Wände und Bildbände

«Bergsteiger lesen nichts ausser Kletterführern», sagte letzthin jemand. Die alpinen Bücherberge, die sich auch heuer auf Weihnachten hin auftürmen, lassen an dieser Aussage zweifeln. Oder doch nicht? Oft ist es ja nicht der Text, sondern das Bild, das zum Kauf eines Geschenks für die kletternde Tante verlockt. Die Vorschläge unseres Rezensenten erlösen uns von der Qual der himalayahohen Auswahl.

«Mais oserais-je, après les faces nord du Cervin, du Triolet, de la Dent Blanche, vouloir comparer à ces ascensions, qui repoussent les limites du possible en matière d‘ alpinisme, une montée de huit heures à crampons? Après ces performances hors ligne, ces bivouacs sur une vire de quelques centimètres, oserai-je parler de cette ascension qui, quoique difficile, ne comprend pas les difficultés des courses extraordinaires citées plus haut?»

Das fragte sich Charles A. Golay im Bericht aus den „Alpen SAC“ von 1935 über die erste Durchsteigung der Nordflanke des Mont Dolent (3820 m) im Mont-Blanc-Massiv. Seine Begleiterin am 9. August 1933 war laut SAC-Führer „Walliser Alpen 1“ Hélène Schönenberg, laut dem dritten Band des Guide Vallot, „La chaîne du Mont Blanc“, Mme Golay. Vielleicht war der Dolent die Verlobungstour? Wer weiss? Sicher ist: Vom 25. zum 27. Dezember gelang fünf Alpinisten die erste Winterbegehung dieses schwierigen, schattigen und eisigen Anstiegs auf den höchsten Dreiländerpunkt an der Schweizer Grenze.

Wie immer vor Weihnachten stapeln sich auf den Büchertischen in den Buchhandlungen (und auf meinem Bürotisch) Bildbände, schöne und schwere Bücher, wie prädestiniert zum Verschenken. Vier seien hier vorgestellt: grosse und kleine Wände sind dabei, Frauen und Männer in der Vertikalen.

Cover1 Face

Für Nordwandgesichter
Der Fotograf Maurice Schobinger und der Bergführer Pierre Abramowski stellen 44 Wände der Westalpen vor, vor allem der Walliser und Berner Alpen sowie des Mont-Blanc-Massivs: 36 Nord-, 4 Ost- und je zwei Süd- bzw. Westwände. Auf eine besondere Art: Eine grossformatige Foto der Wand, aufgenommen meistens bei winterlichen Bedingungen, aber nicht mit zu viel Schnee, sowie bei bedecktem Himmel, damit kaum Schattenwürfe entstehen. Die Wände wirken darum noch mächtiger. Noch abweisender (für die einen). Und noch einladender (für die andern), weil damit die Strukturen besser zur Geltung kommen – da gäbe es doch noch eine (vielleicht) unbegangene Linie zu erklettern. Die ersten Durchsteiger der Wände sind jeweils angegeben, aber leider bei einem Viertel die falschen, wie beim Mont Dolent, der Aiguille Verte, dem Weisshorn oder dem Grossen Fiescherhorn. Und: Die Idee, neben dem Blick auf die Wand sozusagen den Blick von der Wand weg zu zeigen, also die Kamera um 180 Grad zu drehen, ist eine Idee. Aber – nehmen wir doch den nächsten Bildband zur Hand.

Maurice Schobinger & Pierre Abramowski: Face à Face. Vorwort von Hervé Dessimoz, Geleitwort von Pierre Starobinski. Les Éditions Noir sur Blanc/Till Schaap Edition 2015. F/D/E. 112 Seiten, 25 x 31 cm, 1091 g, Fr. 54.-

