Klein und chic: das Literaturfestival an der Lenk im Simmental. Wir packen den Rucksack mit alter und neuer Bergliteratur.
«Am andern Morgen – leider nicht ganz so früh, wie ich mir’s vorgenommen – ging ich über den Paß der Hahnenmöser nach der Lenk. In der Bundesstadt soll an jenem Julitag und auch noch an den folgenden, wie mir Briefe meldeten, die Hitze beinahe unerträglich gewesen sein. Selbst in dieser Höhe wurde sie mir, besonders später beim Abstieg, ziemlich beschwerlich. Der Aufstieg aber geht, namentlich am Anfang, längere Zeit durch schöne Tannenwaldungen. Und eines auch ist dem führerlosen Wanderer höchst angenehm: wie alle Wege um Adelboden herum ist auch dieser mit Farbe markiert; die farbigen Striche sind bald an Wettertannen, bald an den die Viehweiden absperrenden Zauntürchen oder endlich auf großen Steinen so ausgiebig angebracht, daß es, bei Tageslicht wenigstens, eine Kunst wäre, sich zu verlaufen.»
Wir werden also den Weg in die Lenk finden, am verlängerten Wochenende vom 11. bis 13. Oktober, und unter zu heissen Temperaturen wie einst Joseph Viktor Widmann (1842–1911) werden wir kaum leiden. Seine Wanderung über den Hahnenmoospass ist enthalten im Buch «Du schöne Welt! Neue Fahrten und Wanderungen in der Schweiz und in Italien» (1907). Den Widmann werde ich mitnehmen an meine Eröffnungslesung «Der Wildstrubel ruft» von «LiteratureLenk. Der Röstigraben n’existe pas». Am bilingualen Literaturfestival im Hotel Kreuz an der Lenk im Simmental werden unter anderen ebenfalls auftreten: Angelika Waldis mit «Berghau» (mehr dazu hier: https://bergliteratur.ch/vom-alten-chalet-zum-berghau/) und Fanny Desarzens mit «Galel» (https://bergliteratur.ch/bergromane-von-ruhigen-maennern-und-regen-frauen/).
Im Folgenden vier neue Bergromane, die wir auf der Fahrt an die Lenk lesen könnten. Im ersten fragt die Tochter Suki ihren Vater Norman während des Skiurlaubs im berühmten Hotel Schatzalp oberhalb von Davos beim Après-Ski:
«Also, ich will das jetzt wissen: Was schreibst du gerade für ein Buch? Erzähl ein bisschen.»
«Eins ohne Drogen», antwortete ich spontan. «Oder so gut wie ohne.»
«Um was geht’s dann?», hakte sie nach.
«Darum, wie Thomas Mann seinen Davos-Aufenthalt von der Steuer abgesetzt hat.»
«Häh?», entgegnete sie. «Versteh ich nicht.»
«Um das Ende der Moderne geht’s. Den Abschluss einer Ära. Also unserer gegenwärtigen Lebensweise.»
«Fühl ich nicht so. Kommen wieder Nazis drin vor?»
«Ja», sagte ich.
«Dann verkauft sich’s», sagte Suki. «Heidi oder Nazi, das geht immer.»
Starker Dialog in Norman Ohlers «Der Zauberberg, die ganze Geschichte». Der halbfiktionale Bericht über eine knappe Familienskiwoche in Davos, die der Vater dazu benutzt, um die Tourismus-, Wirtschafts- und Literaturgeschichte des einst unbekannten Ortes in den Bündner Alpen zu recherchieren, insbesondere natürlich diejenigen der Tuberkulose, des berühmtesten Romans, der Erschiessung des Obernazis Gustloff, des WEF und nicht zuletzt des Skifahrens, also des Sportes, dem langsam die Grundlage wegschmilzt. All das ist ja nicht ganz neu, doch elegant formuliert und noch eleganter in den eigenen Urlaub mit Tochter und Freunden eingewoben, dargelegt in sieben Kapiteln und unterlegt mit 14 zeitgenössischen SW-Fotos, Bibliografie und Anmerkungen. Nur im letzten Kapitel, nicht zufällig mit «Schnee» überschrieben wie das tiefgründige «Schnee»-Kapitel in Thomas Manns «Zauberberg», überzeugt das Sich-Fortbewegen nicht Schritt für Schritt – absichtlich vielleicht: Dort ist es die Skitour, die man sich, wie von Mann beschrieben, nicht recht vorstellen kann (aber der Autor stand ja auch nie auf Skis), hier sind es der Steinschlag und das Murmeltier am verschneiten Aufstieg von der Schatzalp zum Strela-Gipfel. Trotzdem: Wer durch den «Zauberberg» von 1924 gestiegen ist, wird denjenigen von 2024 locker mitnehmen; wer nicht, erst recht.
Wir wechseln von einem berühmten Ort zum andern. Dort steht auch ein Zauberberg, vielleicht gar derjenige mit den meisten Klicks überhaupt:
«Die Bahn schlängelte sich durch verschneite Landschaften nach oben und jedes Mal, wenn das Matterhorn ins Blickfeld geriet, wurden Kameras und Handys gezückt. Woran lag es, dass der Berg eine solche Anziehung ausübte, eine Faszination, der auch ich mich nicht entziehen konnte? War es die markante Pyramidenform? Die Unverkennbarkeit?»
