Hüttenzauber

Le Gardien – das war die Zeitschrift der Schweizer Hüttenwarte. Erscheint ab heute nur noch online. Inklusive den Text, den ich noch fürs Gedruckte geliefert hatte. Zum Nulltarif. Hier desgleichen für die Leserinnen und Leser von bergliteratur.ch.

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Es war ein wolkenloser erster August vor vielen Jahren. Wir vier jungen Bergsteiger kehrten aus einer kleinen Nordwand zurück zur Hütte, erschöpft und mächtig stolz. Die Terrasse war überfüllt mit Wandervolk. Wir waren hungrig und brachten ein Paket Spaghetti in die Küche. Als Mitglieder der SAC-Jugend dachten wir, Suppe oder Teigwaren zum Kochen abzugeben gehöre zum Grundrecht der alpinen Hüttenkultur. Die Spagetti kamen auf den Tisch, verkocht und verklebt. Peter – heute ein erfolgreicher Architekt und Politiker – beklagte sich lautstark über die Kochkünste des überforderten Küchenteams. Da trat Hüttenwart G., ein Bündner Rauhbein, an unsern Tisch: «Verschwindet aus meiner Hütte! Und zwar sofort und auf Nimmerwiedersehen!» Wir fanden schliesslich im Tal Unterkunft bei italienischen Bauarbeitern in einer Baracke – und das an unserem Nationalfeiertag.
G. gehörte zu den gefürchteten Hüttenkönigen, die damals in den alpinen Unterkünften regierten. Seine Grobheit war legendär, übertroffen nur noch von seinem Kollegen und Spinnefeind M. auf der anderen Seite des Bergs, der für seine verbalen Ausfälle vor allem gegenüber Ausländern bekannt war. Es gab auch Hüttenwartinnen mit Haaren auf den Zähnen, etwa W., Witwe eines abgestürzten Bergführers, die streng und sauertöpfig in ihrem Reich waltete. Eine eigentliche Legend war M., denn um seine Hütte konnte ein Schneesturm noch so heftig toben, bevor er das Frühstück zubereitete, mussten die Wolldecken im Freien und unter seiner Aufsicht ausgeschüttelt und präzis gefaltet werden. Schweizerkreuz oben und Etikett «Füsse» unten.
Dass ich über zwanzig Jahre keinen Fuss mehr in eine SAC-Hütte setzte, hatte sicher auch andere Gründe, als die paar unerfreulichen Erfahrungen.
Es gab ja auch damals schon die freundlichen Hütten, die man gern besuchte – zum Beispiel jene der hübschen Hüttenwartin L., die auch eine gute Kletterin war. Nach einer Gewaltstour und vielen Stunden in einem Gewittertsturm empfing sie uns mit einem Kuss, einer tüchtigen Portion Spaghetti und lieh uns sogar trockene Hosen und Hemden aus ihrer eigenen Garderobe.
Als ich nach langer Absenz wieder einmal den Versuch wagte, in einer SAC-Hütte zu nächtigen, hatte sich die Welt verändert. Wir wurden von einer fröhlichen Studentin mit einem Cüpli mit eigenem Holundersirup begrüsst. Dann gab’s auf der Terrasse Cafè corretto und frisch gebackenen Zitronencake. Zum Viergangmenü wurde die Weinkarte gereicht. Der Hüttenwart – promovierter Germanist und passionierter Alpinist – setzte sich nach dem Dessert an den Tisch, begeisterte uns für den Klettergarten, den er in der Nähe eingerichtet hatte, und schwärmte vom Kulturprogramm der Hütte mit Bergtheater, Lesungen, Hüttenkonzerten und einer Kunstaktion. Nachts schlummerten wir unter Daunenduvets in einem nach frischem Nadelholz duftenden Viererzimmer. Zum Frühstück gabs Müsli, Butterzopf, Honig, Käse, Eier, Schinken. Alles Bio und aus der Region, appetitlich angerichtet, und auf jedem Tisch stand ein Sträusslein Alpenrosen. Als wir von der Tour zurückkamen, duftete es schon von weitem nach Aprikosenwähe und dem Kaffe Hüttenzauber mit Kirsch und Sahnehaube.
Gelegentlich werde ich in eine SAC-Hütte eingeladen für eine Lesung, die in der Regel zwischen Hauptgang und Dessert stattfindet. Ein interessiertes Publikum meist, auch wenn viele überrascht sind von dem unerwarteten Kulturevent. Sie sind ja zum Wandern oder Klettern zur Hütte aufgestiegen, doch kommt es sogar vor, dass der eine oder die andere eines der Bücher erwirbt, die ich im Rucksack heraufgeschleppt habe. Gemäss dem Sprichwort: «Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg.»
Unvergesslich ist mir eine Lesung in der Glecksteinhütte geblieben – nicht unbedingt wegen meinem Auftritt in dem mit Gästen überfüllten Aufenthaltsraum. Sondern wegen dem Honorar. Ich bat das Hüttenwartpaar, mir einen Begleiter fürs Wetterhorn zu organisieren. Tatsächlich engagierten sie einen Bergführer. Er gestand mir zwar, er sei während meinem Vortrag eingeschlafen, es sei so heiss gewesen in der Hütte er ziemlich müde. Er war ein ehemaliger Extrembergsteiger meiner Generation, und so konnten wir während des Aufstiegs in Erinnerungen schwelgen. Wir kletterten dabei so mühelos und schnell, dass wir als erste auf dem Gipfel waren, noch vor zwei jungen Seilschaften. Das Wetterhorn war gewiss mein schönstes Lesehonorar, es war auch meine letzte Hochtour und dazu die erste und einzige mit einem Bergführer. Bei der Hütte nahmen wir ein kaltes Fussbad, es gab Kaffee und Kuchen und ich war so glücklich wie selten im Leben.
Ich weiss, es gibt Leute, die der alten Hüttenromantik nachweinen, den kratzenden Wolldecken, den durchwachten Nächten in dumpfen Massenschlägen, der Erbs-mit-Sago-Suppe vor den verkochten Hörnli, dem sauren Veltliner und dem Pfeifenqualm. Für Nostalgiker gibt es sicher irgendwo noch die eine oder andere Hütte im Retroschick mit einem bärbeissigen Hüttenwart, der von alten Heldentaten erzählt. Zum Beispiel, wie sein Vater einst drei junge Grossmäuler aus dem Unterland an einem ersten August aus der Hütte jagte.

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