Allegra Unterengadin, du Lärchenpracht!

Wer den Herbst nur riechen kann, der rieche. Wer den Herbst nur sehen kann, der schaue. Wohl dem, der beides tut. © Annette Frommherz unterengadin-10-2011-14

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Was hat er protestiert, der Gute! Das Bike einwintern, wo doch der Herbst erst so richtig in Schwung gekommen ist! Ich füge mich. So unerträglich ist mir der Gedanke nicht, den Herbst nochmals durch die Sinne ziehen zu lassen. Ins Engadin wolle er, die Lärchen sehen in den Farben des Herbstes. Ich lasse mich gerne begeistern.
Uns bietet sich ein nicht handelsüblicher Anblick auf ein buntes Treiben. Herbst, du bist von ungeahnter Schönheit! Plustere dich nur auf, zeig dich auf dem roten Teppich. Du hast es verdient, dich im Sonnenlicht zu suhlen.
Ftan. Ein eindrücklicher Ort. 530 Einwohner, 14 Vereine. Ftan. Wunderschön gelegen auf einer Terrasse, der alte Dorfteil adrett angeordnet, und mittendrin die Kirche, so wie es sich gehört. Ftan. Mir ist, es fehle ein Vokal zwischen dem ‚F’ und dem ‚t’. Immer diese nasse Aussprache; so, als wolle man das Wort ausspucken. Dann die Entdeckung: Im ‚Bellavista’, wo wir nächtigen, ein Bild des Dorfes in schwarzweiss und darunter ‚Fetan’. Also doch. Ich winke die Wirtin herbei und frage nach. Früher, sagt sie, habe das Dorf Fetan geheissen, doch irgendwann sei das ‚e’ weggeblieben. Verloren gegangen? Sie zuckt mit den Schultern.
Auf der Alp Clünas auf 2444 müM hängen wir anderntags unsere nassgeschwitzten Leibchen über die Pfosten. Von fern hören wir die Glocken, die die Treuen in die Kirche treiben, um Wasser predigen zu lassen und Wein zu trinken. Vielleicht liegt das ‚e’ von Ftan unter einer der Kirchenbänke. Oder klebt gar zwischen den dünnen Seiten der Gesangsbücher, die gestapelt auf die Sänger warten.
Die Sonne lässt die Lärchen in ein orange-gelbes Licht tauchen. Mein Mitbiker freut sich wie ein kleiner Bub, der seine ersten Legosteine bekommt. Schau nur, mein Lieber, schau dich satt, so schnell strample ich nicht mehr 800 Höhenmeter bis hinauf in den Schnee! Der wird bei der Abfahrt rasch zu Matsch, später zu Schlamm, und manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als durch den Morast zu waten und das Bike durch den Brei zu schieben. Mir widerstrebt es nicht, mal wieder so richtig zu drecklen.
Bald schon sehen wir die Dächer der Alp Laret. Auch hier halte ich umsonst Ausschau nach einem verirrten ‚e’. Die Steinhäuser stehen verlassen. Von da gelangt im Sommer die Bio-Milch über eine Pipeline direkt in die Sennerei in Ftan. Kaum sind die Kühe also auf der Alp gemolken, kann knapp zwei Stunden später mit der Verarbeitung von Käse und Glacé begonnen werden. Die Glatsch Balnot, wie die süsse Versuchung heisst, ist nämlich weitherum bekannt und wird sogar nach Zürich geliefert.
Während ich mich auf dem abschüssigen Pfad in der Fahrtechnik zu verbessern versuche, denke ich zurück an den gestrigen Abend. Im ‚Bellavista’ feierte eine 90-jährige ihren Geburtstag. Die Ftanerin habe im Dorf Flyer verteilen lassen und alle eingeladen, wurde uns erzählt, nachdem sie sich für eine Auswahl der Gäste nicht habe entscheiden können. Schliesslich soll man es sich nicht verderben mit den Nachbarschaften. Vielleicht braucht man die noch, wenn man mal alt ist, wird sich die gute Frau gedacht haben. Wir wären aufgefallen, hätten wir uns unter ihre Gäste gemischt. So spielen wir am Fussballtisch, den wir im Vorbeigehen in einem Nebenraum entdeckt haben. Gegen meinen Widersacher habe ich keine Chance. Bis sich ein Alter dazugesellt, dem die Augen leuchten, als er den Spieltisch sieht. Ich flehe nach seiner Unterstützung, und er lässt sich nicht zweimal bitten und übernimmt die Verteidigung und das Goal. Nach dem zweiten Punkt wechseln wir zum Du. Wir sind ein gutes Team, unser Gegner muss einstecken, das Spiel ist schnell entschieden. Claudio, der Retter meiner Ehre, ist 83 und hier geboren. Seinerzeit, sagt er, habe er seinen Beruf in Chur gelernt und dafür drei Stunden per Bahn über den Albula fahren müssen. Mit seinem Rumantsch sei er in Chur damals nicht weit gekommen. Man habe ihn ausgelacht und er habe innert Kürze Deutsch lernen müssen. Als seine Frau hinzu kommt und ihm kopfschüttelnd den Mantel reicht, eilt es ihm nicht heimzukommen. Viel lieber, man sieht es ihm an, wäre er geblieben und hätte mit mir bis in die Morgenstunden getöggelt und erzählt und ‚Goooool’ gerufen. Ein wehmütiges Winken zum Abschied muss genügen. Vielleicht ist es Claudio, der das ‚e’ von Ftan gefunden und es zuhause auf den breiten Fenstersims gestellt hat. Ich habe versäumt, ihn danach zu fragen.
Mit dem fortgeschrittenen Nachmittag wärmt die Sonne zaghafter. Der Weg führt uns bikend auf der Anhöhe zurück nach Ardez, Guarda und Lavin, wo wir den Zug besteigen, der heuer dank dem 19 Kilometer langen Vereina-Tunnel gerade mal einen Drittel der Fahrzeit benötigt als noch zu Claudios Zeiten. Wir atmen nochmals tief ein. Wir schauen nochmals in die gelben Lärchen. Wir sammeln all die Eindrücke, die Farben und Gerüche, gelb und moosig und frisch, um sie zu Hause zwischen Buchdeckeln plattzudrücken, gefrierzutrocknen und in Einmachgläser abzufüllen.

Ein Gedanke zu „Allegra Unterengadin, du Lärchenpracht!

  1. schön, wenn der tag mit solchen buchstäblichen schmankerln beginnt, das wärmt. gerne würde ich mich mit einem möglicherweise sachdienlichen hinweis bedanken: in der dufourkarte hiess das dorf noch fettan. ob das «e» also mit einem der beiden «t» (und mit welchem wohl) durchgebrannt ist?
    und: ich ahnte es, das unterengadin wäre die bessere, sonnigere wahl gewesen. bin zu früh ausgestiegen, vorgestern, in bergün. dort blies ein föhn so grau wie bei emil, es roch bereits nach winter, nach schnee (von dem es auch hatte). nichts da zum mitnehmen und einmachen wie bei dir. aber schliesslich ist auch schon räbeliechtliziit, das letzte erntedankfest des jahres. zeit, sich für den sommer und herbst zu bedanken. und die ski in den service zu bringen.

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