Ruscada

Ins Tessin fährt man zum Klettern. Oder zum wildromantisch wandern. Als wir beides mischten und zu einer Tour verrührten, wurden wir dorfbekannt.

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Am frühen Abend kamen wir in Camedo im Centovalli an. Zwei Herren mittleren Alters und insgesamt nicht mehr ganz ohne Lebenserfahrung, tauchten wir mit hoch bepackten Rucksäcken auf um, wie zwei junge Spünde, auf dem Dorfspielplatz zu nächtigen. Wenn wir uns so sahen, merkten wir, dass wir aus alter Gewohnheit handelten, und wenn wir uns dann anblickten, schmunzelten wir, freuten uns über unsere Freiheit von vier Tagen und wussten, dass wir es richtig machten, so wie früher. Unser Schlafplatz ist kein Spielplatz, wie man ihn aus dem Mittelland kennt. Er liegt auf einer Waldlichtung, und das Gras steht hoch zwischen den Tischen und Bänken, im ehemaligen Sandkasten, um die noch funktionierende Schaukel und die kurze steile Wippe herum, unter der Seilbahn. Als wir gerade beschlossen hatten, keinen Tee mehr zu kochen um möglichst nachts nicht aus dem Schlafsack zu müssen, kam der junge Vater der, uns den Tipp des Spielplatzes gegeben hatte, im Dämmerlicht vom Waldrand daher, den vierjährigen Sohn an der Hand. Er hatte für jeden ein Bier dabei und mit Brocken von Deutsch, Italienisch und Zeigen auf der Karte redeten wir über unser morgiges Vorhaben. Das Kind, mit seinen schulterlangen blonden Locken wie ein kleiner Ritter, streifte durchs hohe Gras und kroch, als es endgültig dunkel wurde, dem Vater auf den Schoss. Als der kleine einzuschlafen drohte und die beiden den Rückweg antraten, legten wir uns in die Schlafsäcke, und ehe ich mich auf die Seite drehte, blickte ich noch lange aus der Lichtung des Waldes, in dem die Käuzchen riefen, hinaus in den Himmel, den die Sterne übersäten.

Am frühen nächsten Morgen querten wir mit leichtem Rucksack vom Weiler Lasa, einen kaum sichtbaren Weg entlang westwärts in die Waldschluchten unter den Südwänden des Pizzo Ruscada. Im dunklen tiefen Grund des zweiten dieser Tobel füllten wir die Flaschen für den Tag und stiegen dann linkshaltend über den steilen, noch frühlingslichten Waldboden empor. Am Pkt. 1433 m genossen wir ein aussichtsreiches zweites Frühstück in der Vormittagssonne, über uns die geneigten Plattenfluchten des Weiterweges. Auch in den Felsen wuchsen überall kleine Bäume, Wacholder, und dunkelrote Primeln, Aurikel des Urgesteins. Wir kletterten nach Lust und Laune über die Platten oder stiegen zweibeinig die Vegetationsbänder entlang, ganz wie es jedem gerade beliebte. Nach einer flachen Schulter mit weichem Gras schnitt die Gratrippe enger zusammen. Links schien sie überzuhängen, und auch rechts wurden die geneigten Platten immer kürzer, ehe sie entlang einer von unten näher und näher rückende Kante in eine Schlucht abbrachen. So kanalisierte sich das weitläufig beliebige Strömen unserer Kletterwege mehr und mehr, um schliesslich zu einem an der Flanke eines Gratturmes steckenden Haken zu fliessen. Wir hintersicherten ihn lieber noch mit einer Schlinge, ehe wir gut dreissig Meter auf eine von oben nicht einsehbare Verschneidung abseilten und von dort über Platten auf den Grat zurück stiegen, der uns, nun noch schmäler doch ohne Schwierigkeit, wie über einen hohen Steg weiter führte. Als wir über die Schrofen auf und ab vom West- auf den Hauptgipfel hinüber gingen, noch mehr aber beim nicht enden wollenden Abstieg nach Camedo, spürten wir die tausendsechshundert Höhenmeter und am Ende zehn Stunden des Tages ganz ordentlich in unseren ungeübten, nicht mehr jungen Knochen rumoren.

Zurück beim Dorfspielplatz war dieser von zwei alten Leuten und einem Kind unerwartet belebt. Sie schaukelte die Enkelin, er sass auf der Bank neben uns, man verstand ihn kaum. Ja, wir waren auf den Ruscada gestiegen, entlang einer Felsrippe aus den Tobeln im Südwesten, und ja, wir schliefen hier, ob es nicht kalt sei, sie hatten schon von uns gehört, vom Vater des kleinen Ritters, oder von jenem Deutschschweizer, der wie schon gestern Abend so auch heute, später mit seinen zwei Hunden hier vorbei kam und fragte, was wir vor hätten, heute, dann wie es uns dabei ergegangen war. Hätte es im Dorfe Camedo noch einen Pfarrer gegeben, einen hageren Herrn mit langer schwarzer Soutane und ausladendem Hut, er hätte uns sicher ebenfalls ausgefragt und danach in ein grosses Buch einen Eintrag geschrieben. Über die Beiden, die an jenem Tag von weit her kamen und den Ruscada von der Rückseite nahmen.

So wäre es früher gewesen. Heutzutage tauschten wir, als wir berichteten, Mailadressen und verschickten später Bilder.

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