten. Wir zogen die Klettergurte an, blickten aber etwas unschlüssig auf das Kommende, wägten und beschlossen dann, das Seil im Rucksack zu lassen. Wer will schon steigen, stehen, warten und steigen, stehen, warten, wenn der Fluss der Bewegung zu fliessen drängt und kein Grund dazu besteht, einen Anker zu werfen. Der Fels in den folgenden Verschneidungen fühlte sich an wie rauer Samt und trug uns leicht, als wären wir Luftwesen in die Höhe. Nach einem plattigen Rücken in Pfeilermitte steilte sich das Gelände nochmals auf. Braungraue Kanten aneinander gelehnter Platten, bildeten Orgelpfeifenartige Strukturen, an denen wir mal neben, mal übereinander kletterten, mal miteinander redend, mal still, jeder seinem Spiel vertrauend, das viel zu schnell zu Ende war.

Über den mit grossen Blöcken bedeckten Rücken des horizontalen Stückes im Ostgrat, kamen wir zu einer kleinsplittrigen Scharte, die wir schleichend durchquerten, und in der ich es war, der den einzigen Stein des Tages lostrat. Dann aber wurde der Fels wieder fest und der Grat steilte auf. Nahe dem Abbruch zur Nordwand segelten wir steigend, gleitend und wie in gutem Aufwind höher und dem Gipfel näher, den wir jederzeit hinter dem nächsten Absatz erwarteten. Doch dann stoppte ich überrascht vor einer Scharte, einem Einriss, gut zehn Meter tief. Wie eine Erinnerung an die Erdenschwere tauchte der Begriff „Seil“ in meinem Kopf auf. Verschwunden schienen die Flügel, die mich eben noch getragen, und die mir doch wieder wuchsen, als ich versuchsweise auf einen Absatz hinab kletterte. Bald konnte ich gegen die jenseitige Wand spreizen und las, schliesslich unten stehend, Aikko die Gedenktafel vor, die hier, so weit weg jeder Aufmerksamkeit, am Fels angebracht ist; während er, vom Kletterer, der in den Sechzigerjahren vom Blitz erschlagen wurde erfahrend, mich oben herum überholte, indem er mit weitem Schritt über den Einschnitt spreizte und an der von horizontalen Rissen durchzogenen Wand nach links um die Ecke verschwand. Ich folgte ihm auf die Gratfortsetzung, auf der nur wenig später, plötzlich ein Mann vor uns sass, etwas weiter zwei junge Frauen auftauchten und Dohlen um rastende Berggänger kreisten, sich wenige Meter neben ihnen auf eine noch freie Zinne setzten, etwas fallengelassenes aufpickten und wieder über die Köpfe in die Höhe schossen.

Auch wir landeten am Gipfel des Grossen Widdersteins, setzten uns auf ein noch freies Plätzchen, assen, was Essbares im Rucksack war und unterhielten uns über die Berge, die man sah, und über ihre Wege. Ein unerschöpfliches Thema, ein nicht enden wollender Stoff, Ahnung vieler noch möglicher Tage voll Leichtigkeit, mit der wir den Abstieg verplauderten, und die noch monateweit bis in den grauen Hochnebel reicht.

Von Col zu Col

Das Wetter war durchwachsen angesagt, doch wir hatten einen Plan B ausgearbeitet: Eine Route über zwei Pässe und zwei Gletscher, zu der wir kaum Informationen hatten, die beinahe unbekanntes Land war. Und wieder einmal wurde ein B Plan zum ganz besonderen, vielleicht zum grösseren Erlebnis.

Die Cabanne de Valsorey liegt hoch inmitten eines Steilhanges, klein auf einer Felsenkuppe. Es ist eine Bergsteigerhütte wie sie immer seltener zu finden sind. Das Plumpsklo liegt zwanzig Meter abseits auf einem Felsen in einem Blechcontainer, und weil im Schneefall vor zwei Tagen das Rohr gefroren und geplatzt war, ist der Brunnen daneben trocken und still. So muss man sich mit den Schneeresten behelfen, oder zum Waschen den Eimer voll Wasser nehmen, den die beiden Frauen, die hier wirten, als Ersatz neben den Brunnen gestellt haben.

Auf ihrer Rückseite wird die Hütte dräuend überragt von den tausend Meter hohen Flanken des Grand Combin, düsterer Fels, aus dem jetzt am Nachmittag das gepolter tauender und abbrechender Eiszapfen zu hören ist. Der beste Platz ist eine meterbreite Holzbank auf der Vorderseite, auf der wir nachmittags ein Vitamin-D Bad nahmen und abends die lange Dämmerung im Westen begleiteten. Dorthin geht der Blick frei und weit zu den stachligen Felsrücken des Mont Blanc-Gebiets, jetzt, Anfang September, eine Welt eingeschneiter Felsburgen, deren Gletscherzungen und Eisbrüche sich in die kaum einsehbaren Schluchten geflüchtet haben. Nur am alles weit überragenden Fast-Fünftausender in ihrer Mitte triumphieren sie emporschlängelnd über die Felsen. Während still, tief unter uns, silberne, fast durchsichtige Nebelstreifen vom Val d´ Entremont hereinzogen, beobachteten wir das schwindende Licht, den Sonnenuntergang hinter dem Mont Blanc. Erst als sich der zaghafte Schimmer des Mondes in den obersten Flanken der Brenva-Seite bemerkbar machte, gingen auch wir leise hinein in die längst schlafende Hütte.