Cover2

Für Junge und so Gebliebene
Sie sind die Stars von morgen, und teils schon von heute. Die jungen wilden Kletterer, die in der Szene für Aufsehen sorgen. Wie der 22-jährige Deutsche Alex Megos, der als Erster eine 9a on sight schaffte, also eine dieser unglaublich schweren Klettereien ohne Routenkenntnisse auf Anhieb schaffte. Einsteigen, durchziehen, oben ankommen – ohne zu fallen, ohne auszuruhen, ohne die einzelnen Züge auszuprobieren und auswendig zu lernen. „Estado critico“ in der katalanischen Siurana heisst die Route, die Megos auf einen Schlag berühmt machte. Andere sind es schon länger, wie der Tscheche Adam Ondra, das kletternde Wunderkind. Es gibt noch andere. Claudia Ziegler und Annika Müller stellen 13 junge Kletterer und Kletterinnen vor, auf eine faszinierende, sympathische Weise. Nicht bloss beim Meistern höchster Schwierigkeiten in Wänden und an Felsblöcken, sondern auch im Alltag, beim Essen, Shoppen, Trainieren. Shauna Coxsey in England, Domen Škofic in Slowenien, Matilda Söderlund in Schweden, Ashima Shiraishi in den USA, Mihou Nonaka in Japan. Ja, geklettert wird in der ganzen Welt. Und wahrscheinlich schon bald an Olympiaden.

Claudia Ziegler (Fotos), Annika Müller (Text): Die Young Savages. Die jungen Wilden. Panico Alpinverlag, Köngen 2015. D/E. 191 S., 27 x 29 cm, 1559 g, Euro 39.80.

Cover3 9e degré

Für Felsartisten
Wer sich für die Geschichte des Kletterns interessiert, insbesondere für diejenige des sogenannten Sport- oder Freikletterns ab Ende der 1970er Jahre bis heute, sollte zum prächtig illustrierten Bildband von David Chambre greifen. Einst selbst zu den Besten gehörend, nicht nur in sonnenverwöhnten Wänden von Südfrankreich, sondern auch an den hohen Wänden des Mont-Blanc-Massivs (so die erste freie Begehung der Bonatti-Route am Grand Capucin), schildert Chambre Akteure und ihre Taten Seillänge um Seillänge. Das waren noch Zeiten, als Stefan Glowacz im rosa T-Shirt und weissen Hosen Schlüsselstellen meisterte, als Patrick Edlinger und Catherine Destivelle mit ihrer Eleganz Sponsoren, Redakteure und das Publikum verzauberten!

David Chambre: Le 9e degré. 150 ans d’escalade libre. Préface de Jean-Baptiste Tribout. Les Éditions du Mont-Blanc, Chamonix 2015. 304 S., 24 x 28 cm, 1720 g, Euro 43.-

Cover4 Kestenholz

Für Flugbegeisterte
Das Buch war fällig. Ueli Kestenholz, der 40-jährige Überflieger aus Thun. Wo er immer noch gelandet ist. Ein paar Stichworte: Bronzemedaille im Snowboard Riesenslalom an den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano. Gold bei den X-Games 2003 und 2004 im Snowboardcross. Speedride-Befahrung von Eiger, Mönch und Matterhorn. Im seitenreich bebilderten Buch, das die TV-Sportjournalistin Steffi Buchli geschrieben hat, schaut der sympathische Held zurück auf seine lange Karriere als Multisportler. Die Bretter, die ihm die Welt bedeuten, gleiten über Schnee. Die Flügel, die ihn über die Wände tragen, sind Schirme. Hélène und Charles mussten vom Mont Dolent noch stundenlang absteigen. Ueli würde den Speedriding-Schirm ausbreiten und abrauschen. Wie am 20. Mai 2009 auf dem Matterhorn: Start am Gipfel, über die oberste Nordwand hinab, hinüber in die Ostwand und über diese hinab, mit den Ski immer wieder Spuren im Schnee hinterlassend. Nach zwei Minuten landet er am Ostwandfuss, gut 1600 Höhenmeter tiefer. Nur der freie Fall ginge schneller.

Steffi Buchli: Ueli Kestenholz «Freiheit – Meine Träume lernen fliegen». Weber Verlag, Thun 2015. 196 S., 27 x 30 cm, 1623 g, Fr. 51.-

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