Das Leben ist kurz

Sommer ists, hört‘ ich unlängst sagen. Wir machen uns auf, ihn anzuschauen. Wie wärs mal wieder mit Klettern? © Annette Frommherz Grimsel klettern Mittagfluh 06 2015 (16)

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Lange ist es her seit dem letzten Achterknoten. Zu lange habe ich keinen warmen Felsen mehr erklettert. Die Tage sind jetzt am längsten, die Nächte lau und nur am Gotthard Stau. Uns zieht es Richtung Grimsel. In Meiringen, wo die Menschen schon viel gemächlicher vor sich hinleben, speisen wir in der Abendsonne. Zusammen mit der Rechnung werden uns zwei Glückskekse serviert. Mein Liebster liest: „Du wirst demnächst sehr stolz auf jemanden in deiner Nähe sein“, und bei mir steht die Zukunftsdeutung „Herausforderungen können Sie gelassen annehmen“. Wir werden sehen. Beim Eindunkeln parkieren wir den Lieferwagen etwas abseits im Grünen und nächtigen auf der Matratze mit Blick auf den sich füllenden Mond und auf Berggipfel, die sich schwarz abzeichnen.
Ich liege länger wach und horche nach den Geräuschen der Nacht. Ein Vogel ruft in die Dunkelheit. Es rauscht vom nahen Bach, dessen Wasser eilig aus dem Felsen in die Aare fliesst und noch einen weiten Weg vor sich hat. Während ich dem Wasser lausche, denke ich darüber nach, was ich in meinem Leben noch alles erreichen und erleben möchte. Die Optionen sind zahlreich. Ob die Jahre dafür reichen werden? Immer auf dem Sprung sein. Sich nicht auf morgen vertrösten lassen. Alles nur für einen kurzen Augenblick. Ist weniger mehr? Die Antwort finde ich nicht, ich schlafe vorher ein.
Am nächsten Morgen essen wir im Freien vom Sonntagszopf und trinken den Kaffee schwarz, weil der Rahm in der Wärme flockig geworden ist. Sogar ein paar wilde Erdbeeren verwöhnen unsere Gaumen. Die Vögel trällern ihr Konzert von den Bäumen. Sie kennen keine Ungeduld und streben nicht nach Höherem. Wenn sie die Würmer aus der Erde ziehen und morgens und abends ihr Lied singen, haben sie ihr Tagewerk vollbracht. Alles hat seine Zeit. Auch das Klettern, auf das wir uns nun freuen.
Gegen den Grimsel reckt sich dreieckig die Mittagfluh, ein Granitklotz mit einer markanten Präsenz. Wir steigen am späten Vormittag in die Südkante ein, die uns nach zehn Seillängen in luftige Höhen bringen wird. Weder die Klettertechnik noch die Höhenangst habe ich verlernt, aber es ist immerhin die leichteste Route an diesem Granitfelsen. Neben uns in der Nachbar-Route parlieren lautstark drei Ticinesen; es hallt in der Südwand, die nun ganz in der Sonne liegt. Ich rede mir ein, dass immer ein guter Griff in Armlänge sein muss, sonst wäre die Route strenger bewertet. Weit unten auf der Strasse preschen die Motorräder wie winzige Parasiten Richtung Grimselpass hinauf. Was sind wir doch alle unbedeutend klein auf dieser grossen Erde.

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Am gleichen Abend erreicht mich die traurige Nachricht, ein Kollege sei in den Bergen abgestürzt. Er war ein guter, ein erfahrener Berggänger. Seine Frau hat abends vergeblich auf ihn gewartet. Das Leben ist kurz; es ist immer viel zu kurz.

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