Am Morgen waren wir vier die einzigen der insgesamt acht Gäste, die um Fünf bei einem dunklen Frühstück sassen. Als wir später die felsigen Hänge anstiegen, überschwappten uns wieder und wieder einzelne Nebel, die sich von einem wogenden Meer knapp unterhalb der Hütte lösten, über uns und dann an den Felsflanken in die Höhe krochen, um oben an den Graten zu verschwinden. Eine hohe Wolkendecke saugte den Mondschein in sich auf, wie ein Schwamm eine silberne Flüssigkeit, und leuchtete fahl über der schwarzen Erde. Das Leuchten wurde blasser während wir höher stiegen, bis es langsam in ein Rot tauchte, das eine irgendwo aufgehende Sonne kurz zwischen Horizont und Wolkendecke warf. Die letzten Meter zum Col de Meitin, auf dem uns plötzliche und jäh ein eisiger Nordwind anfuhr, stiegen wir schliesslich im Licht eines grauen Tages auf.

Jenseits, unter uns, lag das Gletscherbecken, eine gelbliche, spaltendurchzogenen Firnfläche, auf der weiss der Schnee von vor zwei Tagen, in langen, unterbrochenen Dünen lag. Der Weg dort hinab führte über einen blanken Steilhang und einen offenen Bergschrund und kostete uns Zeit da wir in zwei Seilschaften gingen und Eisschrauben ein- und ausdrehen mussten. Kaum unterhalb des Grates war der Wind wieder verschwunden, doch zog vom Glacier de Corbassiere langsam ein grosser Nebel herauf. In diesem Nebel schlichen wir handbreit vorbei an kleinen Spalten, die sich nach unten zu Kathedralen weiteten, als blicke man vom First eines Kirchenschiffes hinter einem verrutschten Ziegel ins Innere. So präsentierte sich uns das Plateau des Maisons Blances als eine Stadt der Hallen und Säle, die wir über ihre löchrigen Dächer passierten. Auf den Felsen am Fuss des Combin de Boveire spielte ein Sonnenfleck in dem wir rasteten. Der grosse Nebel war jetzt angestiegen und lag uns gegenüber am Grand Combin, vor dessen breiten Eisbalkonen er nur ein schmaler, unscheinbarer Streifen war.

Der Col de Panossiere, unser nächster Übergang, setzte fünfzig Meter hoch felsig auf den Gletscher ab. Wir erreichten ihn in einem weiten Rechtsbogen durch mal glattgeschliffene, mal brüchige Felsen und betraten auf seiner anderen Seite den Glacier de Boveire. Breite Spalten zogen kreuz und quer und verschwanden schmäler werdend im Neuschnee, den wir in tastenden Bögen durchspurten. Weiter unten umgingen wir eine Bruchzone am Rand einer Felseninsel, von der aus sich an manchen Orten Geröll auf die Spalten ergoss, während an anderen grosse, längliche Blöcke zu Brücken verklemmt waren, auf denen wir mit unseren Steigeisen kratzend balancierten, oder in einem kurzer Boulder über den Abgrund gelangten. Über die unterste Zunge und ihr steiles Ende hinab, gelangten wir schliesslich direkt neben dem Gletschertor auf das steinige Vorfeld.

Wie durch einen Tunnel gingen wir später hoch auf einer schmalen aber begrünten Moräne absteigend erneut durch dichten Nebel, als von der anderen Seite leise und wie von weit her, Kuhglocken zu hören waren. Unterhalb der Wolkenbasis durchstreiften wir Beete reifer Heidelbeeren und mussten uns dann gut fünfzig Meter weit durch Erlengestrüpp schlagen, ehe wir einen Weg erreichten, der über Weiden und durch Wald ins Tal führte und uns von seinen Rändern her überreich mit Himbeeren beschenkte.

Kein Tropfen Regen war gefallen und keinem Menschen waren wir begegnet.

Jäger und gejagte

Von Bergsteigern, Jägern und Wild, von Felsgraten, Regenschauern und Szenen, die sich jagen. Von einem Tag Ende August im Gebirge.

Im Südosten der Hütte liegt ein wegloses Gebiet wilder Felsgipfel. Ein steinerfülltes Hochtal, die Wildgrube, im Norden, und ein weniger steiles, nicht weniger steiniges Tal, die Eng, einen zackigen Berggrat weiter im Süden. Beide münden gegen die Alpe Spullers Bühl, gegenüber deren vorderem Rand die Hütte steht. Von hier brachen wir zu dritt auf, die einzigen, die ihre Schritte nicht einen Wanderweg zu einer Nachbarhütte entlang, oder einer Kletterroute an der Roggalspitze zu, sondern nach jenem Gebiet im Südosten hin lenkten. Hinter dem Spullers Bühl schwemmen die Bäche aus dem Hochtal der Eng über eine weite grüne Ebene und man hat sie und einige dazwischenliegende Sümpfe zu überspringen, ehe die Grashänge südwärts wieder trockener ansteigen und sich bald in einzelnen Streifen zwischen den Karrenfeldern der Kalkfelsen verlieren, die sanft gegen das Brazer Jöchle ansteigen.

Plötzlich:

„Schaut, da oben gehen zwei!“

Tatsächlich, dort am Grat stiegen sie bedächtig gegen den Blisadonakopf an.

