Die Stimme der Geliebten

Die Wirklichkeit überholt manchmal die Fiktion. Kann sein, dass man sich plötzlich real in einer Felswand an kleinen Griffe hängend, wie in einem literarischen Werk fühlt. Zum Beispiel in Ludwig Hohls «Bergfahrt».

Ludwig Hohl als Kletterer
Ludwig Hohl als Kletterer

«Und als er in der unendlichen Vielfältigkeit der Felsenwelt in allen Richtungen ohne Hoffnung nach Hilfe schaute – da kam die Hilfe. Sie kam von seiner Freundin […] Das war die Erlösung.» Ich lüge nicht – mir ist es kürzlich so ergangen und ich habe in derselben Sekunde, als ich die Stimme hörte, an diese Stelle in Ludwig Hohls Erzählung gedacht. Und wie in der Geschichte, erlebte ich es auch: «Das Folgende ging sehr leicht vonstatten …»
Ja gut, so leicht war es doch auch nicht, aber es ging, es ging (6b+). Der Tag, prächtig, unten Nebel, hier Sonne, ein bisschen kühl der Wind, der die Wand entlangstreicht. Die Route kenne ich. Doch schon der erste Aufschwung, sonst problemlos, warf mich beinahe ab. Irgend etwas habe ich falsch gemacht, vielleicht einen Tritt vergessen, den man hoch antreten muss. Jedenfalls klammerte ich mich ziemlich verzweifelt an kleine Griffe, bis ich schliesslich vom Fleck kam. Und dann kam ja erst die Schlüsselstelle. Ein weiter, sehr weiter Zug, dann rechts mit zwei Fingern eine kleine Felszacke fixieren und links einhängen und dann Zangengriff und so weiter und so fort. Ich wusste, ich schaffe das niemals, hatte mich unten schon verausgabt und die Moral war in den Hosen.
Doch dann die Stimme. Wie in Hohls «Bergfahrt», als sein Protagonist in verzweifelter Lage ohne Hoffnung in einer Felswand hängt. Wie vom Himmel erreicht ihn die Stimme, «nah, ganz ruhig und warm». Er kann sich retten – vorläufig jedenfalls – «aber seine Geliebte, die ihn gerettet hatte, war nicht mehr da». Es war nur eine Halluzination, in der sie zu ihm gesprochen hatte.
Bei mir aber ist die Geliebte da, real unten an der Wand, sichert und ruft «Allez! Pack an! Du schaffst es.»
Ich hab’s geschafft. Und ich bin sicher, es war ihre Stimme, die mir die Kraft gegeben hat, den Elan und den Mut, zuzupacken, nicht loszulassen, ruhig auf die kleinen Tritte zu stehen, den Haken zu klippen und weiter zum Zangengriff und zur kleinen Zweifingerschuppe und zur Umlenkung. Noch bevor ich sie erreiche, weiss ich schon: Das gibt wiedermal einen Text. La realité dépasse la fiction.

Gertrud Luder
Gertrud Luder

Übrigens: Ludwig Hohls Freundin hiess Gertrud Luder, sie war mit ihm aus Zürich nach Frankreich abgehauen, eine starke Bergsteigerin, die ihm auf seinen Gewaltstouren im Dauphiné klaglos folgte. Auch an jenem Augusttag 1925, als sie zusammen über eine steile Wand vom Col de la Pilatte Occidental gegen Süden abzusteigen versuchten und in eine prekäre Lage gerieten – er hatte seinen Pickel verloren. In Wirklichkeit war sie also bei ihm und sie hatte schliesslich die rettende Idee. «Da rief mir T. ob ich nicht könne ein Stück des Seiles nur abschneiden, denn wie wollten wir ohne Seil den Gletscher passieren? Auf diesen Gedanken war ich des Pickelverlustes wegen nicht selber gekommen.»
In der Erzählung «Bergfahrt» hat er sie in die Fiktion verbannt – in der Wirklichkeit hat er sie bald darauf verlassen. Sie kehrte zurück nach Zürich, war als Sprach- und Musiklehrerin tätig. Am 30. Juni 1946 stürzte sie aus rätselhaften Gründen auf einer leichten Wanderung am Nüenchamm zu Tode.
Wir sitzen auf Steinen an der Sonne, schauen hinüber zum verschneiten Nüenchamm, denken an den Dichter Hohl, an seine verlassene und unglückliche Freundin und all die seltsamen und tragischen Schicksale, die uns in den Bergen schon begegnet sind.

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