Am Berg

An der Schlüsselstelle, auf halber Höhe des Grates, überließ Ralph ihr die Führung. Er war das glitschige, nasskalte Kamin zweimal angegangen, zuerst mit einem weiten Spreizgriff, dann mit verkeiltem Körper und Kraftzügen, das Seil spannte gefährlich. An einem anderen Ort und in anderer Seilschaft hätte er es nochmals versucht, der trotzige Zorn hätte ihn hochgetrieben, aber es war nicht der Ort für Kraftbeweise: Die Beweglichkeit, die leichte Körperhaftigkeit, mit der Julia fast schwerelos hochgestiegen war, war ihm nicht entgangen. Er übergab ihr lächelnd.

Benedikt Weibel, ehemaliger Chef der SBB und Bergführer, ist bekannt. Sein Bruder (noch) etwas weniger. Peter Weibel ist Arzt – und Autor. Seit über 25 Jahren veröffentlicht er Lyrik und Prosa. Jüngstes Werk ist „Am Berg“, eine Erzählung in der Tradition der „Bergfahrt“ von Ludwig Hohl. Dass eine Nebenfigur bei Weibel Gohl heisst, ist wohl kein Zufall – „aber Gohl war stumpf geworden für die Sprache des Bergs, für die Sprache des Lebens“. Genau das sind sie nicht, weder der Autor noch seine vier Hauptfiguren am Berg: Georg, ein alter Mann, der Erlösung vom Tod seiner innigst geliebten Hanna nicht zufällig beim Bergsteigen sucht; Ralph und Julia, ein junges Paar, das sich beim und durchs Klettern findet; der Hüttenwart Berger, der gerne in alten Hüttenbücher liest und Schach spielt, dann aber plötzlich aufbricht, weil die Partie erst am Fels entschieden wird.

Wie – verrate ich Euch nicht. Selber lesen. Auch diejenigen, die nicht oder kaum in die Berge steigen, dürfen sich den Sätzen von Schriftführer Peter Weibel anvertrauen. Nicht blindlings, nicht voll im Nordwind. Aber mit voller Konzentration, wie wenn man den nächsten Griff suchte – und fände. Und nicht ohne, dass das Ziel der Fahrt, des Lebens vielleicht, dem Hüttenbuch anvertraut wurde.

Peter Weibel: Am Berg. Erzählung. Waldgut Verlag, Frauenfeld 2008, S. 29. Fr. 34.-

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