Alpen Appelle

Das Leben in den Alpen wird wärmer, härter und gefährlicher. Was können Flachländer, Bergler und Schneehasen dagegen machen? Drei neue Publikationen geben Antworten.

«Der seit der Eiszeit entstandene Naturcharakter des Berges verschwindet, wo es Skipisten gibt. Damit hat sich der Natursport Skifahren weitestgehend von seinen Ursprüngen zu einem technikbasierten Sport emanzipiert. Und genau darum hat gerade der vermeintliche Natursport Skifahren auch diese besondere exemplarische und symbolische Bedeutung. Frau Holle gibt es nur im Märchen, den Winterzauber fast nur noch in der Werbung und den Pulverschnee auf Skipisten nur in den Köpfen.»

Schlimmer noch, wenn wir in der Streitschrift von Georg Bayerle zur düsteren Zukunft der Alpen weiterlesen. Sie leiden bekanntlich besonders unter dem von uns verursachten Temperaturanstieg. Daran kann auch der Schnee bis 2000 Meter, den der Wetterbericht vorgestern gemeldet hat, nichts ändern. Georg Bayerle, Spezialist für Berge und Umwelt beim Bayerischen Rundfunk, schreibt in seinem aufrüttelnden Taschenbuch «Der Alpen Appell. Warum die Berge nicht zum Funpark werden dürfen», dass in der Terminologie der Pistenbetreiber der technisch hergestellte Schnee «gleichsam zu einer Schneevariante naturalisiert wird – so wie Speicherbecken im Sommer als eine Art Bergsee-Kopie inszeniert werden, ungeachtet des vorausgegangenen Eingriffs und der implantierten Betonschale in der Landschaft. Freilich ist es im Winter ästhetisch schöner, wenn die Landschaft schneeweiß ist, statt künstlich oder eben technisch erzeugte weiße Bänder auf braungrünen Bergen zu sehen.»

Georg Bayerle analysiert auf 160 Seiten schonungslos den Zustand eines immer fragiler werdendes Ökosystems, hinterfragt die auf reiner Ausbeutung basierende Alpenökonomie – und zeigt Wege für die Zukunft auf, wie wir das grossartige Gebirge mitten in Europa doch noch vor uns (halbwegs?) retten könnten. Als Alpenkenner, Filmemacher und Journalist hat er die mit oft sehr fragwürdigen Methoden durchgezogene Erschliessung und Vereinnahmung der Alpen seit mehreren Jahrzehnten im Blick, und das privat wie beruflich. Allerdings werden viele Anmahnungen wohl verpuffen, das schlechte Gewissen der Touristen und der Anbieter reicht meistens nur bis zum nächsten Hoch bzw. Tief (in der Kasse). Trotzdem oder erst recht: lesen! Der Bayerle hat gut Platz im Wander-, Kletter-, Hoch- oder Skitourenrucksack. Für die Pistenflitzer gibt es ihn als E-Book.

Ebenfalls wenig Platz braucht das Juliheft von NZZ Folio. Der Fokus richtet sich auf das Überleben am Berg: «Wenn die Heimat ins Rutschen gerät». Was leider immer häufiger passiert, zuletzt mit dem Bergsturz in Blatten und in diesen Tagen wieder verstärkt mit Brienz GR. Dazu im Heft das ausgezeichnete Interview mit dem Burgdorfer Gebirgshistoriker und Bergprofessor Jon Mathieu unter dem Titel «Straft Gott, oder schlägt die Natur zurück?» Die drei andern tiefschürfenden Artikel erzählen vom Dorf Braunwald im Glarnerland, das ums Überleben kämpft; vom Schneehasen, der ganz besonders unter dem immer wärmeren Klima leidet. Schliesslich verrät Flurin Clalüna, der im Bündner Passdorf Bivio aufgewachsen ist, wie viel Bergler in ihm als heutigem Zürcher noch steckt. Doch sind wir Schweizer und Schweizerinnen nicht alle ein bisschen Bergler – am 1. August noch ein Fähnchen mehr?

Die dritte empfehlenswerte Publikation dieser Woche taugt nur fürs Sofa oder Balkonien. Martin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus, und Hansruedi Müller, emerierter Leiter des Forschungsinstitutes für Freizeit und Tourismus an der Uni Bern, widmen sich in «Unterwegs. Begegnungen und Reflexionen zum Tourismus» 20 Themen, von der Resilienz über Ästhetik oder Overtourismus bis zur Diversifikation. Zusammen mit 20 Schweizer und internationalen Persönlichkeiten entfaltet sich ein facettenreiches Panorama aus Diskussionen, Einschätzungen, Erkenntnissen und Tabellen. Einer dieser befragten Fachleute ist Reto Knutti, Ordinarius für Klimaphysik an der ETH Zürich und Hauptautor von zwei Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (gehört wohl nicht zur Lieblingslektüre des bekanntesten Golfspielers der Welt). Hervorgehobenes Zitat von Knutti: «Zu glauben, dass in gefährdeten Gebieten der Wintersport mit finanziellen und technischen Mitteln zu retten ist, zeigt, dass man im Tourismus noch immer zukünftige Realitäten nicht wahrhaben möchte. Mit der Physik kann man nicht verhandeln! Es wird zu warm, um zu beschneien. Unterhalb von 1500 Metern über Meer sollte nicht mehr in den Wintersport investiert werden.»

Georg Bayerle: Der Alpen Appell. Warum die Berge nicht zum Funpark werden dürfen. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2025. € 20,00.

Überleben am Berg: Wenn die Heimat ins Rutschen gerät. NZZ Folio Nr. 374, Juli 2025. Fr. 13.10. Erhältlich an grösseren Kiosken. Und: www.nzz.ch/folio.

Martin Nydegger, Hansruedi Müller: Unterwegs. Begegnungen und Reflexionen zum Tourismus. Weber Verlag, Thun 2024. Fr. 49.-

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