„Das wundert mich, hier in dieser Gegend!“

Vom Brazer Jöchle führen zwei Wege in die Höhe, einer gegen Osten, einer gegen Westen. Der Grat zum Blisadonakopf ist der Ostweg, jener zur Rohnspitze der unsrige. Als wir ihn erreichten, rasteten wir und liessen die Blicke schweifen. Sie glitten jenseits hinab ins Gipstäle, dort unten über weisse, gelbe und an einer Stelle rote Gerölle, trieben dann die Halden hinauf zu einem weiteren Grat voller Felszacken und fanden schliesslich erst ganz unten, ganz rechts, am Ausgang des Gipstäles, in den Schleifen eines Weges wieder Halt. Wir sassen noch, als in der Einsamkeit ein Schuss krachte, jäh durch die Stille fuhr und lange hallend um den Spullersalpkopf, durch die Eng zur Mittleren Wildgrubenspitze und durch die Südschlucht der Roggalspitze rollte, bis er endlich den Weg ins All hinaus fand. Keine Bergsteiger waren es, mit denen wir die Stille zu teilen geglaubt, die sie durchschnitten hatten wie der erste Stein, der fliegt, wenn er durchs Fenster schlägt. Im Fernglas sahen wir sie weit hinten eine Flanke queren, dann nebeneinander niederknien vor etwas, das wir nicht erkennen konnten, das dort lag und nicht floh, dem sie ins weiche, dunkle, noch warme Fell griffen.

Wolken hatten den Himmel bedeckt. Unsere Rast war zu Ende. Rasch stiegen wir den Grat empor, der blockiger, dann felsiger und schmäler wurde. Als der Blick von höher oben schon weiter in die Ferne ging und ein Steilaufschwung uns das Seil aus dem Rucksack zwang, sahen wir über Schruns im Montafon Schauer niedergehen, und als ich endlich nachstieg, brach prasselnd der Regen herab. Kalt und schwer legte sich mir der Stoff rundherum auf die Haut. Drei Seillängen weiter, am Gipfel der Rohnspitze, war es schon wieder vorbei. Sonne trocknete die Kleider und Wind den Bergleib.

Vergessen waren die morgendliche Stille und der Scherbenhaufen, zu dem sie zerbrach. Den weiteren Grat, den zweiten Gipfel, konnten wir leicht noch haben. Wir sprangen rasch über einige grüne Abschwünge und das mannshohe Mäuerchen einer steil gestellten Schichtplatte hinab, erreichten eine gleichförmig sich absenkenden Rippe aus hellem Kalk und waren sie kaum bis zur Hälfte entlang balanciert, als es sich erneut dunkel vor uns zusammenbraute. Ich beschleunigte, lief den beiden anderen ausser Rufweite und baute am tiefsten Punkt vor der Goppelspitze einen Stand, band mich ins Seil und übergab ihnen, als sie ankamen, den Knoten zur Sicherung. Rasch stieg ich hinauf bis kurz vor den unscheinbaren Gipfel. Wir überschritten ihn ohne Halt, als in den nächsten Tropfen die beiden nachgekommen und wir gemeinsam weiter gegangen waren. Der Wind gewann gegen den Regen. Der Grat bildete nun einen runden und vollkommen begrünten Rücken, der, gegen unten steiler werdend, hoch über der Wasserfläche des Spuller Sees abzubrechen schien. Wir griffen ins feuchte, kühle, grüne Fell des Berges, das kraftvoll und fest in den Böen stand und uns sicheren Halt gab, fünfhundert Höhenmeter lang, bis hinab zum See. Auf einmal waren wir wieder auf einem Weg und schlenderten zurück. Nur die letzten Meter, als ich, wie von dichter werdenden Schüssen aus dem Irgendwo getroffen, am Körper wahllos Punkte flammender Kälte spürte, rannte ich voraus unter das schützende Hüttendach, wo rasch verdampfte, was in Wirklichkeit nur die auf der Kleidung zerplatzten Tropfen eines erneut einsetzenden Regens waren.

Gratturnen zwischen Gewittern

MeteoSchweiz: „Die Druckverteilung über Mitteleuropa ist ausgesprochen flach…“ …und die Prognose offenbar eine ziemliche Kaffeesatzleserei. Zu unserem Bergtermin Anfang Juli war die Druckverteilung eher tief und mit eher viel Feuchtigkeit in der Atmosphäre, was uns zu pass kam, mussten wir uns doch keine Blösse geben, wenn wir das Ziel reduzierten.

Denn was wir in den Monaten vor dem Bergtermin hochtrabend zusammengeplant hatten, flösste uns nun auf einmal Respekt ein. Zu wenig waren wir im Hochgebirge gewesen, wussten ja kaum noch, was uns dort erwarten würde. Verunsichert waren wir daher, wie die Meteorologen, machten aber das Beste daraus, indem wir in einen Winkel der Alpen fuhren, in dem wir beide noch nie gewesen waren. So brachte uns der Zug nach Davos und der Daumen, vom Strassenrand vorbeifahrenden Autos entgegengestreckt, am Freitagabend schliesslich auf den Flüelapass. Kurz hinter der Passhöhe liessen wir uns absetzen und stiegen noch ein Stück hinauf, um ein Eck und zu einem ebenen Wiesenflecken, nahe eines kleinen Sees. Die Rucksäcke, gross und schwer, waren voll mit allem was man für fast alle Möglichkeiten einer zweieinhalbtägige Expedition braucht, bei der es darum geht, wechselhaftem Wetter das Beste abzuringen. Tatsächlich verdichteten sich die Wolken bedrohlich dunkel während wir das Zelt aufstellten und den Kocher in Betrieb nahmen. Es reichte aber gerade noch um die Tomatensosse zu erhitzen und mit der Polenta und ein paar hundert Gramm kleingeschnittenem Gruyère zu verrühren, um pünktlich zum Donnersignal mit dem Topf voll schmackhaftem Brei im Zelt verschwinden zu können. Später schoben wir Koch- und Essgeschirr unter der Vorzeltplane in die Spülmaschine hinaus und sanken von Regentrommeln und letztem sanften Donnerrollen eingelullt, in den tiefen Schlaf, wie man ihn so manches Mal im Gebirge geniesst.

