Klettern an den Felsen, an denen sich schon Hermann Hesse die Knie aufschürfte.
An diesen Granitfelsen im Kastanienwald kletterte schon Hermann Hesse, wohl nicht so steil wie wir, dafür ohne all den Ballast, den wir angehängt und umgehängt haben, um da hochzukommen. Hesse kletterte nackt, wie er in seinem Text «In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen» erzählt:
«Die Sonne brannte mir fleissig auf die verwöhnte Haut, die Dornen zeichneten mir ein Netz von roten Schrammen auf die Beine; die Knie und Hüften stiess und ritzte ich mir am Kastaniengestrüpp und an den Felsen wund. Aber ich war fröhlich dabei, ich sang und hatte meine Lust an der wilden, schönen Landschaft. Ich suchte hohe, steile Felskuppen auf, von denen ich senkrecht tief in die warme Meerbläue hinabschauen konnte, ich gab den kühnen Felsformen kühne Namen und freute mich an jedem roten Riss, den meine fahle, weiche Haut bekam. Es waren vergnügte, kindisch vergnügte Stunden.»
Vergnügt sind wir auch, doch wir singen nicht, zu viele Leute stehen da herum oder hängen in der Wand. Aus Hesses einsamem Naturerlebnis ist ein soziales Ereignis geworden: Klettern! Der Jüngste, der am Seil von Papa einen Riss hochhangelt wie ein Äffchen ist 5, und der Älteste wird bald 67. Wir klettern um die Wette, der Kleine hängt über meinem Kopf, und als er nach ein paar Metern die Griffe fahren lässt, da pendelt er weit hinaus und weg von der Wand. Nun bin ich allein auf der Route «Zio Tognazz». Wer immer dieser Onkel gewesen sein mag, ich denke nicht an ihn, sondern an den Meister Hesse, der sich hier im Frühling 1907 wochenlang nackt herumtrieb, unter freiem Himmel im Laub übernachtete, manchmal auch in die Erde eingegraben, fastete und sich von Beeren, Sauerampfer, wilden Kirschen und Nüssen ernährte. Im Sanatorium der «vegetabilischen Kooperative» Monte Verità versuchte er sich vom Alkoholismus zu befreien und machte wohl auch mal einen der wilden Nackttänze mit. Daran erinnert auch eine der Routen, die wir tänzerisch meistern, aber eben nicht nackt: «I Balabiott». Die Nackttänzer heisst das in der lokalen Mundart. Um die Ecke hauste in einer Höhle der Eremit Gusto Gräser, dem der junge Hermann ein bisschen nacheiferte.
Von all dem ahnen wohl die heutigen Kletterlustigen nichts, doch wer weiss, man soll die Menschen ja nicht unterschätzen. Spass scheint es ihnen jedenfalls zu machen, auch ohne kulturellen Ballast und trotz dem hektischen Getriebe an der Wand. Manchmal schreit ein Kind, ein Alter stürzt kurz ins Seil. Doch keiner schürft sich mehr die Knie auf, wie der grosse Hermann, höchstens die Finger an den scharfen Griffen, am Fels, der im warmen Licht matt schimmert.
Vielleicht hat sich der Hermann das alles ja nur ausgedacht. An Fantasie und Redegewandtheit hat es ihm ja nicht gemangelt. Man stelle sich den älteren Herrn im Anzug, wie man ihn von Fotos kennt, mal vor, wie er nackt im Tessiner Wald umherirrt 😉