An der Betonwand

Was tun an einem schönen Sommertag, wenn Kletterpartner fehlen? Wenn die blauen Berge locken und die Sehnsucht einen fast verzehrt?

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Es ist zum Verzweifeln. Ein perfekter wolkenloser Tag nach dem andern, beliebig freie Zeit, doch niemand, der mit einem in die Berge oder an die Felsen käme. Die Jungen sind bestimmt auf grossen Routen unterwegs – sie anzurufen getraut sich der Alte ohnehin nicht – die Altersgenossen verbringen diese Wochen im Ferienhaus mit den Enkeln, vermutet man. Ein Mail schicken? Aufs Handy anrufen? Ich hab’s ja ein paar Mal versucht, irgendwann gibt man auf.
Gegen Abend wird der Leidensdruck zu gross, ich packe Kletterschuhe in einen Migrossack und mache mich auf zur Uni Irchel. Unterwegs stoppt ein Elektrobike neben mir, ein Bekannter, braun gebrannt, schwärmt vom Matterhorn, das er gestern mit Bergführer überschritten hat. Zmutt auf, Hörnli ab, er nennt fantastisch kurze Zeiten, die ich gleich wieder vergesse. So wie ich das Matterhorn vergessen habe. Schon lange. Seit dem schrecklichen Unfall damals …
«Tschau und machs guet …»
Die Betonwand beim Sportzentrum liegt im Schatten, tatsächlich trainiert da ein Junger mit Kraushaar. Kurzer Blick. Ich ziehe die Kletterschuhe an. Die Wand ist knifflig, winzige Griffe und Tritte. Der rohe Beton fühlt sich an wie kleinkörnige Nagelfluh. Risse, Leisten, Schuppen, Überhänge, alles ist da. Geht ganz schön in die Finger, ist auch bestes Training fürs Stehen auf fast nichts und fürs Gleichgewicht. Es gibt auch grosse Griffe für Anfänger (oder wenn’s nicht anders geht), da klettert jetzt eine junge Frau in Turnschuhen ganz hinauf. Also ich würde das nicht unbedingt wagen, die Wand ist zu hoch für einen Sturz. Der Kraushaarige ermutigt sie. Dann verbeisst er sich wieder in eine Kombination aus winzigen Griffchen im überhängenden Teil, putzt sie mit der Zahnbürste. Versucht wieder und wieder. Er bietet mir Magnesia an. Ich schaue mir mal sein Problem an, keine Chance, die Griffchen zu halten.
Trotzdem sagt er: «Du hast sicher schon viele Klassiker geklettert.»
Vielleicht ist das ja ein Lob. Er kommt aus Dresden, ein Elbsandsteinfreak. Klettert auch im Bockmattli, im Jura, auf der Galerie. Hat leider nicht gerade viel Zeit, Prüfungen.
«Bockmattli, war mal mein Gebiet», sage ich.
«Hast du den Supertramp geklettert?»
«Vor vielen Jahren.»
«Donnerwetter!»
«Ich war dort mit einem super Kletterer. Hätte nicht alles vorgestiegen.»
Stimmt nicht ganz. Ich bin wohl gar nichts oder vielleicht eine leichtere Seillänge vorgestiegen.
Ich weiss nicht, ob ich wieder mal mit meinem Alter kokettiert habe, obwohl ich mir das ja abgewöhnen will. Jedenfalls schätzt mich der Junge auf fünfzig, vielleicht ein bisschen darüber … Mein wahres Alter glaubt er nicht.
«Du kannst ja mal googeln. Gib einfach Emil, Kletterer, Zürich ein. Dann findest du mich.»
Ob er es gemacht hat, weiss ich nicht. Jedenfalls packe ich zufrieden meine Schuhe ein und fahre nach Hause. Fast ein bisschen beglückt. Wie wenig braucht es doch.
Doch heute bin ich wieder verzweifelt. Strahlender Tag und gar nicht mehr so heiss. Eigentlich perfekt für die Galerie im Morgenschatten, dann hinab an den See zum Baden. Ich sitze am Computer, die Storen heruntergelassen, schreibe. Schon als junger Mensch habe ich geschrieben, wenn ich nicht klettern konnte. Aus Verzweiflung, Sehnsucht, was immer auch. Man sagt doch, im Alter kehre man wieder zurück in die Jugend und Kindheit. So ist es wohl. Auf die Betonwand verzichte ich heute.

Bild vom Internet.

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