Der eine fuhr einen Volkswagen, der andere einen Jaguar. Beide gehörten der legendären Gruppe 47 an, dem melting pot der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Und beide hatten einen Wohnsitz im Tessiner Bergdorf Berzona im Onsernonetal. Der eine ging schon beinahe vergessen, zum Glück gibts Geburtstage. Andersch und Frisch – warum nicht wieder mal im Büchergestell nachschauen, ob da noch irgendwo ein zerlesenes Exemplar steht.
„Bitte schicken Sie mir das Manuskript an meine Ferienadresse Berzona, Valle Onsernone, Tessin.“
Schrieb der deutsche, 1972 in der Schweiz eingebürgerte Schriftsteller Alfred Andersch in Stuttgart seinem Schweizer Kollegen Max Frisch in Zürich am 10. Juli 1957. Am 4. Februar 2014 wird der 100. Geburtstag von Andersch gefeiert. Aus diesem Anlass bringt der Diogenes Verlag den hochinteressanten Briefwechsel zwischen ihm und Max Frisch heraus. Jan Bürger hat ihn herausgegeben und mit einem Vorwort, ausführlichen Anmerkungen, einer Zeittafel zu Leben und Werk sowie einem Personen- und Werkregister versehen. In diesem Briefwechsel spielt Berzona im Valle Onsernone – es gibt im Tessin noch zwei weitere Orte mit demselben Namen – eine ganz besondere Rolle. Denn Andersch lebte von 1958 bis zu seinem Tod 1987 mit Unterbrüchen in diesem Dorf in den westlichen Tessiner Alpen, mit Frisch als ständigen Nachbarn von 1965 bis 1970, und auch später zuweilen, wenn sich der Autor des „Homo Faber“ (um das Manuskript dieses Romans handelt es sich in der oben wiedergegebenen Passage) dort ferienhalber aufhielt.
Berzona spielt im Briefwechsel zwischen den beiden grossen Autoren keine grosse Rolle. Ja, aus der gemeinsamen Zeit sind schriftliche Zeugnisse ausgesprochen rar. Wenn man nebeneinander wohnt, muss man sich ja auch keine Briefe schreiben. Am 8. April 1964 hatte Andersch seinen Freund, der sich bei ihm über den hohen Kaufpreis des Grundstücks beklagt hatte, so getröstet: „Die Zeit wird kommen, wo man uns für unsere Berzona-Besitztümer die höchsten Preise anbieten wird.“ Nun, sie blieben Besitzende, aber nicht wirklich Freunde. Denn den beiden „Virtuosen der Empfindlichkeit“ (so der Literaturkritiker Martin Ebel im „Tages-Anzeiger“ und „Bund“ vom 29. Januar 2014) geriet eine Passage über Andersch, die ihm Frisch für sein „Tagebuch 1966-71“ zum Gegenlesen gegeben hatte, in den falschen Hals. Ganz so neu, wie dieses Zerwürfnis nur dargestellt wird, ist es allerdings nicht. Bereits im vierbändigen Katalog zur Ausstellung „Max Frisch, Berzona“ im Museo Onsernonese kam die Entfremdung zur Sprache; die Ausstellung fand zum 100. Geburtstag von Max Frisch (1911-1991) statt. Ab April 2014 blickt das Museum auf den andern berühmten Dorfbewohner zurück.
„Wenn Andersch nicht gewesen wäre, hätte ich nicht den Mut gehabt, hier zu bleiben,“ verriet Frisch in einem Interview mit „La Voce Onsernonese“. Was er zu Berzona sagte und schrieb, auch in „Montauk“ und natürlich in „Der Mensch erscheint im Holozän“: All das findet sich im zweiten Band der Ausstellungspublikation. Umso erstaunlicher, dass sie in der Bibliographie zum neu vorliegenden Briefwechsel fehlt. Das soll uns natürlich nicht weiter stören. Wir nehmen ihn auch als Appetitanreger, wieder mal Werke der zwei Berzoneser zu lesen. Als gebirgig interessierte Leser vielleicht auch solche, in denen Berge eine Rolle spielen. Bei Frisch bekanntlich immer wieder. Bei Andersch kenne ich mich weniger aus. In der Erzählung „Tochter“ aus dem 1971 erschienenen Buch „Mein Verschwinden in Providence“ fand ich aber folgende Passage, die an die Zeit in Davos erinnert:
Nach der Abfahrt hatte Dr. Wenger noch eine Weile die ‚Times‘ gelesen. Er hatte das Blatt im Basler Bahnhof gekauft, um nachzusehen, was in London los war. Vielleicht würde er an dem einen Abend, der ihm blieb, wenn er Thérèse in Oxford abgeliefert hatte, ins Theater gehen.
Sie lagen sich auf den unteren Bänken gegenüber, er und Thérèse, mit Wolldecken zugedeckt.
„Es hat was von einer Skihütte, findest du nicht?“ hatte er gesagt.
„Ich kann Skihütten nicht leiden“, hatte Thérèse geantwortet.
Alfred Andersch, Max Frisch: Briefwechsel. Herausgegeben von Jan Bürger. Diogenes Verlag, Zürich 2014, Fr. 29.90.
Max Frisch, Berzona. Herausgegeben von Charles Suter, Maria Rosaria Regolati Duppenthaler und Gian Pietro Milani. In collaborazione col Max-Frisch-Archiv, Zurigo.
Edizioni Museo Onsernonese, Loco; Limmat Verlag, Zürich 2012. 4 Bände in Schuber, deutsch/italienisch. Fr. 79.90.
Ausstellungen:
Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit – Alfred und Gisela Andersch im Museum Strauhof, Zürich, bis 2.3.2014. Die Ausstellung wird anschließend in Ascona, Museo comunale d‘arte moderna, zu sehen sein, vom 16.3. bis 18.5.2014.
Alfred Andersch als Fotograf im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 30.1. bis 16.6.2014.
Ausstellung zu Alfred Andersch und Berzona im Museo Onsernonese in Loco, April bis Oktober 2014.
Salue Daniel
Deinem Hinweis zur Ausstellung Alfred und Gisela Andersch im Museum Strauhof bin ich nachgegangen. Sehr empfehlenswert! Es sind viele Briefdokumente vorhanden, und das Leben der eigenwilligen Künstlerin und des zeitkritischen Schriftstellers sind beschaulich präsentiert. Überhaupt soll in den Strauhof gegangen werden, solange es ihn als Literaturmuseum noch gibt!
Herzlich, Annette