Die Schlange

Eine Begegnung am Fuss der Wand. Vor lauter Freude über die kleine Schlange vergessen wir fast das Klettern.

Ich bin schon beim erste Haken, als meine Partnerin ruft: «Komm nochmals herunter, das ist eine kleine Schlange.»

In Zeitlupe windet sich das Reptil durch Schotter und Laub, grau gemustert, einen halben Zentimeter dick und fast zwanzig lang, der Kopf dunkel gefärbt. Ein mikroskopisches Zünglein tastet sich durch die winzige Welt dieses einsamen Wesens. Ein Wunder, dass es überlebt hat an diesem Ort, an dem oft ziemlich Betrieb herrscht, die Leute nicht immer darauf achten, was da kreucht und fleucht. Was ist es wohl? Auch die jungen Kletterer, die wir fragen, wissen es nicht. Wohl am ehesten eine Kreuzotter. So winzig und schon halb in Winterstarre wird sie uns bestimmt nicht beissen. Wir haben keine Angst vor Schlangen. Hier auf der Galerie haben wir auch schon junge Ringelnattern gesichtet, die kennen wir. Das ist dieses kleine Wesen wohl nicht, die gelbe Schuppe am Kopf fehlt. Eine Aspisviper? Wohl eher selten in der Gegend.

Zwischen den Seillängen beobachten wir unsern neuen Freund oder unsere Freundin, wie er oder sie verschwindet, wieder auftaucht in einem Polster von feinem Klee. Diese Ruhe, diese Gelassenheit. Die fehlt uns. Ein deutscher Kletterer fällt uns ein, der ein Buch veröffentlicht hatte mit Tipps, wie man die persönliche Klettertechnik verbessern könnte. Einer lautete: Stell dir vor, du bist ein Tier. Ein Affe, eine Eidechse oder Schlange zum Beispiel, ja, das stand in dem Buch. Per Zufall kam dieser Kletterautor einmal auf die Galerie, alles schaute zu, wie er eine schwere Stelle versuchte, sich abmühte. Wir munterten ihn auf, riefen: «Stell dir vor, du bist eine Schlange!» Fies eigentlich, aber schliesslich schaffte er die Stelle, als Schlange, Eichhörnchen, Schwalbe oder was immer.

Mit der Zeit verlieren wir unser Reptil aus den Augen. Wir hoffen, es überlebe den Winter und begegne uns im nächsten Frühling wieder, grösser und schneller noch. Gebt acht auf der Galerie, liebe Kletterfreunde und -freundinnen. Schaut auch mal nach unten, nicht nur nach oben.

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