Ach du, meine Heimat!

Was zeigt man einer Ukrainerin von der Schweiz? Sind es die Glarner Tüechli? Die Bergseen? Die SBB-Billetautomaten? Oder etwas ganz anderes? Ein Versuch. © Annette Frommherz Spilauersee mit Katja 07 2016 (23)

Katja ist vor zwei Monaten in die Schweiz gekommen. Nicht als Flüchtling, nein, sie ist aus der Ukraine gekommen, weil sie in ihrem Veterinär-Medizinstudium ein Praktikum in einem landwirtschaftlichen Betrieb absolvieren soll. Eigentlich hätte sie sich für einen Betrieb mit Tieren interessiert, doch nun muss sie sich mit dem alten Kater und mit den Beeren und Kirschen im Betrieb meines Liebsten zufrieden geben. Katja stemmt gerne ihre Hände in die Seiten. Neben den paar wenigen Brocken Hochdeutsch fällt vor allem ihr befreiendes Lachen auf und ihre Selbstsicherheit. Bald will sie alles wissen: Wie sie nach Zürich kommt, wo man Rucksäcke kaufen kann, was die Schweizer am liebsten essen. Wir verständigen uns mit Gesten, Geräuschen, Händen und Füssen – es ist ein herrliches Zuschauen.

Wir wissen wenig über ihre Heimat. Wissen wir mehr über unsere? Eines Sonntags fahren wir mit Katja Richtung Riemenstalden, um mit der Chäppeli-Luftseilbahn an Höhe zu gewinnen. Die nostalgisch anmutende Bahn scheint uns die richtige, um Katja etwas Abenteuer zu vermitteln. Sie fotografiert auf dem Weg dahin alles, was sie vor Augen bekommt. Klick. Eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Was ist daran so interessant? Klick. Der spiegelglatte Lauerzersee. Klick. Die Galerie der Axenstrasse. Klick. Ein Ameisenhaufen. Klick. Das Hinweisschild beim Parkplatz. Mit einem Male sehe ich die Schweiz, unsere Heimat, mit anderen Augen.
Wie muss es für eine junge Frau sein, in ein Land zu kommen, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird und die Leute so anders sind als zu Hause? Mit welchen Erwartungen ist sie hierhergekommen? Katja ist – wie wir inzwischen wissen – auf dem Lande aufgewachsen. In ihrem kleinen Dorf lebt man von Selbstversorgung und dem Handel von Produkten. Die Pferde werden nicht geritten, sondern zum Ackerpflügen eingesetzt. Das Bild von Katjas Mutter und ihren Schwestern zeigt rotbackige, stämmige Frauen, die anpacken können. Ich könnte schwören, dass sie an den Händen Hornhaut haben.

Spilauersee mit Katja 07 2016 (2)

Wie ist die Schweiz? Was macht sie zu meiner Heimat? Wir zeigen Katja den Spilauersee, wie er im Wasser die Hänge spiegelt. Wir richten ihren Blick auf die Berge und hinunter in die Ebene; die Aussicht ist auf alle Seiten atemberaubend. Klick. Es ist die heile Welt, die wir ihr zeigen – in einer Welt, in der es Mode geworden ist, sich in die Luft zu sprengen und Unschuldige mitzureissen. Ich atme tief durch. Hier oben ist die Luft rein. Vielleicht wähnen wir uns auch einfach in falscher Sicherheit. Nichtsahnend liegen die grünen Matten, arglos wiegen sich die Blumen in der Alpwiese, makellos zeigt sich der Bergsee.
Ein bisschen berührt es mich schon, als wir mit Katja bei der Lidernenhütte ankommen und die Schweizerfahne sanft im Winde weht. Ist das der Heimatstolz? Klick. Katja hat die Speisekarte fotografiert und zeigt auf das Knoblauchbrot. Sie weiss, was sie will. Klick. Und weg wird sie sein. Schon in zwei Wochen. Wir werden sie vermissen.

Mit freundlicher Genehmigung von Katja, für Bild und Text.

Ein Gedanke zu „Ach du, meine Heimat!

  1. Liebe Annette
    Danke dass du wiedermal einen Text auf die Seite gesetzt hast. Wir haben auch dich vermisst.
    Herzlichst
    Emil

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