Rigi, Mythen und eine Leiche auf Gleis 4.

Eine Blutspur führt vom Bahnhof Örlikon auf die Mythen, die von der Rigi aus wie Haifischzähne aussehen und sich als Kulisse für einen Mord geradezu anbieten. Viel mehr will uns der Rezensent über den heute erscheinenden Krimi von Franz Hohler nicht verraten. Wäre ja auch schade.

„Isabelle schlug vor, weiterzugehen. Sie wollten bis Rigi Staffel hinunter, vielleicht sogar bis Rigi Klösterli. Das Wetter war nochmals etwas trüber geworden, nun war das ganze Alpenpanorama hinter den Wolken verschwunden, und von den Voralpen ragten einzig die beiden Mythen aus einer Wolkenbank heraus, die sich vom Vierwaldstättersee her über den Lauerzersee geschoben hatte.
Véronique fragte, was das für Berge seien, und Isabelle nannte ihr die Namen und sagte, dass auf den höheren und steileren der beiden sogar ein Weg führte, den sie als Kind mit ihren Eltern auch schon gegangen sei.
„Wirklich?“ Véronique wunderte sich sehr. Die beiden Gipfel erschreckten sie, sagte sie, „ils m’effraient“, sie sähen wie zwei riesige Haifischzähne aus, die jederzeit zubeiβen könnten.“

Voilà! Ein kleiner Ausschnitt aus „Gleis 4“, dem neuen Buch von Franz Hohler, das am heutigen 22. Juli erscheint. Es ist ein Roman, sein dritter erst, wenn ich richtig gezählt habe, nach „Der neue  Berg“ (1989) und „Es klopft“ (2007), die Kinderromane nicht einberechnet. Gleis 4 im Bahnhof Oerlikon also: Da scheinen die Berge sehr weit weg zu sein, und als ich das Buch gestern Sonntag Nachmittag in einem Zug las, fragte ich mich nebenbei, ob die Berge, wie oft in den Werken von Franz Hohler, auch eine Rolle spielten. Sie tun es: Im 18. Kapitel, auf Seite 145, sitzen zwei der drei Hauptfiguren auf der Rigi oben, picknicken, sprechen über ihr Leben – und erblicken die gefährlich aussehenden Mythen. Dabei bleibt es nicht, denn diese Zähne bilden, wie die Leser rückblickend erfahren, sozusagen die Schlüsselstelle des Romans. Wie genau, das dürft Ihr selber lesen. Denn „Gleis 4“ ist ein Kriminalroman, mit einer Leiche gleich im ersten Kapitel. Nach dem Todesfall auf dem Bahnsteig in Oerlikon erforschen drei Frauen – Isabelle, die zufällig Erste-Hilfe-Leistende, ihre Tochter Sarah sowie Véronique, die aus Kanada angereiste Witwe des geheimnisvollen Verstorbenen – eine weit zurückliegende Familientragödie. Spannend, überraschend und gekonnt erzählt, geschickt den aktuellen Alltag mit dunklen Zeiten vermischend.

„Was lesen Sie denn?“, fragt Isabelle, die als Stationsleiterin in der Pflegeabteilung des Altersheims „Steinhalde“ arbeitet, die Bewohnerin Frau Maurer. „Der König der Bernina. Aber kaum hab ich’s gelesen, vergess ich’s wieder.“ Das Gute daran sei, dass man so nicht mehr viele Bücher brauche: „Wenn man mit einem fertig ist, kann man gleich wieder von vorn anfangen.“

Franz Hohler: Gleis 4. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2013, Fr. 25.90

Die Buchpremiere von „Gleis 4“ findet am 4. September im Kaufleuten in Zürich statt, am 11. September ist Franz Hohler beim Internationalen Literaturfestival Berlin und am 12. September beim Harbour Front Festival in Hamburg zu Gast. Alle weiteren Lesungstermine auf www.franzhohler.ch. Und hier spricht der Autor gleich selbst über sein jüngstes Werk: www.srf.ch/sendungen/buchzeichen/der-neue-hohler-roman.

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