Im Lot

Die «Hasse-Brandler» an der Grossen Zinne war mehr als eine Materialschlacht: Sie war das Fanal, dass es im Klettern so nicht mehr weitergehen konnte. Denn direkter als «im Lot» war nicht mehr möglich. Trotzdem: Die Route wird auch heute noch gerne und mit Respekt geklettert – im neuen Stil. (Eine frühe Begehung gelang übrigens dem heutigen Zürcher In-Gastronomen Fredi Müller. Die Red.)

„Eine 300 Meter lange Reepschnur von 6 Millimeter Durchmesser habe ich bei Edelrid extra für unser Vorhaben anfertigen lassen. Das Hakenarsenal ist aufgefrischt, Bohrer sind geschärft, eine Kollektion mit Prusikschlingen und mehrsprossigen Trittschlingen, Seile, ‚Pfiffis‘ sowie Hämmer, Zelt- und Schlafsäcke, all das ist in unserem Arsenal vorhanden. Jörg und Sigi werden zusätzlich noch Holzkeile mitbringen. So kann es bald losgehen.“

Und wie es ging! Vom 6. bis 10. Juli 1958 erschlossen Dietrich Hasse, Lothar Brandler, Siegfried Löw und Jörg Lehne mit all diesem Material, wobei sie 180 Normal- und 14 Bohrhaken schlugen und dank der langen Reepschnur vom Wandfuss aus verpflegt wurden (wenigstens so lange diese lang genug war…), eine neue und direkte Route durch die 500 Meter hohe Nordwand der Grossen Zinne (2999 m) in den Sextener Dolomiten. Ein Meilenstein in der Geschichte des Alpinismus. Jetzt nachzulesen im wichtigsten Kapitel der neu herausgekommenen Autobiografie des sächsischen Kletterers Dietrich Hasse: „Ein Leben im Lot. Blick auf ein erfülltes Bergsteigerleben.“

Während die traditionell eingestellte Bergpresse die Direttissima durch die lotrechte Wand verteufelte, bewunderten die Wiederholer die Leistung der vier deutschen Kletterer. Dr. Hans Hanke, Schriftleiter der Zeitschrift „Bergsteiger“, fragte sich: „Verliert nicht in Wirklichkeit jede Sechserstelle ihren Charakter in dem Moment, in dem sie durch Anbringen zahlreicher Haken entschärft wird? Darf denn so etwas dann überhaupt noch als 6. Grad bezeichnet werden?“ Antwort von Cesare Maestri, der mit Peppi Holzer vom 14. bis 16. Juli die Zweitbegehung machte: „Wollte man die ungewöhnliche Schwierigkeit der Freikletterstellen in dieser Führe würdigen, so wäre es wahrscheinlich notwendig, der herkömmlichen Schwierigkeitsskala einen weiteren Grad hinzuzufügen.“

Anders gesagt: Beim Bergsteigen kommt es halt immer auch darauf an, wie man Material (und Können) einsetzt. Am Berg. Und nicht in der Schreibstube.

Apropos Stube: Heute Abend halte ich der Uni Zürich im Rahmen der Ringvorlesung an der Volkshochschule Zürich zum Thema „Alpenraum im Wandel“ folgenden Vortrag: „Vom Alpenstock zum iPhone – eine Geschichte des Alpinismus.“ Pickel & Seil, Karte & Führer, Wein- & Sauerstoffflasche: Sie hatten und haben Platz im Rucksack. Doch warum brauchte es früher einen Jupe – und heute einen Imbusschlüssel? Die Holzkeile aber, die sind vermodert oder verbrannt.

Dietrich Hasse: Ein Leben im Lot. Blick auf ein erfülltes Bergsteigerleben. Rother Verlag, München 2013, Fr. 34.90.

Daniel Anker: Vom Alpenstock zum iPhone – eine Geschichte des Alpinismus. Dienstag 22. Oktober 2013, 19.30 bis 20.45 Uhr, Hauptgebäude der Uni Zürich an der Rämistrasse 71, Zimmer 104 im ersten Stock. Einzeleintritt bei der Abendkasse: Fr. 30.-

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