Wandern auf Wegen, wo sich Schicksale und Bücher, Gedanken und Welten kreuzen. Zum Beispiel mit Byron und Tolstoi von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von dort nach Interlaken und Grindelwald. Hemd mit Perlmutterknöpfen und Hosenträger aus Ziegenhaar bitte nicht vergessen. Sonst lieber auf dem Sofa bleiben und das Buch von Michail Schischkin lesen.
„Es gibt Namen, die sich reimen: Goethe und Schiller, Frisch und Dürrenmatt, Nietzsche und Dostojewskij … Und es gibt Namen, die in der Geschichte, in der Literatur, im alltäglichen Bewusstsein keinerlei Berührungspunkte aufweisen, zum Beispiel Byron und Tolstoi. Oder Nietzsche und Herzen. Goethe und Klee.
Anders in der Schweiz. Hier haben sich auf den seltsamsten Wegen Schicksale und Bücher, Gedanken und Welten gekreuzt.
Was könnte also den dämonischen Romantiker Byron und den großen Lehrmeister Tolstoi verbinden? Beide waren sie 28 Jahre alt, als sie an den Genfersee kamen. Und beide gingen sie in die Berge wandern, liefen die genau gleiche Strecke von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von dort nach Interlaken und Grindelwald. Sie ließen ihren Blick über dieselben Berggipfel schweifen, traten vielleicht auf dieselben Steine, übernachteten vermutlich in denselben Häusern, ruhten sich im Schatten derselben Bäume aus. Und beide schrieben ein Tagebuch, von deren Eintragungen ein direkter Weg zu ihren späteren Texten führt.
Genau das hat seinen besonderen Reiz: Nicht in ihrem mit Bedacht ausgearbeiteten gesammelten Werk zu stöbern, sondern ihnen über die Schulter zu blicken, ihre Fußstapfen nachzuvollziehen, ihre Berge anzuschauen, durch Wörter und Steine Berührungspunkte mit ihnen und noch mit vielen anderen mehr zu finden, die durch ihre Texte, ihre Pinsel, ihre Noten den Tod besiegt haben.
Es ist schon eine Weile her, dass ich mich auf diese Wanderung vorbereitet habe: Ich habe in den verschiedensten Briefen und Tagebüchern gewühlt, Zitate gesammelt, in alten Büchern nach Hinweisen darauf geforscht, wie eine Bergwanderung vor hundertfünfzig Jahren wohl verlaufen sein mag. Ich wollte mich ihnen nähern, es ihnen getreu in allem gleichtun, sogar wo es nur um Bagatellen geht, wollte zum Beispiel erfahren, was man damals anzog, was man mitnahm. In einem alten Reiseführer, dem sogenannten Taschenbuch für Reisende im Berner Oberland (Aarau, 1829), fand ich folgende nützliche Ratschläge: «Der Fußreisende braucht einen Hut mit breitem Rande; einen grünen Doppelflor, um sich damit, beim Überwandern der Schneefelder oder Gletscher im Sonnenschein, das Gesicht zu bedecken; weiße Hosenträger von Ziegenhaar (ja nicht von Leder); weit hinaufreichende, starke Handschuhe von roher grauer Leinwand oder Nanking; Hemden mit kleinen Perlmutterknöpfen auf der Brust und am Halse, um nicht von der Sonne verbrannt zu werden; einen starken, ziemlich langen Stock, ohne Knoten und mit einer Stahlspitze; einen Kragen oder kleinen Mantel von Wachstaffent, um sich gegen den Regen zu schützen; eine Korbflasche, mit Kirschwasser oder Himbeeressig angefüllt; 1/2 Pfund Zucker und Tee; Steck- und Nähnadeln; weißen und schwarzen Zwirn; etwas starken Bindfaden; einen Kamm; ein Rasiermesser; einen kleinen Spiegel in der Brieftasche; ein hörnernes Tintenfass mit einem Stachel; zwei Enden Wachslicht, um die Grotten besuchen zu können; endlich ein paar hundert Schuhnägel.»
Ich hatte so wandern gehen wollen, wie sie es damals taten, aber es stellte sich heraus, dass ich nichts von alledem habe, ich besitze weder Hosenträger aus Ziegenhaar noch einen kleinen Mantel aus Wachstaffent, geschweige denn ein paar hundert Schuhnägel. Dafür habe ich mein Notebook mitgenommen, in das ich gerade jetzt das Vorwort zu meinem Wanderbuch tippe, dem man eine schlechte Prognose gestellt hat: Wozu noch eins, es gibt doch schon Dutzende! Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, bin auch jetzt noch um eine Antwort verlegen.“
Muss er nicht mehr sein, der Michail Schischkin, wie hier am Beginn seines Wanderbuches. Denn seit diesem Sommer liegt es gar in einer zweiten Auflage vor. Vor zehn Jahren erschien das Werk im Zürcher Limmat Verlag unter diesem etwas sperrigen Titel: „Montreux-Missolunghi-Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoi: Eine literarische Wanderung vom Genfersee ins Berner Oberland.“ Bei der Zweitauflage im Zürcher Rotpunktverlag wurde nun der Haupttitel mit den Ortsnamen gekappt – wer kennt schon Missolunghi und Astapowo? Gut, heute, wo man mit ein paar Klicks auf dem Smartphone erfährt, wo Astapowo liegt, sähe es vielleicht anders aus – einen Spiegel bräuchte man übrigens nicht mehr mitzunehmen, weil man ja ein Spiegel-App herunterladen kann…
Wo war ich? Ach ja, in Montreux! Dort startete 1816 der in Missolunghi verstorbene Byron zu einer Wanderung ins Berner Oberland, 1857 tut es ihm der in Astapowo verstorbene Tolstoi gleich. Im Jahr 2001 folgte ihnen der russische, seit 1995 in der Schweiz wohnhafte Schriftsteller Michail Schischkin. Er liest die Tagebücher seiner Vorgänger und anderer Reiseschriftsteller, füttert sein Notebook mit eigenen Beobachtungen zur Reise, zur Schweiz, zu Russland. Entstanden ist ein ungemein vielschichtiges Buch über zwei ungleiche Länder, über Autoren und Terroristen, über Stalin und Tell, über Leben und Tod. Eine wahre Fundgrube, in der leider noch immer das Orts- und vor allem Personenverzeichnis fehlt; auch die Literaturangaben dürften ausführlicher sein. Am schönsten läse man das von Franziska Stöcklin übersetzte Buch natürlich auf einer 7-tägigen Wanderung von Montreux nach Meiringen. Dafür ist jetzt zu spät, und so lesen wir es auf dem Sofa. Und genehmigen uns ab und zu einen himbeerig-kirschigen Schluck aus der Korbflasche. Nasdrowje!
Apropos wandern auf russischen Spuren in der Schweiz: Das ginge auch gut mit einem andern Buch von Michail Schischkin, das leider aber vergriffen ist. Es heisst „Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer“ und erschien 2003 im Limmat Verlag. Da erfährt man zum Beispiel, dass Moskau auch in der Schweiz liegt, nämlich nordöstlich von Ramsen, an der Grenze zu Deutschland, kurz vor Singen. Dort errichteten die russischen Truppen ein Lager, als sie 1799 in Schaffhausen einmarschierten und schon bald wieder, nach der Niederlage in der zweiten Schlacht von Zürich, fliehen mussten. Gehen ist eben nicht immer freiwillig.
Michail Schischkin: Auf den Spuren von Byron und Tolstoi: Eine literarische Wanderung vom Genfersee ins Berner Oberland. Rotpunktverlag, Zürich 2012, Fr. 39.-