Wandern und die alte Schweiz neu erleben – historische Wege erzählen Kultur- und Verkehrsgeschichte.
„Ich kann nicht sagen, wie malerisch und interessant der Weg für einen Maler ist: hier ist alles, was man Großartiges, Schauerliches und Furchtbares sehen kann! Es fehlten nur die Hexen, Kobolde, Drachen, Lindwürmer, Schlangen und Teufel; es war der Ort für Furien, Minotauren, Sphinxe, Vulkan, Pluto, Zeus, den Donnerer! Wir bekamen mit zur Begleitung ein schreckliches Donnerwetter, der Sturm tobte und pfiff und dröhnte, die Blitze zuckten und schlugen an die Felsen, als wenn man tausend Kanonen und Tritonenhörner hörte, als wenn der Jüngste Tag anbrechen wollte! In meiner Phantasie entstand ein Bild nach dem andern. (…) Diesen Weg sollten alle machen, die zum Dichten begabt sind!“
Ludwig Emil Grimm war sozusagen auf dem Weg zum Dichter, als er die Viamala in „Erinnerungen aus meinem Leben“ (1816) beschrieb. Andere Reisende haben die Schlucht gemalt, durch die sich der Hinterrhein zwängt und die an der Route von Graubünden über den Splügenpass nach Italien durchquert werden muss – heute mehrheitlich in Tunnels, einst aber auf schwankenden Stegen. Reisende sollen sich die Augen verbunden haben, um nicht in die schauerliche Tiefe blicken zu müssen.
Der Zürcher Fotograf Heinz-Dieter Finck stieg knapp 200 Jahren nach Grimm in die Viamala-Schlucht hinab, um die steinernen Bogenbrücken von unten zu fotografieren – eine von rund 300 Aufnahmen für den Bildband, der die 12 historischen Kulturwege durch die Schweiz vorstellt. Eine davon ist eben die Via Spluga von Thusis nach Chiavenna. Wie Hanspeter Schneider, Geschäftsführer von „ViaStoria – Zentrum für Verkehrsgeschichte“, im Vorwort schreibt, erzählt jede der 12 Via-Routen einen Teil der Kultur- und Verkehrsgeschichte der Schweiz, von der fast 2000 Jahre alten ViaRomana bis zur 1863 eröffneten ViaCook.
Mit Heinz-Dieter Finck oft doppelseitig publizierten Fotos wandern wir mit und erleben eine alte Schweiz neu. Zwar müssen wir manchmal etwas blättern und suchen, bis Fotos und ausführliche Legenden zusammenpassen, aber wir bleiben auf der Route. Zu jedem Kulturweg gibt es eine kurze Einführung, und mittendrin im Buch finden sich noch Ausschnitte aus zeitgenössischen Berichten, wie eben derjenige von Grimm. Betrachtet man übrigens das Titelbild mit dem Gemmipassweg, so könnte seine Beschreibung der Viamala durchaus auch für diesen Kulturweg passen. Nur möchte ich dann dort nicht in ein Gewitter geraten!
Heinz-Dieter Finck: Alte Wege – neu gesehen. Chemins historiques – un regard nouveau. Herausgegeben von ViaStoria Kulturwege Schweiz/Itinéraires culturels en Suisse. Weber Verlag, Thun 2010, Fr. 49.-