Kletterführer sind offenbar auch fürs Sofabergsteigen gemacht, wie unser Rezensent schreibt, «für das Blättern darin, das Träumen von neuen Routen, das Sich-Erinnern an gemachte». Wer also keine Zeit findet für die Gantrisch-Kette und zu wenig Mut hat, im Jura keepwild zu klettern, kann sich trotzdem an den beiden neuen Führern erfreuen. Oder an der schönen Rezension.
„Sept. 65 Nünenenflue (2101 m) Aufstieg über Nordkante (beim ‚Abseilen‘ in die Gratlücke habe ich grosse Angst). Abstieg über Westgrat mit grosser Abseilstelle zum Leiterenpass. mit Eltern.“
Eintrag in meinem ersten, mehrheitlich noch vom Vater verfassten Tourenbuch. Mein erster Klettergipfel war die Nünenen, der grasig-kalkige Zacken östlich des Gantrisch, nicht. Das war das Riffelhorn bei Zermatt, im Juli 1963, mit knapp neun Jahren; aber offenbar musste ich dort nicht abseilen, während dieser Klettergipfel der Berner Voralpen solches verlangt. Bei der zweiten Abseilstelle hatte ich weniger Angst, obwohl sie wirklich ausgesetzt ist. 25 Meter hoch, wie ich dem jüngsten, eben erschienenen Führer entnehme. Die Aufstiegsroute über die Nordkante, über das sogenannte Gemsgrätli, ist gar mit der Schwierigkeit 5a bewertet. Offenbar sind wir damals in die Grasrinnen rechts oder links der Kalkrippe ausgewichen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass der Aufstieg auf die Nünenen mit meinen Eltern so schwierig war. Vielleicht hat aber die Angst vor dem ersten Abseilen alles andere verdrängt; denn an sie erinnere ich mich noch genau.
Klettern in der Gantrisch-Kette: Das tat man damals an der Nünenenflue, ein bisschen am Nachbarsgipfel Chrummfadenflue, am Stockhorn. Und vor allem in der Chemiflue-Gruppe ob Boltigen. Doch diese lag für uns, die wir in Belp im Gürbetal wohnten, auf der falschen Seite unserer Hausberge, im Simmental drüben. Dann schon lieber stundenlang zu den Felsen nordwestlich des Stockhorns mit den hübschen Namen Chatz u Mus aufsteigen, wo ich am 11. August 1966 mit dem Vater Abseilübungen gemacht haben muss. Das Wetter ist an diesem Tag perfekt gewesen: „Unerhörte Fernsicht, Berner Alpen, Dom/Täschhorn, Weisshorn, Grd. Combin, Aig. Verte, Montblanc!“
Die Aussicht von den Gipfeln der Gantrisch-Kette ist noch immer gleich unerhört. Was jedoch viel umfassender geworden ist, sind die Klettermöglichkeiten. Der 300seitige „Outdoorführer Gantrisch-Stockhorn-Schwarzsee“ beschreibt auf 120 Seiten 27 Klettergebiete. Daneben schlägt er Wanderungen, Klettersteige, Bike-, Ski-, Snowboard- und Schneeschuhtouren vor. Und er enthält sogar ein paar eiskalte Nordwandanstiege, so die gut 200 Meter hohe Nordostwand der Nünenenflue (2102 m). Werde ich wahrscheinlich nie machen, obwohl die Wand im kalten Winterlicht imposant und verlockend zugleich aussieht. Na ja, vielleicht doch mehr ersteres…
Aber das ist ja das Schöne an Führern: das Blättern darin, das Träumen von neuen Routen, das Sich-Erinnern an gemachte. Das lässt sich auch mit einem anderen ganz besonderen Führer machen: mit „Jura keepwild! climbs“ von Michael Kropac und Daniel Silbernagel. Die beiden Autoren stellen 20 Gebiete zum selber Absichern zwischen St-Imier und Baden vor, mit allen nötigen Infos und vielen Tipps zu diesem Klettern an selbst gelegten und wieder entfernten Sicherungsmitteln.
Ich blättere nochmals in meinem ersten Tourenbuch. 27. September 1966, Stockhorn-Westgrat mit Vater: „Anseilen und in schöner, z.T. luftiger Kletterei zum Gipfel.“ Vom Schlagen oder Benützen von Haken kein Wort. Von Klemmkeilen, Friends und Cams auch nicht.
Kurt Saurer, Bernhard Senn: Outdoorführer Gantrisch-Stockhorn-Schwarzsee. Jordi Verlag, Belp 2011, Fr. 49.-
Michael Kropac, Daniel Silbernagel: Jura keepwild! climbs. 20 Gebiete zum selber Absichern. www.topoverlag.ch, Basel 2011, Fr. 33.-