Am nächsten Morgen sah es ganz gut aus: Staffeln kleiner, wenig hoher Wolken, die nur an den höheren Gipfeln hängen blieben, zogen über den Himmel, der dazwischen und darüber harmlos blau war. So packten wir das Seil und eine Auswahl Kletterzeug in den Rucksack und wanderten in der Morgenluft über das Steiglein zur Forcla Radönt. Von hier folgten wir dem Blockgrat in Richtung Piz Radönt, bis er sich schliesslich schärfte und wir uns anseilten. Die folgende Gratkletterei war verspielt, ein Genuss pur, überall möglich, überall fest, nirgends schwierig. Wir kletterten, legten Schlingen um Zacken und übersahen dabei beinahe ein oder zwei Bohrhaken, kraxelten, balancierten, jubilierten und erreichten gegen Zehn Uhr, viel zu früh, den Gipfel.

Weiter folgten wir dem Grat nach Westen hinab bis zu einem Abbruch mit solidem Eisenring an der Kante. Ob wir denn wirklich abseilen wollten, rief ich Felix zu, der sich eben eingehängt hatte? War da nicht etwas von „auch kletterbar, 2c“  in irgendeinem Buch oder Interneteintrag gestanden? Es machte doch gerade so Spass! Felix, den ich nun erreichte, lehnte sich hinaus und schaute. „Ja, stimmt, ich kletter weiter.“ Und schon verschwand er über die Kante hinab, auf der erst nur noch die Finger seiner Hände zu sehen und dann auch verschwunden waren. „Ok wenn, wenn ich nachkomme?“, rief ich, als das nachlaufende Seil meinen Fixpunkt erreichte. Es war ok und auch ich liess mich an grossen, festen Griffen und Tritten in die steile, hellrote Gneiswand hinab. Später erreichten wir über ein Band querend die Scharte vor den Radüner Köpfen und durch eine Verschneidung, über einen Grat und den östlichen, schliesslich den westlichen dieser beiden Gipfel.

Hier war es, halb zwölf, endlich soweit, dass wir uns guten Gewissens den Köstlichkeiten aus dem Essenssack zuwenden konnten. Die Wolkenstaffeln waren lichter und die Gipfel freier geworden. Die zwei anderen, die ausser uns heute den Piz Radönt überkletterten, kamen auch herauf und stiegen nach einer Pause gegen die Grialetschhütte ab. Uns aber schien der Tag noch lange und der Grat noch nicht zu ende. So folgten wir ihm weiter nach Westen, hinab in die folgende Scharte. Von dort wieder aufwärts wurden die Gratblöcke allerdings zunehmend kleiner und bald stiegen wir nur noch über einen Schuttrücken, an dessen höchstem Punkt die vierköpfige Steinmannfamilie des Radüner Rothorns zuhause ist. Wo der Wanderweg vom Pass auf das Schwarzhorn den Grat erreicht, deponierten wir die Rucksäcke mit Seil und Klettergeraffel, banden je eine Jacke um und steckten eine Gipfelschokolade in die Tasche. Die Wolken, die sich aus den morgendlichen Staffeln vereinzelt hatten, ballten sich in der Mittagswärme allmählich wieder zu quellenden Haufen und oben sassen wir erst einen kurzen Graupelschauer aus, ehe wir das Panorama genossen und dabei weitere Touren im für uns neuen Gebirgswinkel planten.

Beim Abstieg fielen ab und zu ein paar Tropfen, wie versprengte Herden, ohne Kraft, ohne Ziel. Als wir beim Zelt ankamen, war es aber länger trocken und machte den Anschein, als wolle es sich nun gründlicher sammeln. Diese Pause im Wettergeschehen genügte indessen für das Abendessen im Freien, eine Flasche Rosé auf die Tour und einen Spaziergang um den nahen See. Erst als wir im Schlafsack lagen, brach das gründlich gesammelte Gewitter los und wusch, das hörte man, die Töpfe diese Nacht noch sauberer. Auch leckte dann irgendwann unser altes, gut gedientes Zelt ein wenig.

Der andere Morgen war verhangen, auf der Zeltplane aber überwiegend still, und begann mit einer Unentschlossenheit darüber, was wir noch tun sollten. Klettern an den Klettergärten in der Umgebung des Passes? Auf das Weisshorn jenseits des Passes steigen? Mittags mussten wir den Bus nehmen. Wir machten so lange herum, dass es für das Weisshorn irgendwann zu spät war, bauten das Zelt ab und wanderten gegen die Passstrasse. Als wir ums Eck kamen blies feuchter, kühler Wind das Tal entlang und ich spürte wie kalt der Fels sein würde, wie ungelenk in all den Jacken und Pullovern das dennoch fröstelnde Klettern. Felix war schnell überzeugt. Nahe der Strasse deponierten wir erneut und stiegen schliesslich mit Rucksäcken, die so leicht waren dass sie uns empor hoben wie geräuschlose Rotoren, den jenseitigen Hang hinauf, sprangen hinter einer Kuppe katzenhaft über die grossen Blöcke eines Kares und erreichten den Südgrat des Weisshorns, dem wir bis auf den Gratgipfel 3020 m. folgten. Der Grat war ein Turnen über granitartige Stufen, an kleinen Kanten entlang, mal ein grosser Schritt, mal ein Stemmen zwischen Blöcken, dann wieder ein kräftiger Zug.

