Am Balladrum

Nordföhn, doch die Felsen im Süden sind warm. Klettern zwischen Ameisen und Eidechsen und alten Geschichten.

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Der Fels ist körnig, von dunklem Braun und erinnert an den Gritstone im Peak District. Doch im Gegensatz zum britischen Klettermekka sind die Routen mit Bohrhaken gesichert, der erste steckt zwar so hoch oben, dass ich meine Partnerin bitte, zu «spotten» – also im englischen Sinn des Wortes, nicht im deutschen. Aber man sagt dem halt so, wenn die Sichernde mit ausgestrecken Armen versucht, einen Bodensturz zu dämpfen. Ich habe mit solchen einige leidvolle Erfahrungen gemacht. Statt zum ersten Haken führte der Weg zum Arzt.
Es ist warm, Nordföhn, der Lago Maggiore in der Tiefe wirkt wie ein Spiegel, der die Sonnenwärme zu uns herauf reflektiert. Die Birken, die den Gipfelkopf des Balladrum umkränzen, sind laublos, so fällt der Blick weit über den See, die Brissagoinseln, das Maggiadelta mit den Hotelkästen an der Strandpromenade von Ascona. Das Gambarogno am jenseitigen Ufer liegt im Schatten. Mein Vater hatte dort drüben mal ein Häuschen, focht einen epischen Kampf gegen eine Invasion von Ameisen, die ihn schliesslich vertrieben. Wahrscheinlich werden die Ameisen am Ende der Geschichte die letzten Menschen aus ihren Erdhöhlen vertreiben, schon heute soll ihre Biomasse jene der gesamten Menschheit übersteigen. Und die Eidechsen? Hier wieseln sie über den Fels und freuen sich an der unverhofften Winterwärme. Die besseren Kletterer als wir sind sie ohnehin. Da frag man sich gleich wieder, warum es uns noch gibt, wo uns doch die Tierwelt in allem überlegen ist. Aber eigentlich frage ich mich das ja gar nicht, denn beim Klettern gibt es doch nur die Frage, wie komme ich über die nächsten zwei Meter bis zum Haken an der Kante.
Wahr ist aber, dass mir beim Blick von der Höhe auf die verschneiten Tessiner Gipfel das Lied «Addio Lugano bella …» durch den Kopf geht, wo es dann heisst «… addio bianche di neve, montagne Ticinesi…». Wenn ich das höre, kommen mir stets die Tränen. Es ist das Lied von der Ausschaffung des Anarchisten Pietro Gori aus der Schweiz im Jahr 1895, im Gefängnis soll er den berührenden Text gedichtet haben. Wir sangen es vor Jahren unter roten Fahnen und an den Feste dell’ Unità in unserer italienischen Zeit und auch später noch, als man noch träumte. (http://www.youtube.com/watch?v=5qF2O48B_Dk)
Das Lied zeigt ja auch, dass Ausschaffungen hierzulande Tradition haben, nicht nur Asyl. Immerhin konnte sich der Anarchist Bakunin da unten auf Monte Verità erholen, wie auch andere schräge Vögel. Etwa der junge Hermann Hesse, der sich nackt in diesen Felsen tummelte und hoffte, vom Alkohol wegzukommen. Der Balladrum übrigens ist ja meiner Meinung nach der Berg, den Hesse in seinem Märchen «Der schwere Weg» verewigte. «Das war ein sonderbarer Berg und ein sonderbarer Gipfel! Auf diesem Gipfel, den wir über so unendliche nackte Steinwände erklommen hatten, auf diesem Gipfel wuchs aus dem Steine ein Baum, ein kleiner, gedrungener Baum mit einigen kurzen, kräftigen Ästen.» Auf dem Gipfel fand ich einmal ein Bäumchen, das jemand gepflanzt hatte, vielleicht eben in Gedenken an Hesse und sein seltsames Märchen. Ob es da noch wächst, kann ich nicht sehen, denn die Umlenkungen sind unterhalb des Gipfels eingebohrt, wie das halt so ist beim Sportklettern. Und unsere Wege sind auch nicht schwer, sondern «plaisir».

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