Fakir Trip

Klettern wie ein Gedicht, klettern wie das Begehen, Begreifen einer Skulptur. Vielleicht Kunst, vielleicht Nonsense. Oder die Wiederkehr des immer Gleichen, frei Nietzsche.

Ich weiss genau, wie diese Stelle zu klettern ist. Es ist wie ein Gedicht, das ich vor Jahren auswendig gelernt habe. Fuss rechts sehr hoch auf eine Leiste, linke Hand auf einem seichten Aufleger, rechte Hand an eine schmale Leiste gekrallt, links antreten und dann mit der Rechten dynamisch hochschnellen zu einer Zacke, die ich mit drei Fingerspitzen fassen kann, dann links hoch eine Leiste für den Fuss suchen. Und so weiter. Die Stelle ist in meinem Kopf eingebrannt, unauslöschlich ins Langzeitgedächtnis wie gewisse Kindheitserinnerungen, die man im Alter immer deutlicher vor sich sieht. Ja, ja, der Fakir Trip. Heinz sagte mal, man sollte ihn nie als letzte Route klettern, es brauche da einfach noch ein bisschen Reserve. Zum Einhängen vor allem, sich mit einer Hand an diese winzigen Zacke klammernd, ist das wirklich kein Schleck. Aber dahin komme ich gar nicht, ich zögere und Zögern verträgt es hier nicht, die Spannung ist weg und die Zacke meilenhoch entfernt. Ich suche sogar links nach einem Tritt, in höchster Verzweiflung, aber eigentlich weiss ich schon, da ist nichts, das reicht nur zum kurzen Antreten, da ist ja auch ein weisser Punkt hingetupft, der sagt: tritt hier an. So wie das Fläschchen in Alice’s Wunderland sagt: trink mich. Na gut, ich trinke nicht und trete nicht, ich hänge. Zu viel Kraft verbraucht, weil links am Gürtel keine Expressen mehr baumelten, und zum Umhängen hing ich bloss an zwei Fingern und tänzelte nervös auf einem schmalen Band herum. Jetzt wären Fakirkünste gefragt, aber die gehen mir nun definitiv ab. Nomen non est omen.

Eine Route wie den Fakir Trip habe ich mal als eine Art begehbarer Skulptur beschrieben. Mikroformen des Gebirges, Falten und Verwerfungen und Überschiebungen und die winzige Zacke wird zum Matterhorn. Eine Skulptur nicht nur zum Anschauen, sondern zum Begreifen im wahren Sinn des Wortes. Betreten, begreifen. Moderne Skulpteure wünschen sich doch, dass Menschen ihre Werke nicht nur beschauen, sondern betasten, beschnuppern, spüren, fühlen, sich anschmiegen. Klettern bietet all das und noch mehr.

Aber diese Skulptur ist nicht Menschenwerk – was denn sonst? Darüber gehen die Meinungen auseinander, lassen wir das. Die Haken, die da stecken, sind jedenfalls nicht durch höhere Macht gesetzt, sondern von den Glarner Gebründern R+U Aebli, lese ich in einem alten Führerwerk, in dem noch die Namen der Erschliesser oder Entdecker oder Einrichter oder Erstbegeher verzeichnet sind. Wenigstens die Nachnamen. Neuere Topobücher ersparen sich diese offenbar überflüssige Information. Hier könnte man ins Sinnieren kommen über die Begriffe: Was ist Entdeckung, was ist Erfindung, wem gebührt die Ehre. Oder über die Geschichte der Führerliteratur im modernen Klettersport.

Aber ich hänge ja noch immer am Haken und stecke die Hände ins Magnesiasäcklein und das Minimatterhorn rückt nicht näher. Lassen wir das. Eine Woche lang habe ich gelitten, gejammert, dann sind wir wiedergekommen und ich habe meine Expressen am Gürtel schön sortiert und in einem Schwung den Zacken erreicht und die Umlenkung wie eh und je und die Welt ist wieder in Ordnung. Wenigstens hier auf der Galerie, aber sonst? Wir wissen ja, vergessen wir das für ein paar Minuten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert