Alpinismus-Geschichte(n)

Der Alpinismus gehört seit ein paar Wochen zum Unesco-Kulturerbe. In fünf Büchern begegnen wir seiner Geschichte.

« Le mont Aiguille, c’est pointu! Il ne faudra pas moins de vingt bonhommes sérieusement équipés pour en venir à bout. L’organisation est militaire : on repère l’itinéraire, on fait le siège de la montagne comme celui d’un château fort, on installe des échelles, on place des cordes fixes… bref, quatre cent soixante ans avant la conquête de l’Everest, c’est dans le Dauphiné qu’on invente la lourde expédition himalayenne. ‘Antoine ! Que vois-tu depuis là-haut ?’ lui hurle le roi resté en bas. ‘Je vois la mer, Votre Majesté !’ »

Superbe! Wunderbar! Ein Schlüsselmoment in der Geschichte des Alpinismus, die Erstbesteigung des Mont Aiguille (2087 m) am 26. Juni 1492 durch Antoine de Ville und seine Männer. Losgeschickt auf Befehl von König Karl VIII,. der diesen einmaligen Gipfel, ringsum senkrecht abfallend und oben flach wie ein Fussballfeld, erobert sehen wollte. Zufällig oder eben nicht: im gleichen Jahr, in dem Kolumbus nach Amerika segelte. Die Erweiterung des menschlichen Horizontes in der Vertikalen und Horizontalen.

Natürlich sieht man vom Mont Aiguille das Mittelmeer nicht. Aber dass man es sehen könnte: pourquoi pas? Im roten, rucksacktauglichen Buch „La Dent du Piment. Balade épicée dans l’histoire de l’alpinisme“ tauchen immer wieder solch weiterführende Gedanken und Verknüpfungen auf, manchmal nett, da und dort auch weniger. Thomas Vennin peppt die Alpinismusgeschichte sozusagen mit Chilischoten auf, von den Anfängen, als die Berge entstanden, bis zur Rettung der französischen Alpinistin Élisabeth Revol am Nanga Parbat im Januar 2018. Die Aufnahme des Alpinismus in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit durch die UNESCO am 11. Dezember 2019 hätte Vennin bestimmt ebenfalls mit eigenen Worten gewürzt. Dafür blickt er voraus auf die Erstbesteigung des Mont Olympus (21229 m) auf dem Mars durch Reinhold Messner… Dessen Geburtsdatum hat der Autor übrigens falsch notiert: Es nicht der 14., sondern der 17. September. (Ich weiss das genau, weil ich am gleichen Tag Geburtstag habe).

Nicht als Lektüre für unterwegs, sondern auf stabilem Tisch zuhause ist folgendes Werk gedacht: „Haute montagne. Les plus grands noms de l’alpinisme. 100 ans d’histoire avec le GHM“, verfasst von Gilles Modica, Bernard Vaucher, Philippe Brass und David Chambre. Hinter dem Kürzel GHM steht die Groupe de Haute Montagne, 1919 von Jacques de Lépiney, Paul Chevalier und Paul Job gegründet, Alpinisten und Kletterer aus Paris, Mitglieder der Rochassiers. Die GHM sieht sich als Verein, der die Elite der französischen und internationalen Alpinisten vereint; wer auf www.ghm-alpinisme.com/ die Listen der lebenden und verstorbenen Mitgliedern scannt, wird grosse Namen entdecken. Aber nicht alle grössten Alpinisten gehör(t)en zu diesem elitären Club – insofern sollte man den Titel dieses Buchs nicht missverstehen. Es rollt die mehr oder weniger bekannte Geschichte des Alpinismus der letzten hundert Jahre auf, mit Schwergewicht auf französischen Akteuren. Dabei ist die Ikonografie so grossartig wie oft überraschend.

Gilles Modica, einer der Autoren des GHM-Jubiläumsbuches, hat in der Reihe „hommes & montagnes“ der Éditions Glénat einen lesenswerten Reader herausgegeben: „Destins d’alpinistes. Du comte Russell à Benoît Grison“. Darin porträtiert er 25 französische Alpinisten und einen welschen (Louis Spiro), bis auf einen (Serge Coupé) alle verstorben. Viele Namen wird man nicht kennen, ausser zum Beispiel Armand Charlet, den König der Aiguille Verte, oder Édouard Frendo, der einem Pfeiler in der Nordwand der Aiguille du Midi den Namen gegeben hat. Aber Andéol Madier de Champvermeil? An der Aiguille Dibona in den Dauphiné-Alpen hat er zwei schwierige Routen eröffnet. Vielleicht bin ich seinem Namen begegnet bei meiner Besteigung am 11. Juni 1975… Was im Buch von Modica allerdings fehlt, sind Frauen. Hoffentlich schreibt Gilles Modica am zweiten, weiblichen Band von „Destins d’alpinistes“.

In Gender-Fragen geben Pietro Garanzini & Rossella Monaco eine überzeugende Antwort. In „I grandi eroi della montagna. Uomini e donne che si sono distinti sulle vette più alte de mondo, superando i limiti umani” erzählen sie von herausragenden Touren von 22 Alpinisten und 11 Alpinistinnen. Die meisten von ihnen, nämlich neun, stammen logischerweise aus Italien; drei kommen aus der Schweiz (Loulou Boulaz, Erhard Loretan und Marco Pedrini). Manchmal wünschte man sich ein paar biografische Angaben mehr, doch im Zentrum steht immer die besondere Tour, die mit erzählerischen Mitteln wiedergegeben ist. Da kann es halt schon vorkommen, dass Details nicht ganz stimmen. Bei Lucy Walkers Frauenerstbesteigung des Matterhorns jedenfalls war ihr Bruder Horace nicht dabei.

Die Walker Family. Ganz grosse Figuren in der Geschichte des Alpinismus, mit der Pointe Walker, dem höchsten Gipfel der Grandes Jorasses, und dem gleichnamigen Pfeiler in der Nordwand. Und nun also gehört der Alpinismus zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Wie es dazu kam, wer die Fäden bzw. Seile spannte, was das bedeutet: Das sagt uns Bernard Debarbieux von der Uni Genf in „L’Unesco au Mont-Blanc“. Und selbstverständlich erklärte er uns in diesem roten, rucksacktauglichen Buch auch, was das eigentlich ist, der Alpinimus.

Thomas Vennin: La Dent du Piment. Balade épicée dans l’histoire de l’alpinisme. Éditions Paulsen-Guérin, Chamonix 2019, € 13.50.
Gilles Modica, Bernard Vaucher, Philippe Brass und David Chambre: Haute montagne. Les plus grands noms de l’alpinisme. 100 ans d’histoire avec le GHM. Éditions du Mont-Blanc, Chamonix 2019, € 45.-
Gilles Modica: Destins d’alpinistes. Du comte Russell à Benoît Grison. Éditions Glénat, Grenoble 2018, € 20.-
Pietro Garanzini & Rossella Monaco: I grandi eroi della montagna. Uomini e donne che si sono distinti sulle vette più alte de mondo, superando i limiti umani. Newton Comton Editori, Roma 2019, € 10.-
Bernard Debarbieux: L’Unesco au Mont-Blanc. Éditions Paulsen-Guérin, Chamonix 2020, € 15.-

Ein Gedanke zu „Alpinismus-Geschichte(n)

  1. Super Liste, besonders Thomas Vennin begeistert mich unglaublich. Zwar eine Herausforderung an mein Schulfranzösisch aber das ist es auf jeden Fall wert! Ich muss zugeben, wirklicher Alpinist bin ich keiner, das höchste das ich unter Mühen je erklommen habe ist die Hohe Weiße (3280 m) im Urlaub in Südtirol, aber ich bin trotzdem glühender Fan von allem was damit zu tun hat, vom trockenen Bericht bis zur ausgeschmückten Fiktion.
    Dass Vennin dann auch noch sehr kurzweilig schreibt ist hier ein Bonus obendrauf, den ich nicht unerwähnt lassen kann 🙂

    LG Hannes

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