Sonnenlüfte atmen

Beim Wandern spielt der Atem bekanntlich eine grosse Rolle. Wenn es dann gar Sonnenlüfte sind, die einem die Lungen und das Herz füllen, dann befindet man sich in der Ostschweiz. Jedenfalls befand das Meister Hermann Hesse, der in der Gegend Fussabdrücke und literarische Spuren hinterlassen hat. Seinen und jenen von über fünfzig andern Autorinnen und Autoren folgen Christa und Emil Zopfi (bekannt auch als Webmaster von bergliteratur.ch) auf fünfzehn literarischen Pfaden.

„Der nahe Säntis stand mit bläulichen Schatten uns gegenüber, weiter jenseits des Rheintales die Tiroler und Graubündener Berge und das Vorarlberg. Mit Befriedigung sahen wir die ganze Gegend um unseren Wohnort her in trübem Dunst verborgen, während wir, in die Bergklarheit entronnen, schleierlose Fernen sahen und Sonnenlüfte atmeten.“

Wer jetzt noch keine Frühlingslektüre hat, für drinnen oder draussen: Hier ist sie. Das neue literarische Wanderbuch von Christa und Emil Zopfi, diesmal ein paar Schritte fern ihrer Heimat, also nicht Glarnerland, St. Galler und Zürcher Oberland, sondern direkt daran anschliessend die beiden Appenzell und drum herum sankt-gallische Regionen wie das Toggenburg. „Sonnenlüfte atmen“ heisst das jüngste Werk der Zopfis: Was für ein verlockender Titel! Wo sie ihn gefunden haben, steht im Eingangszitat, hier und im Wanderbuch: In den „Reisebilder“ von Hermann Hesse. Ja, er hat nicht nur das Tessin und die Collina d’Oro bei Lugano verewigt, sondern auch Hügel in der Ostschweiz, den Gäbris ob Gais, die Ebenalp im Alpstein. Spuren verstorbener Dichter – und noch lebender – ist das Ehepaar Zopfi gefolgt: Auf der Wanderung von Gais nach Altstetten im Rheintal unten begegnen wir der 88-jährigen Schriftstellerin Helen Meier. Vor ein paar Tagen war bekannt geworden, dass sie den Kulturpreis 2017 des Kantons Appenzell Ausserrhoden erhält; die Preisübergabe findet am 24. Mai an einer öffentlichen Feier in Trogen statt.

Wer jetzt noch keine Frühlingslektüre hat, hier ist sie, und das gleich dreifach. Erstens erfreut es Geist und Gemüt zu erfahren, auf welchen Dichterpfaden Christa und Emil unterwegs waren. Zahlreiche bekannte und vergessene Autoren und Autorinnen haben sie begleitet – und werden uns begleiten: Niklaus Meienberg, Elisabeth Gerter (sie geniesst die Sonne auf dem Titelbild), Thomas Hürlimann, Eveline Hasler, Ulrich Bräker, Angelika Wessels, Robert Walser, um nur ein paar von über 50 zu nennen. Am Schicksal von Landesverrätern und Mördern, Heim- und Waldarbeitern, Bauernfamilien und des Wetterwart-Ehepaars auf dem Säntis nehmen wir lesend teil, dabei auch die Ostschweiz kennenlernend. Zweitens macht uns das 362seitige, klug mit alten und neuen Fotos illustrierte Werk neugierig und gluschtig, Bücher der vorgestellten Dichter endlich oder wieder mal zu lesen: zum Beispiel „Die Molkenkur“ von Ulrich Hegner oder „Die Speiche“ von Friedrich Glauser. Und drittens wissen wir nun, wo wir in diesem Jahr ganz sicher Sonnenlüfte atmen werden: in der Ostschweiz, auf einer der vorgestellten 15 Wanderungen. Alle sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar und in einem Tag durchführbar, können aber auch zu mehrtägigen Touren verbunden werden. Dazu gibt es verlockende Tipps zu Einkehr- und Unterkunftsmöglichkeiten. Und dann erleben wir hoffentlich einen Sommerabend, wie ihn Glauser beschreibt:

„Auf dem Abhang, der hinter dem Hôtel zum Hirschen in die Höhe stieg, stand, mitten in der Wiese, eine mächtige Linde. Es war zehn Uhr vorbei, und doch schien es, als fiele es dem Tag schwer, der Nacht zu weichen. Immer noch war die Luft durchsetzt von staubfeinen Lichtteilchen, und eine Wolke überm Bodensee sah aus wie ein dicker Mann, der zur Feier der Sonnenwende eine dunkelrote Weste angelegt hat, die sich faltenlos über seinen Bauch spannt.“

Christa und Emil Zopfi: Sonnenlüfte atmen. Literarische Wanderungen in der Ostschweiz. Appenzell – St. Gallen – Alpstein. Rotpunktverlag, Zürich 2017, Fr. 42.- www.rotpunktverlag.ch

18. Mai 2017, 20 Uhr. Stadtbibliothek Wil SG: Buchpremiere „Sonnenlüfte atmen“ von und mit Christa und Emil Zopfi. 19 Uhr Altstadtführung mit Max Peter Ammann zum Roman „Die Gottfriedkinder“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert