«Ah, très joli!»

Die Natur zeigt sich von der prächtigsten Seite, plustert sich in kräftigen Farben. Auch die Sonne prahlt. Ein kaum merklicher Wind zieht durch die Täler. Gründe genug, nach Felsen zu suchen. © Annette Frommherz

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Klettern tut, wer das Adrenalin in den Adern spüren will, sagen die Kritiker. Klettern tut, wer seine Grenzen ausloten muss, meinen die Neider. Klettern tut, wer die Langeweile schonen möchte, äussern die Belustigten. Klettern tut, wer hoch hinaus will und weil von oben die Welt so schön und klein ist, denken die Geniesser. Wir gehören zur letzten Sorte. Der Jura ruft uns auf den Plan.
Kaum lassen wir La Heutte ob Biel hinter uns, eröffnet sich uns ein Gebiet, das sich getrost ‚Le Paradis’ nennen darf. Eben noch durch wilden Wald wandernd, treffen wir auf die Felsen; kalkige Blöcke, wie aufeinander gestapelt und mit schönen Querkanten – meist knapp zum Greifen nahe. Zum Angewöhnen steigen wir in die Route ‚La purge’ (‚Abführmittel’) ein und hoffen, dass sie uns hinauf- und nicht hinabführt. Nach zwei Seillängen klettern wir dem Grat entlang. Ich muss mich wieder an die Höhe, an die Ausgesetztheit herantasten. Die zweite Route fordert: ‚Metatarses’ zwingt mich fast in die Knie. Um keinen Preis hätte ich mit meinem Vorsteiger tauschen wollen!
Am nächsten Tag wählen wir die Roches d’Orvin, von wo aus sich die Rundsicht in die Berner Alpen lohnt. Ein schöner Flecken Erde. Ich atme tief durch. Im Sektor ‚Grande dalle’ wagen wir nicht Kopf und Kragen, sondern entscheiden uns – vornehmlich nach meinem Gusto – für weniger waghalsige Seillängen. Während wir uns für eine nächste Route vorbereiten, stapft forschen Schrittes ein älterer Mann den lichten Wald hinauf und bleibt neben uns stehen. Welche Route wir gewählt hätten, fragt er in charmantem Französisch, den Kopf leicht zur Seite geneigt. ‚Les Bénévoles’. «Ah, très joli!» Bis wir merken, dass der Herr kein Geringerer ist als der Erbauer dieses Klettergartens höchstpersönlich: Monsieur Devaux. Welch’ Überraschung! Tochter und Schwiegersohn hätten die Routen inzwischen saniert, sagt er nicht ohne Stolz und erklärt mir in allen erdenklichen Details, wie die Route verläuft. Seinen Gesten kann ich besser folgen als seiner schnellen Sprache. Er selber könne nur noch einfache Routen klettern. Sein Arm, sagt er, und er zeigt mir, wie die Linie seiner Schmerzen entlang dem Ellenbogen verläuft. Es muss hart sein, die eigens erbauten Routen nicht mehr selber klettern zu können.
Neben uns steigt eine junge Frau in die Wand ein. An sich nichts Ungewöhnliches. Aber wer genauer hinschaut, sieht, dass ihr zweiter Arm in einem Stumpf knapp unterhalb des Ellenbogens endet. Wie um alles in der Welt kann sie sichern? Wie soll sie mit nur einer Hand greifen können? Florence heisst die Selbstbewusste. Mit einer Entschlossenheit klettert sie im Nachstieg die 5b hinauf, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt. Man will kaum glauben, was man sieht. Sicher steht sie mit den Füssen in der Wand und stützt sich mit dem Stumpf ab. Florence, die Blühende; wie treffend ist ihr Name. Sie sagt, sie klettere nun das zweite Jahr. Auch wenn meine Hand noch Wochen nach der Operation schmerzt: ich bin froh, sie zu haben. Chapeau, Florence! An dich werde ich immer wieder denken!

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