Die Linie unter dem Blau des Himmels

Tessin – das perfekte Wanderland. Wenn es nur nicht so steil wäre … Oder so exponiert wie die Via alta della Verzasca. Was solls, man kann ja auch den schönen Bildband zur Hand nehmen und – wie unser Rezensent schreibt – «sich vorstellen, man wäre jetzt dort».

Via alta della Verzasca

„Wenn du oben auf dem Gipfel bist, überkommt dich ein angenehmes und leichtes Gefühl der wiedererlangten Freiheit, das dich für all die grossen und weniger grossen Anstrengungen des Weges belohnt. Auf dem Gipfel wird der Himmel grösser, er umhüllt dich voll und ganz.
Du kannst in die Weite schauen, es gibt keine Hindernisse, keine Grenzen mehr, nur die deiner Fantasie. Der Horizont ist unendlich. Dein Blick verliert sich in einem Gefüge von Flächen und Farben, in vertrauten Formen und Profilen von Bergketten, die ineinander verlaufen, je weiter weg sie sind. Nun kannst du nur noch deiner Einbildungskraft freien Lauf lassen und dich darin austoben, hinter dem Horizont neue, wenn nicht gar bessere Welten aufzubauen.“

Wer möchte da nicht mit Romano Venziani auf einem Gipfel im Tessin sitzen und in die Weite schauen, auf den zurückgelegten Weg und auf den, der noch vor einem liegt. Und letzteren gibt es ja immer noch, bis wir auf dem letzten Gipfel angekommen sind. Dann wartet noch der letzte Abstieg, ausser wir blieben oben.

Oben bleiben können wir aber auf der Weitwanderung, die Romano Venziani zusammen mit dem Fotografen Roberto Buzzini in einem grossartigen, 272 seitigen und mit 450 meist farbigen Fotos reichhaltig bebilderten Buch vorstellt: die Via alta della Verzasca, die Gipfel-Grat-Überschreitung der Bergkette, welche das Verzascatal vom untersten Abschnitt der Leventina und von der Riviera trennt.

Die Val Verzasca ist die geschlossenste landschaftliche Einheit des Tessins. Zwei schroffe Bergketten erheben sich als lückenlose Schranken gegen die parallel verlaufenden Täler der Flüsse Maggia und Ticino. Die Val Verzasca ist der Inbegriff des Ticino granitico. Doch Granit ist für diejenigen, die dort arbeiten und leben mussten (und müssen), ein hartes Pflaster. 1866 grasten 7400 Geissen auf den Alpweiden der Val Verzasca, 1980 taten es noch 600. Wie bedeutend einmal die Alpwirtschaft war, zeigen die grossen Ställe der Alp Mazèr auf 2100 m, die unzähligen Steintreppen von dort in die Val d’Agro hinunter: Jeder Meter wurde in die jähe Talflanke gebaut, Stein auf Stein. Ebenso eindrücklich sind die kleinen, höchstens anderthalb Meter hohen Gebäude auf der Alpe dell’Efra und bei der Capanna Efra: Sie sind an den Hang gebaut, haben ein Giebeldach und einen niedrigen Eingang – wie Steinhäuser für Zwerge. Es sind sogenannte fiadairöi, waren Kühlräume für die Milch, da im Innern an der felsigen Stirnseite dauernd kühle Luft oder gar etwas Wasser herabströmt. Die Capanna Efra ihrerseits ist das Werk der 1983 gegründeten Società Escursionistica Verzaschese (SEV). Die SEV führte am 2. Juli 1989 einen „Giornata delle Cime“ durch und deponierte auf Gipfeln und Pässen blaue Gamellen als Buchbehälter.

Ein Ziel der SEV war es, mit dem Um- und Wiederaufbau von Alp- zu Berghütten sowie der Wiederherstellung alter und dem Bau neuer Pfade eine durchgehende Route von Gordola am Lago Maggiore über die ganze, schroffe Bergkette zwischen den Flüssen Verzasca und Ticino bis zur Capanna und zum Pizzo Barone zu erstellen. Nun existiert diese Via alta – vielleicht der schönste, vielleicht auch der schwierigste Höhenweg des Tessins. Ganz sicher aber ein unvergessliches Schreiten und Kraxeln von Gipfel zu Gipfel, von Grat zu Grat, von Stufe zu Stufe, von Alp zu Alp.

Wer die Via alta della Verzasca unter die Füsse nehmen will, sollte sie auch in die Hand nehmen (oder auch nur das): mit dem Bildband von Roberto Buzzini und Romano Venziani. Ein Vergnügen, die Bilder anzuschauen, die Texte zu lesen. Sich vorzustellen, man wäre jetzt dort, man sähe diese weite, grasig-steinige Welt mit eigenen Augen, man benützte die alten, genial erbauten Bergbauernpfade, man käme an den Alphütten vorbei, man sässe auf einem Gipfel, man schritte über diese Linie unter dem Blau des Himmels.

Roberto Buzzini (fotografie), Romano Venziani (testi): Sotto la linea dell’azzuro/Die Linie unter dem Blau des Himmels – La Via alta della Verzasca. Herausgegeben zum 30. Jahrestag der Gründung der Società Escursionistica Verzaschese. Edizioni SEV, 2013. Vertrieb durch Salvioni Edizioni, Bellinzona. Fr. 50.- www.salvioni.ch, www.robertobuzzini.com.

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