Der sechste Sinn

Beim Tier wird es Instinkt genannt, beim Menschen nenne ich es die innere Stimme. Was es auch gewesen sein mag: Es hat uns richtig handeln lassen. © Annette Frommherz Bristen am Berg 06 2014 (20)

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Wer als Bergsteiger alt werden will, muss umkehren können. Oder zumindest eine Alternative im Rucksack bereithalten. Wir wollten Freunde in der Etzlihütte treffen, die auf einer anspruchsvollen Zweitageswanderung dort nächtigen wollten. Mein Pendant erinnerte sich an den Bristen, ein mächtig kantiger Dreitausender, auf den könnten wir doch, meinte er, und ich nickte – einfach in die Berge, nichts wie weg. Eine unruhige Zeit lag hinter mir, und mein Liebster stand in seinem Betrieb mitten in der Hochsaison. Die mentalen Voraussetzungen waren also wie geschaffen, um ein Bergprojekt scheitern zu lassen. Aber nicht alleine dies, das wäre zu einfach erklärt. Es gab noch andere Nebeneffekte, welche für unser Vorhaben kein gutes Omen bedeuteten: die erste Hochtour dieser Saison, die Kondition noch kaum geschaffen für eine Zehn-Stunden-Tour, auf den Nachmittag waren lokale Gewitter angesagt, und der Kopf war alles andere als frei und bereit. Alles in allem keine geeigneten Voraussetzungen für diese Tour. Über fünf Stunden bis zum Gipfel, eine Hundertmeter-Wand in brüchigem Fels klettern, ein langer Grat über teils loses Gestein. Mir sträubten sich die Nackenhaare, als wir uns tags zuvor noch schnell eine Übersicht verschaffen wollten. Noch schnell geht in den Bergen nicht. Noch schnell ist leichtsinnig und kann gefährlich werden. Das wussten wir. Eigentlich.
Wir hatten ausgemacht, uns vor Ort zu entscheiden. Als wir beim Aufstieg zur Hütte aufblickten, standen unsere Freunde da oben und winkten uns zu. Sie waren von Erstfeld über Amsteg und Bristen bis hierhin gelaufen, und am nächsten Morgen würden sie weiterziehen über Mittelplatten nach Sedrun und über den Oberalppass bis hinunter nach Andermatt, diese Verrückten.
Bei Tagesanbruch zogen wir los. Fünf Uhr in der Früh, es war der zweitlängste Tag dieses Jahres. Zwei Auerhühner flatterten im Morgentau erstaunt von dannen, als wir Richtung Rossbodenstock liefen. Über das Steingrätli hinweg sah es ziemlich steil aus, meine Schritte waren auch schon trittfester auf solch unsicherem Grund. Vor dem ersten abschüssigen Schneefeld blieb ich stehen und schaute hinüber zur Chlüserlücke, die wir durch ein Couloir erreichen würden. Dann erst würden wir vor der Kletterwand stehen, der Grat noch unerreicht. Es ging nicht. Ich sagte Nein.
Mein Liebster fand sich damit ab. Auch er war sich nicht sicher gewesen. Steigeisen, Klettergurt und Seil trugen wir für den Rest des Tages ungebraucht, aber tapfer über steile und weniger steile Schneefelder und Granitgestein. Wir fanden entlang des Bristen Kristalle, die im Sonnenlicht um die Wette flunkerten, und staunten über die Schafherde, die weiter unten so flink über die Steinplatten sprang. Immer mal wieder schauten wir hoch zu diesem Gipfel, den wir nicht erreichen würden; sie mit etwas weniger Wehmut als er. Beim Lauchergrat zog uns die Weite in den Bann. Das Maderanertal lag vor uns, nebenan das Reusstal, durch das sich die Reuss in den Urnersee ergibt. Weit unten in Amsteg fuhren die winzigen Blechkisten weiter nach Göschenen, direkt in den Berg hinein, und würden erst im Tessin wieder ausgespuckt.
Beim Bristensee vor der Hütte schlürften wir lauwarmen, gezuckerten Kaffee, der uns gereicht wurde, bevor wir die tausenddreihundert Höhenmeter hinab unter die Füsse nahmen. Die Urner Hänge sind ja so steil, dass die Bergfamilien aufpassen müssen, dass ihnen die Kinder nicht den Hang hinunterpurzeln. Sagt mein Liebster.
Eine Nase voll Bergwiese, eine Prise voll Urnervolk, und um drei Blasen und eine Erfahrung reicher, merke ich mir: Lasse den sechsten Sinn nie aus den Augen! Verschwende jede Gelegenheit damit, dein Befinden zu prüfen. Trage den Mut immer in deiner Hosentasche, aber traue in erster Linie deinem Gefühl. Auch wenn dir letztlich der Gipfelkuss entgeht.

3 Gedanken zu „Der sechste Sinn

  1. Sehr schön, Annette, und danke, dass du wieder dabei bist. Gipfelküsse kann man wiederholen, bei mir hat’s einmal zwanzig Jahre gedauert. Der Bristenstock wird das schon erdauern, auch wenn man da unten hindurchbohrt. Und du bist ja auch noch jung…

  2. Sehr schöner Text, liebe Annette!
    Es ist hilfreich, wenn der Instinkt und die Vernunft von uns Menschen noch so gut funktioniert. Und eben: Gipfelküsse gibts noch genug 😉
    Danke, dass ihr euch in der Früh sooo liislig aus den Federn gemacht habt, wir schliefen noch eine ganze Weile…
    Bis zur nächsten Tour, liebe Grüsse Anny

  3. Danke für den Text mit den Blechkisten und dem Mut in den Hosentaschen! Gut gemacht und schön geschrieben!

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