Der Wind, mal kühl, mal feucht, war im Steigen erfrischend, die Wolken zogen hoch und knapp über den Gipfeln dahin und wir blieben den ganzen Vormittag trocken. Am Nachmittag aber reisten wir im Prättigau in eine schwarze Regenwand hinein, glücklich über ein zwischen Gewittern gelungenes Wochenende, irgendwo in einem neuen Winkel der Alpen.

p.s. Dieses Mal war Felix der Fotograph.

Murgtal

Der Kartier-Sommer des Geologen beginnt in der Stille des Frühlings. Hier bin ich mir so lange selbst überlassen, bis der Alpsommer die Welt herauf bringt und mit ihr die Relation, die sich zuvor in der Wildnis fast verlor, wieder zu Recht rückt.

Im Murgtal komme ich mir bisweilen vor wie Gulliver im Reich der Riesen. Unterhalb der Felswände breiten sich Steinblöcke über den Talboden aus, zwischen denen ich wie eine Maus durch Spalten krieche oder mühsam um sie herumsteige. Sie sind wie Häuser, Hallen oder Türme, ohne Fenster und Türen, wie eine Stadt, die, von einer Flutwelle durcheinander gebracht, ihre Strassen verloren hat. Zwischen ihnen strömt oft Wasser von Bächen, die kein Bett zu haben scheinen und über die Brücken so selten sind, als bedürfe es eigentlich nur eines grossen Schrittes um hinüber zu gelangen. Für mich aber ist keiner von ihnen zu überspringen.

Fichten, Föhren und Arven, Erlen und Ebereschen, Alpenrosen und übermannshoher Farn überwuchern zu tausenden die grossdimensionierten Blöcke, wie Firn die Spalten eines Eisbruches überdeckt. Manchmal breche ich mit einem Bein durch Heidelbeergesträuch in eine überraschende Leere, aus der die Kühle verschütteter Gassen haucht. Dann bewahrt mich ein Fichtenjährling oder ein Föhrenzweig, an den ich mich rasch kralle, vor dem Spaltensturz in die Unterwelt. Das Labyrinth des grünen Eisbruches erscheint mir endlos und die Hitze darin drückend. Schweissüberströmt, pollenverklebt und voller Spinnweben, fluche ich mich hindurch und schöpfe doch Kraft aus der Wildnis.

Verstreut finden sich Alpen auf den Bachschuttkegeln der Seitentäler. Bachlaui, Mornen, Guflen. Noch ist es still auf ihren Triften. Im Mai treffe ich dort die Gämsen in Rudeln und auch einen Steinbock, einen alten Herrn mit riesengrossen Hörnern, der auf einem Buckel über mir steht, wie ein Fabelwesen, und sich dann mit einem Wiegen seines ungeheuer schweren Kopfes wortlos, gelassen abwendet um, über mir aufsteigend, langsam in die Höhe zu wachsen. Etwas weiter, liegt auf Schiefergeröll die Handschwinge eines Adlers, ein Trumm, eine einzelne Feder so lang wie mein ganzer Arm. Fast weckt sie Angst vor einem dunklen, drohenden Schattens über mir, der Maus.

So ist es Tag für Tag und ist doch von einem auf einen anderen plötzlich anders. Schon beim Herauffahren liegen Steine auf dem Strässchen und Kuhdung. Wo ich bisher hallend den leeren Hof der Alpe durchschritt, kläffen mir jetzt die Hunde nach, und wenig oberhalb kommt mir der Älpler entgegen. Ein junger Kerl in dunkelgrünen Gummistiefeln, einen dünnen, knorrigen Stumpen im Mund. Während wir aufeinander zugehen, mustern wir uns fünfzehn Schritte und zehn lange Sekunden lang. Unsere Blicke bohren förmlich, fragen: Was bist du für einer? Ein kurzer Gruss ist alles als unsere Schritte, die keiner von uns innehält, an der Mitte des Weges spiegelnd sich kreuzen und binnen Sekundenbruchteilen die Begegnung, alles Mustern, Bohren und unausgesprochene Fragen, abrupt vorüber ist. Er ist, stelle ich, Gulliver, befriedigt fest, sogar noch ein wenig kleiner als ich.

Nun ist es Sommer geworden im Murgtal. Schellengeläut hat das Wildwasserrauschen verdrängt, Rinder und Kühe weiden auf Guflen, auf Mornen, auf Bachlaui, die Bäche sind abgeschwollen und schmiegen sich in ihre Betten. Von Steinblock zu Steinblock überspringe ich sie, und das Land, wo immer es mir beliebt.

Frühjahrsreise

Eine Frühjahrstour hat viele Gesichter. Um ein Bergeck wechselt manchmal die Jahreszeiten und mit dem Wetter die Landschaft. Frühjahrstouren begegnen einem häufig anders als man sie geplant hat, sie sind stiller und länger. So auch kurz vor Ostern, vor und über meiner Haustür.

