Säntis

Hillary Clinton war mal auf dem Säntis und falls sie die Wahlen schafft, wird man ihr sicher dort oben eine Gedenktafel widmen. Vielleicht neben jener des Wetterwartpaares Haas, das im Winter 1922 daselbst ermordet worden ist. Dass der Säntis eine bewegte Geschichte hat, ist damit schon genügend belegt. Und dass sich Wanderungen hinauf und hinab und rundum lohnen, kann der Autor dieses Leads bestätigen. Ohne Seilbanstation und Telekom-Antenne wär’s natürlich noch schöner.

Zum letzten Mal, bevor ihn die Technik bezwungen,
Zum letzten Mal sei hier der Säntis besungen.
Bald ist er ein Ort und Bahnstation,
Jedem echten Bergler zum Hohn
Steht er im Kursbuch, Seite zwanzig,
Mit Anschluss an Bern, Berlin und Danzig.
Jeder kann kommen, total besoffen,
In Seidenstrümpfen: dem Salon entloffen.
A.G. wird der Säntis, es hat sein Bewenden,
Der Säntis besteht aus Dividenden.
Ich wein‘ eine Träne, ich wein‘ eine zweite,
Die einzige Hoffnung ist eine Pleite
Der Bahn. Mit Schmieröl und Kabel
Verwünschen wir sie ins Reich der Fabel!!

Cover Säntis

Bitter, böse, treffend, witzig, aber auch ein bisschen nostalgisch und rückwärtsgewandt, was da ein unbekannter Dichter am 22. Juli 1935 ins Fremdenbuch des Säntisgasthauses geschrieben hat, wenige Tage vor der Eröffnung der Luftseilbahn. Mit ihr begann wieder mal ein neuer Zeitabschnitt auf dem Herrscher über „das schönste Faltengebirge der Welt“, wie der Geologe und Säntispanorama-Zeichner Albert Heim den Alpstein nannte.

Der Säntis, Kulminationspunkt des vom Appenzellerland, Rheintal und Toggenburg begrenzten Gebirges, ist der nördlichste Vorposten der Schweizer Alpen, und die anbrandenden feuchten Winde aus Nordwesten bringen Regen und Schnee in rauen Mengen. Seit 1887 besteht auf dem Säntis eine Wetterbeobachtungsstation; wie einsam und gefährlich die Arbeit früher als Wetterwart war, zeigt der 1990 entstandene Film „Der Berg“ des Schweizer Regisseurs Markus Imhoof, der auf einer wahren Begebenheit, der Ermordung des Wetterwart-Ehepaares im Jahre 1922, beruht. Noch ein paar Jahreszahlen: 1935 nahm, wie erwähnt, die Seilbahn von der Schwägalp auf den Säntis den Betrieb auf, und in den 1970er und 1990er Jahren wurde der Gipfel durch millionen- und betonschwere Fernmeldeanlagen total überbaut. In ihren Gängen kann man leicht den Überblick verlieren. Nicht jedoch beim alten pyramidenförmigen Wettergebäude (2501,9 m), dem höchsten Punkt des Säntis (abgesehen vom Sendeturm). Bei guter Sicht reicht der Blick von Deutschlands höchster Spitze über die österreichische Weisskugel und den italienischen Monte Disgrazia bis zur Schweizer Jungfrau. Wenn man am Abend dort oben steht, dann kommt fast so ein Gefühl von Weite und Einsamkeit auf wie vor mehr als 100 Jahren, als in der Gipfelnähe nur eine Schutzhütte stand (1846 erbaut).

Nun ist über den Säntis eine in jeder Hinsicht grosse Monografie von Adi Kälin erschienen, die den „König der Ostschweiz“ rundum, von oben bis unten, von innen bis aussen würdigt, mit schlüssigen und stimmungsvollen Texten, Anekdoten, Zitaten, Porträts, Gedichten und Quellen. Zahlreiche historische, teils noch nie veröffentlichte Illustrationen und aktuelle Fotos von Alessandro Della Bella rücken den unübersehbaren Berg ins rechte Licht. Er hat es auch verdient.

Fast zeitgleich mit dem illustrierten Sachbuch zum Säntis ist der Bildbandführer von Sandra Papachristos Rickenbach und Roland Gerth herausgekommen, der 30 schöne Wanderungen rund um den Säntis, im Gebiet zwischen Bodensee und Sarganserland, Rheintal und Thurgau vorstellt. Da kommt Wanderlust auf, gerade im Herbst, der jetzt beginnt. Dazu die passenden Strophen aus Vier-Jahrzeiten-Gedicht „Der Säntis“ von Annette von Droste-Hülshoff, 1844 publiziert:

Cover Säntis Wandern

Wenn ich an einem schönen Tag
Der Mittagsstunde habe acht,
Und lehne unter meinem Baum
So mitten in der Trauben Pracht:

Wenn die Zeitlose übers Tal
Den amethystnen Teppich webt,
Auf dem der letzte Schmetterling
So schillernd wie der frühste bebt:

Dann denk‘ ich wenig drüber nach,
Wie’s nun verkümmert Tag für Tag,
Und kann mit halbverschloßnem Blick
Vom Lenze träumen und von Glück.

Du mit dem frischgefallnen Schnee,
Du tust mir in den Augen weh!
Willst uns den Winter schon bereiten:
Von Schlucht zu Schlucht sieht man ihn gleiten,
Und bald, bald wälzt er sich herab
Von dir, o Säntis! ödes Grab!

Adi Kälin: Säntis. Berg mit bewegter Geschichte. Hier und Jetzt Verlag, Baden 2015, Fr. 69.-
Sandra Papachristos Rickenbach, Roland Gerth: Wandern rund um den Säntis. AT Verlag, Aarau 2015, Fr. 49.95
Das ganze Säntis-Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff hier: www.lwl.org/LWL/Kultur/Droste/Werk/Lyrik/Ausgabe_1844/Saentis

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