Wilde Sophie

Zu einer perfekten Route gehört ein schöner Name. Klettern ist auch Kunstgenuss.

Wilde Sophie

Gestern wieder mal die Wilde Sophie geklettert. Raue Griffe für die Fingerspitzen, schmale Leisten, nicht allzu steil, eine trickige Krux mit kleinem Runout. Alles in allem eine zahme 6b. Ich liebe sie, die Wilde Sophie, nicht nur wegen dem Klettergenuss, sondern auch wegen dem Namen, auch wenn er der Sache vielleicht nicht ganz gerecht wird. Doch er reizt und bleibt. Weckt Assoziationen, vielleicht hatte der Erstbegeher gerade eine kleine wilde Affäre mit einer Sophie gehabt oder dann eine kleine wilde Tochter, die so heisst. Und die wohl inzwischen erwachsen ist und nicht mehr so wild, eine sportliche Studentin der Germanistik vielleicht, die auch mal kletterte, mit Papa, aber jetzt eher snowboardet mit dem Freund. Na ja, die Wilde Sophie ist eine Geschichte. Zu einer schönen Route gehört, meiner Meinung nach, auch ein schöner Name. Poetisch und einprägsam, vielleicht auch witzig, ironisch oder politisch. Die Kreativität der Einrichter sollte nicht nur beim bohren der Bolts aufhören, sondern sich auch noch ein bisschen dem Mikrokosmos des Eingerichteten widmen und dazu einen Namen finden, der originell ist, eine Aussage macht, eine Geschichte erzählt. Septumania, Ikarus, Kein Wasser kein Mond, I Balabiott, Anarchia sott l’Albero di Natale, Siebenschläfer, Free Nelson Mandela, Golden Lady, Ultima Via.
Ich weiss, die professionellen Einrichter, die kilometerbreite Felsbänder mit hunderten von Routen bestücken, finden bei ihrem harten Job kaum Zeit, sich tiefere Gedanken zur Benennung ihrer Kreationen zu machen. Schade. Oft greifen sie einfach zu einem beliebigen Lexikon und haken die Begriffe ab. Da gibt es Informatik-Sektoren, Wein-Sektoren, Botanik-Sektoren, Dichter-Sektoren und so weiter.
Früher war ja alles einfacher. Da gab es die Nordwand und den Westpfeiler und die Direkte Ostkante und dann die Direttissima und die Superdirettissima. Oder man verewigte die Erstbegeher Neumann-Stanek oder den alten Fritz Villiger im Villigerpfeiler. Stürzte ein Freund ab, dann eröffnete man gern einen Gedächtnisweg in seinem Namen, sofern er eine gewisse Bedeutung besass wie etwa Hermann Buhl.
Eine Route wird durch einen schönen Namen aufgewertet, so wie das Bild eines Künstlers durch einen geheimnisvollen Titel an Wirkung gewinnt. Wenn ich klettere, ist das ähnlich, wie wenn ich ein Kunstwerk auf mich wirken lasse. Ich spüre, ob da ein Künstler am Werk war oder ein Handwerker, der einfach seinen Job macht. Genau so wie ich ein Bild von Paul Klee immer wieder betrachten kann und über den geheimnisvollen Titel rätseln, so wird mir Wilde Sophie niemals langweilig. Bis ich sie dann einmal nicht mehr schaffe, immerhin ist sie ja doch eine 6b.

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