Nach dem Sichelchamm verbrachten wir die Nacht bei den Tscherler Ahore, hoch über dem Walensee und fern unter den Sternen. Ich lag dort unter dem Dach einer mächtigen Fichte und lauschte noch in der späten Dämmerung dem Gesang der Vögel. Erst irgendwann in der Dunkelheit merkte ich, dass auch sie verstummt waren. Nach und nach hatte jeder von ihnen einen letzten Träller gepfiffen, sich dann geplustert und den Kopf zwischen die Federn gesteckt, irgendwo auf einem Ast, vielleicht auch über mir, im selben Haus der mächtigen Fichte.

Unser Tag war lang gewesen. Über Casalta waren wir mit schwerem Gepäck, langsam aufgestiegen und später schlendernd über den Chnorrengrat zum Gipfel balanciert. Der Himmel war dabei meist bedeckt und es ging ein Wind, der empfindlich kalt war und am Grat in scharfen Böen blies. Zum Abend hatte es aber aufgeklart und der Walensee lag tief unter uns als Band, in dem sich auch im Schatten noch ein violettes Licht vom Abendhimmel spiegelte.

Die Nacht blieb still und klar bis die Vögel erwachten, die Dunkelheit der Dämmerung wich und wir aufbrachen. Die Birkhähne balzten um uns, mal näher, mal weiter weg und die Sonne überzog die Gipfel im Süden mit ihrem ersten Licht. Der Tag versprach viel. Kurz vor der Grathöhe der Niederi stiegen wir nach links auf die Grasbänder des Tscherler Raupfades, die uns in die Südwände leiteten, in die Welt der Gämsen, Steinböcke und längst verstorbenen Wildheuer.

Das Queren auf dem Raupfad war ein Kurven durch Runsen und um Rippen, stets einige Meter über dem Abbruch der Wand. Das Gras war vom grade erst weggetauten Schnee noch flach gedrückt und mit Erde überronnen und jeder Tritt darauf musste erst gewählt, dann gesetzt und noch vor Belastung entschieden oder verworfen werden. Als wir das wage, steile, noch nicht gewachsene Gras verlassen konnten, stiegen wir über feste, einfache Felsen hinauf und querten dann in einem Bogen weit nach links, um von dort die Wand besser in Augenschein nehmen zu können. Die Sonne war inzwischen zum Lichtspiel geworden. Mal heller, mal dunkler wurde es und mal klarer, mal verschwommener zeichnete sich auch die Wand vor uns ab, Nebel umflogen den Tristencholben.

Am Einstieg war der Fels noch warm von der morgendlichen Sonne, doch mit den Längen wurden die Nebel dichter, die Wand steiler und der Fels kälter. Wind kam auf. Aus der weiten, hohen Wand verschwanden wir in eine kleine Welt, in der es nur uns und steilen Fels gab. An grossen Griffen und Tritten stiegen wir nahe einer stumpfen Kante empor, wie kühne Eindringlinge an einer Festungsmauer, verschnauften auf Simsen und in Fensternischen und waren doch, während das Lichtspiel immer schwächer und das Grau immer dichter wurde, fern von jeglicher Welt.

Am Gipfel war Stille. Wir sassen wie auf einer kleinen Insel aus Steinen und Gras. Das dünne Steiglein, an das ich mich erinnerte, war unter nassem, sehr steilem Schnee verborgen, der unten über die Klippen abbrach. Vom Abseilhaken, an den ich mich ebenfalls erinnerte, war erst nichts zu finden. Auf der Nordseite des Gipfelfelsens gruben wir ihn schliesslich aus dem Schnee, fädelten das Seil hindurch und warfen die Enden in den Nebel hinaus, wie einen Anker in eine trübe See. Zweimaliges Abseilen brachte uns an den Fuss des Gipfelturms und weil uns der feuchte, sehr steile Schnee in der Südschlucht nicht geheuer war, wandten wir uns dem Rücken gegen die Rosenböden zu. Das Weiss, dass nun rundum vollkommen war, wurde manchmal blendend hell, dann wieder matt, als drehe jemand an einem stufenlosen Lichtschalter. Wir folgten den Markierungsstangen eines langsam in sich zusammensinkenden Winterwanderwegs bis zu jener Stelle, wo man nach Norden absteigen kann. Kugeln von etwas hellerem Weiss rollten von unseren Tritten weg durch das mattere Grau und verschwanden. Wir hielten nach rechts und kamen schliesslich in flacheres Gelände, in dem das Vorwärtsstapfen schwerer ging. Im tiefen nassen Schnee, blind und wie durch zähes Wasser schwimmend, mühten wir uns ostwärts, indem wir den Fuss des Hanges durch Ertasten der Neigungen beibehielten. Irgendwann trafen wir auf eine alte Schneeschuhspur, folgten ihr, stiegen auf und traten endlich, wie nach langer Überfahrt, ans Ufer des Schnees, auf den Pass der Niederi. Hier liessen wir uns auf dem trockenen Gras nieder, legten die nassen Garmaschen ab und tranken die letzten Schlucke Wasser.

Die Nebel bildeten eine tiefe Flucht, wenig über unseren Köpfen, als wir den Zickzack des Pfades hinabstiegen, weit hinab. Ab der mächtigen Fichte am Waldrand mit schwerem Gepäck. Jeder Schritt war ein Fallenlassen und ein dumpfes Auffangen, es wurde milder und grüner. Hinab und weiter hinab fielen wir Schritt für Schritt, hinab bis auf den Seeztalboden, der irritierend eben, uns auf einmal nicht mehr weiter fallen liess.