Erst recht nicht Oliver, ein junger US-Amerikaner, der im Roman «Wendeschleife» von Regula Portillo mit einem Interrail-Ticket in Europa unterwegs ist. In Bern übernachtet er bei Anna, die in einem Alterspflegeheim arbeitet, gerne reist und Reisenden regelmässig ihr Sofa als Übernachtungsgelegenheit zur Verfügung stellt. Oliver und Anna verstehen sich auf Anhieb gut, doch dann kehrt er von einem Ausflug nach Zermatt nicht mehr zurück. Die Tage verstreichen ohne eine erlösende Nachricht und Annas Sorge um ihn wächst. Was ist geschehen? Anna entschliesst sich dazu, Oliver bei der Polizei als vermisst zu melden. Wir nehmen an der Suche teil, wissen aber eigentlich schon bald, dass er nicht mehr auftauchen wird. Aber war Oliver überhaupt in Zermatt. Um nicht die ganze Geschichte erzählen zu wollen: Er war auf dem Weg zum Matterhorn, mit einer Karte im Massstab 1:300 000. Da kann man sich schon verlaufen. Aber möglichweise wollte er sich auch verschlaufen. Anna kommt Oliver immer näher, zum Glück ebenfalls Samuel.
Was wäre ein Bergroman ohne Liebesgeschichte? Das gilt auch für folgendes Werk. Doch bevor sie passiert, sagt einer der vier Alpinisten, die erstmals die 4000 Meter hohe Wand eines Achttausenders durchsteigen wollten:
«Der Berg mag uns wirklich nicht!»
Es wäre durchaus möglich gewesen, dass keiner von ihnen diesen Satz nach dem Rückzug aus der Wand noch hätte aussprechen können. Gregor war es so ergangen, an einem anderen Gipfel im Himalaya, An einem Höhenödem starb er, im Zelt neben Karl, der Hauptfigur in «Karls Wiederkehr. Ein Bergroman» von Rudolf Alexander Mayr. Ein «poetischer Thriller», wie der Klappentext wegweist, ist das Werk nicht. Doch eine durchaus spannende Story eines Extrembergsteigers (aus dem Tirol), der mit Gebirgswänden und Gegenwind besser zurechtkommt als mit Gefühlen und Geknicktwerden. Kann die Flucht in die Vertikale andauernd die Lösung sein? Theresa hätte eine Wendeschleife sein können. Wenn Karl den Knoten geöffnet bzw. das Öffnen zugelassen hätte.
Oder, um ein anderes Bild aufzunehmen: Sie hätte ihm den Weg über den Berg wohl gewiesen. Hinab ins Tal. «Giú nelle valle» heisst der neue Roman des italienischen alpinen Starautors Paolo Cognetti; vor drei Wochen ist er auch auf Deutsch erschienen. «Unten im Tal» also: In die Lenk steigen wir vom Hahnenmoospass ab, zusammen mit Joseph Viktor:
«Die Aussicht auf das obere Simmental und vor allem auf Weißhorn, Räzligletscher und noch viele andere Berggipfel war überwältigend schön. Dazu der unbeschreiblich reiche Frühlingsblumenflor der Bergwiesen! Nur die Erwägung, beim Hinabsteigen an der glühend heißen, weil der Nachmittagssonne zugewandten Bergfläche würden diese Blumenkinder doch bald verschmachten, hielt mich zurück, ganze Sträuße zu pflücken. Auch von Alpenrosen breche ich nie mehr als eine für den Hut und eine ins Knopfloch, gleichsam die Bescheinigung, ich sei ‹droben› gewesen.»
Josef Viktor Widmann: Du schöne Welt! Wanderungen und Reisen in Italien und der Schweiz. Huber Verlag, Frauenfeld 1907. Neu herausgegeben von René P. Moor. Edition Wanderwerk, Burgistein 2017. Fr. 26.–. Erhältlich bei www.wanderwerk.ch.
Norman Ohler: Der Zauberberg, die ganze Geschichte. Diogenes Verlag, Zürich 2024. Fr. 34.-
Regula Portillo: Wendeschleife. Edition Bücherlese, Luzern 2024. Fr. 28.-
Rudolf Alexander Mayr: Karls Wiederkehr. Ein Bergroman. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2024. € 24,00.
Paolo Cognetti: Unten im Tal. Penguin Verlag, München 2024. € 24,00.
LiteratureLenk. Der Röstigraben n’existe pas. 11.-13. Oktober 2024. «Der Wildstrubel ruft»: Daniel Anker liest aus Werken von Peter Bratschi, Helene Eichler, Christoph Frommerz, Thomas M. Hinchliff, Rudolf Jakob Humm, Susy Maync, natürlich Widmann und anderen am Freitag, 11. Oktober, um 16 Uhr im Hotel Kreuz. www.kulturlenk.ch/de/literaturlenk/programm