Dürrspitz

Die kleine Skitour zum Jahresbeginn wird zur Reise in die Vergangenheit. Unverhoffte Begegnungen im Jugendland.

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Gibswil ist nicht mehr Gibswil. Hier stand ich als kleiner Bub, schaute den Dampflokomotiven zu und einmal hob mich der Heizer hinauf und ich durfte ins Feuer schauen. So stellte ich mir die Hölle vor. Heute schaue ich nach dem Aussteigen aus dem Thurbo irritiert um mich: Wo ist der Bahnübergang, über den wir früher ins freie Feld jenseits der Geleise gelangten. Zum Beispiel als Erstklässler, als wir im tiefsten Winter auf die Oberegg stapften. Hansruedi und ich auf unserer ersten «Bergtour» – der ersten von unendlich vielen. Verschwunden. Verschwunden so vieles hier, die Fabrik, die «Bündnerstube», der Schlittel- und Skihang über dem Dorf, die Kiesgrube, die Linde auf dem Böl. Dafür ein unübersichtliches Gewucher von Häusern und Häuschen. Aus dem Fabrikdorf ist ein Schlafdorf geworden, mit S-Bahn-Anschluss.
Wir schultern die Ski. Dann halt Richtung Rad und auf der Strasse zum Lehberg hoch. Die gibt’s noch. Dort oben dann auf eine Spur, ziemlich steil und zum Teil von Schneeschuhen zerstampft. So ist’s hat. Es gibt viele Arten, sich im Schnee zu tummeln und kein Recht auf die reine Spur. Früher waren wir die einzigen auf diesen Hängen, mit Vaters alten Eschenski und noch echten, abgewetzten Seehundsfellen. Der Dürrspitz war sicher meine erste Skitour. Seit Jahren habe ich ihn mir wieder vorgenommen, ist ja so nah und so lawinensicher und die Hänge sind so schön und steil. Und mit OeV gut erreichbar. Mit den Stöcken spüre ich eine Kruste auf dem tiefen Pulverschnee, der auch schon tüchtig verfahren ist. Die genussvolle Abfahrt wird es nicht werden.
Auf einer andern Spur fellt bedächtig ein älterer Herr bergan, kennen wir uns? Ja klar, auch nach fünfzig Jahren noch. Erinnerung an wilde Skitouren mit Biwak, an grosse Klettertouren, Bockmattli, Salbitschijen, Calanques. Irgendwann ein Bruch, und irgendwie schwingt das noch immer nach, in den wenigen Sätzen, die wir tauschen. Mach’s gut, e guets Nöis, gueti Ziit.
Die Schweizerfahne auf der Oberegg ist nur noch ein Fetzen, selbst das Kreuz ist weg. Erinnerung an Noldi und die Skihütte, wo wir jeweils einkehrten, auf unseren Dürrspitztouren, Punsch tranken oder Veltliner und jassten. Offensichtlich hat niemand mehr die Verantwortung für die Fahne übernommen – irgendwann werden wohl die zahlreichen SVP-ler der Gegend eine knallige Schweizerfahne made in China aufziehen.
Am Schlusshang die nächsten Bekannten von einst: Pfadifreund Walter mit seiner Frau. Auch mit ihnen ein paar Worte gewechselt. Ein gutes Neues gewünscht. Ich denke, nun fehlt nur noch der Hansruedi K., mit dem ich wohl dutzendemale hier hochgefellt bin damals – wer steht auf dem Gipfel? Es ist, als hätten wir uns alle verabredet, wir alten Herren. Als hätte uns an diesem Neujahr eine unbestimmte Sehnsucht gepackt. Aber es ist ja doch nur ein grosser Zufall – und das Prachtswetter und der seltene Schnee.
Inzwischen haben steigende Nebel die Sicht ins Tal verschluckt – macht nichts. Das Bild von Gibswil in meinem Kopf ist ohnehin ein anderes, es ist das unvergesslich, das Jugendland. Himmel und Hölle.
Am Schluss nach eher schwieriger Abfahrt entdecke ich dann doch noch den alten Bahnübergang, der zwar keiner mehr ist, aber doch noch von einigen benutzt wird – alten Gibswilern wie ich vielleicht.

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