Aus der Nacht waren wir in den sonnigen Morgen gestiegen, über Grasbänder hoch in die Wände hinausgequert, waren von dort in die Stille der Wolkenburgen geklettert und hatten schliesslich durch ein grosses Nichts wieder zurückgefunden in einen milden Frühlingsabend, ins Tal.

„ei cool!“ – Von Berschis nach Sargans, obenrum

Es ist Mitte Januar und hat Schnee. Jetzt muss ich mich aufraffen und los auf eine erste Skitour der Saison. Doch wohin? Verbindungen für Züge und Busse im Internet geschaut, so vieles ist möglich… Warum nicht einfach von der Haustüre los? Dort ist zwar keine „offizielle“ Skitour aber Schnee, das entscheidende Kriterium, ist da.

Morgens liegt Berschis, wo ich derzeit wohne, im Nebel. Hier, auf etwa 450 Meter Meereshöhe, wo mein Nachbar ein Weinbauer ist und eifrige Gartenbesitzer Pälmchen hegen, bin ich auch nach gut einer Woche mit vierzig Zentimetern Schnee und meist Sonne noch der erste, der eine Skispur legt. Ob sie wohl auffällt? „Lueg do“, heisst es vielleicht am späten Vormittag, „einer ist mit den Ski los!“ Wohin der wohl wollte?

Die Spur schlängelt sich in den Wald, bald aus dem Nebel heraus und folgt dem Fahrweg nach Sennis. Auf der tief verschneiten Wegtrasse steigt sie den Südhang überm Seeztal hinauf und überwindet mit ihr die Waldfelswände. Und in den lichten Wäldern, zwischen den Baumgruppen der Alpweiden von Malun, steige ich an der Spitze meiner Spur durch eine stille, glänzende Welt.  Es ist berauschend schön und still. Von manchen Zweigen hängen Eiszapfen, in denen sich das Sonnenlicht zu Farben bricht, und zwischen den Bäumen hindurch öffnen sich immer wieder Blicke auf die Hohen Südwände von Fulfirst und Alvier. Auch sie, die gewöhnlich ihr Winterkleid rasch wieder abstreifen, sind noch tief verschneit. Die abgespaltenen Gauschla, vom Anstieg gegen „D´Muur“ schlank im Profil zu sehen, ist so vereist, dass sie an Kalenderbilder patagonischer Extremgipfel erinnert. Hier kommt jedenfalls hin, wer sich in Berschis der Spur anvertraut, ihr kilometerlang folgt und die Kurven nimmt, die ich ins weite Winterweiss schrieb. Ein Schild müsste man dort aufstellen, denke ich, auf dem „Ins Märchenland“ steht.

Mit dem weniger Werden der Bäume kommt Wind auf, Ostwind, wohl eine Art Bise und scharf, schneidend, Schneefahnem aufnehmend, Schneeströme um meine Beine treibend wie reissende Wasser, die manchmal so tief werden, dass sie mir wie mit kalten Nadeln bis übers Gesicht sprühen. Und sie erodieren den Schnee, fressen tiefe Rinne in die Osthänge und überschütten die Westhänge neu. Häufiger bricht meine Spur in zugewehte Löcher, mühsam wird es. Vielleicht doch besser kein lockendes Schild am Dorfrand…

Über Palfris erreiche ich die Skiroute auf den Tschuggen, lasse aber im Sturmwind, der den Rücken hinauf fast blank gefegt hat, den Gipfel rechts liegen und widme mich sogleich der Abfahrt. Zwischen den vielen Spuren einer Woche finden sich noch immer Inseln für stiebende Schwünge. Weiter unten bleibe ich öfter stehen und halte Ausschau nach einem Abzweig in die Waldränder zur Rechten. Schliesslich will ich nicht mit den Spuren bis nach Azmoos hinab, sondern nach Sargans an den Bahnhof. Die Spur, die ich irgendwann entdecke, ist nur von Fussgängern, und leider fehlt es ihr an Gefälle. Doch sie führt und entlässt mich schliesslich auf Wiesen mit nach unten sich verdichtenden Höfen, von wo aus der Fernbahnhof im Tälerdreieck bereits zu sehen ist.

Als ich zwischen den Höfen das dritte Mal die Zufahrtsstrasse quere, bleibe ich auf ihrer Talseite ratlos stehen. Im Hang unter mir erblicke ich auf den nächsten hundert Metern schon mindestens drei Zäune. Von rechts kommt ein Fahrweg mit hartgepresstem Schnee, der anscheinend zu einem Hof wenig unterhalb führt. Man sieht nicht, ob es eine Sackgasse ist, und zurück hiesse wieder aufsteigen müssen. Unschlüssig überlege ich noch hin und her wie es wohl weitergehen sollte, als zwei Kinder, wohl auf dem Nachhauseweg, den Fahrweg heraufgeschlendert kommen. Das Mädchen, sie ist die ältere, vielleicht sieben, vielleicht neun, bleibt stehen und mustert mich langsam vom Scheitel bis zu den Skispitzen. Als sie dort angelangt ist, entfährt ihr ein strahlendes „ei cool!“ Da bricht das Eis im stundenlangen Einzelgänger und ich traue mich zu fragen, ob denn nach einem Stück  des Fahrweges wieder Wiesen kämen, über die man ins Städtli hinabfahren könne. „Ja klar, geht super!“, ist die begeisterte Antwort. Und tatsächlich, hinter einer Wegbiegung und einem weiteren Hof gleite ich links zaunlos hinab und schliesslich hart an ein paar Reben vorbei bis in die Wohngebiete hinein, bis zwischen gebahnten Strassen, Gartenzäunen und Schneehaufen kein Platz mehr für die Ski zu finden und es zum Bahnhof nur noch ein Katzensprung ist.

Der Grünten im Allgäu

Jetzt, nach tagelangem Schneefall fast überall, vergisst man rasch, dass noch zum Jahreswechsel wenig winterliche Stimmung war. Der tief verschneite Wald, durch den mein Nachmittagsspaziergang heute führte, weckte die Erinnerung an eine kleine Tour vor einem Jahr, als der erste Schnee um dieselbe Zeit gekommen war. Und zwar ausgerechnet an jenem Tag, als ich den Freund, der im Oberbayrischen lebt, zu einer Tour auf halbem Wege traf.

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Es schneite. In Sonthofen und in Burgberg schippten die Leute die Gehwege und warfen Häufen auf, während Christoph und ich, vom Bahnhof kommend, an ihnen vorbeispazierten, dem Grünten zu. Ich war ohne Anspruch an das Ziel und weil das Wetter an diesem Samstag schlecht war, würden wir einfach sehen wie weit und wohin wir gingen. Hauptsache war, dass wir uns zusammengefunden hatten, um einen Tag lang draussen zu sein.

Im Wald, wo wir von der Strasse abzweigten, war bereits eine Spur und unsere Gespräche mussten nicht durch Routensuche unterbrochen werden. So wurde der Wald um uns steiler und der Schnee tiefer. Das pulvrige liebliche Weiss wurde auch deshalb tiefer, weil es weiter und immer weiter schneite. Auf der Veranda des geschlossenen Grüntenhauses hielten wir Mittagsrast und zogen dann, nun spurenlos, eine eigene Trasse ins grosse Weiss tretend, den Hang gegen den Grat hinauf. Dort standen wieder Bäume, die von Schnee und Raureif vollkommen erstarrt waren, die unseren Blicken aber wieder so lange einen Halt gaben, bis die Häuser und Antennen der Sendestation aus den schneienden Nebeln auftauchten. Der Wegweisser zum Übelhorn, hier wegen einer grossen, zu Ehren der Gefallenen errichteten Steinsäule stets nur als Jägerdenkmal benannt, führte unter der Seilbahn hindurch ins Nichts eines steilen Nordhanges, von dem nur zehn Quadratmeter gepressten Schnees zu sehen waren. Schneebrettgefahr? Unsere Alternativroute leitete uns schliesslich über das Dach des Hauses, das beidseits über angehäuften Schnee erreichbar war, direkt unter den Gitterturm der Funkantenne und weiter tastend den schmalen Grat entlang, der von dort wie ein dünner Steg in den Nebel zog. Rundum vollkommene Weisse. Christoph, der voranging, meldete: „Hier ist eine Felsstufe“. Sie liess sich einfach abklettern. Später brach eine Wechte unter seinem rechtem Fuss und verschwand lautlos, zwanzig Meter weiter nochmal dasselbe. Es zeigte uns immerhin, dass wir noch dem Grat folgten. Dieser wurde alsbald wieder breiter und Bäume tauchten auf, dann Felsen, die aus dem Schnee wie Klippen aus dem Sand einer wandernden Düne schauten. Das alles war aber auch still, fast windstill, denn obwohl es hier vor kurzem noch, wie wohl fast immer bei schlechtem Wetter, stürmte, so fiel jetzt auch am Gipfel einfach nur noch Schnee durch Nebel.

Im Abstieg war der Schnee wunderbar. Federleicht, Millionen kleinster Sterntaler, die der Welt, die uns geschenkt wurden. Sie wirbelten um uns wie Glücksgefühle. Und immer mehr von ihnen fielen und segelten herab auf die weichen, weissen Betten der Lichtungen zwischen den Tannen, auf die Hauben der Baumstümpfe, die Geländer laubloser Äste im Bergwald. Auf einmal brach plötzlich die Sonne durch ein kleines, zufälliges Wolkenloch irgendwo anders am Himmel und erhellte die eingewinterte Welt ganz zauberhaft, denn plötzlich fingen für Minuten, in denen wir gebannt stehen blieben, die den Luftraum füllenden weissen Flocken zu leuchten an.

Dann nahmen wir noch den Weg durch die Starzlachklamm. Felswände umgaben uns hier und Wasserrauschen. Die Stege führten unter Reihen scharfer, langer Eiszapfen hindurch, zwischen denen wir uns duckend und windend vorwärts arbeiteten, kleine brachen und wie Buben im Mund zerkauten. An der Eingangshütte sassen wir in einem Unterstand und verzehrten die wieder herabgetragene Gipfelschokolade. Es schneite erneut dichter, und ich hatte das Gefühl, auch friedlicher denn je. Wir verliessen den Wald zur Dämmerung der Nacht und spazierten hinaus zu den Menschen, die schippten, Häufen aufwarfen, warme Lichter in den Stuben entzündeten, welche dann durch die Fenster zu uns heraus leuchteten. Eine friedliche, eine verspätete Weihnachtstour.