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«Antarktis 95. 11.12. Die Gegend ist sehr schön. Es sieht aus wie bei uns in der Gruyère. 24.12. Wir sind gegen 0.15 Uhr wieder im Lager. Es ist Weihnachten. Wir essen Spaghetti und Panettone. 29.12. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, mit der Angst umzugehen, die mich vor grossen Expeditionen quält. Heute ist mir wirklich bewusst geworden, wie bizarr das Bergsteigen ist. Als ich in dieser riesigen Wand war, stellte ich mir die Frage nach dem Warum. Welchen Sinn hatte es, allein in eine solche Wand zu gehen, mit dem einzigen Ziel, den Gipfel zu erreichen?»
Der Freiburger Erhard Loretan, geboren am 28. April 1959 in Bulle, abgestürzt am 28. April 2011 am Gross Grünhorn, war nicht der erste (Spitzen-)Alpinist, der die Sinnfrage seines Tuns stellte. Aber so eindrücklich und so hautnah wie jetzt konnten wir noch selten dem extremen Bergsteigen mit seinen Zweifeln, Risiken und Glücksgefühlen über die Schultergurten des Rucksacks schauen. Denn: Das ALPS, der Alpine Museum der Schweiz in Bern, zeigt erstmals Kostbarkeiten aus dem Nachlass von Loretan der Öffentlichkeit. Nach seinem Tod schenkte die Familie Loretan 2014 den alpinistischen Nachlass dem ALPS, wo er seit 2022 kontinuierlich erschlossen wird. Die neue Biwak-Ausstellung «Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan» führt das Publikum durch verschiedene Stationen, wie sie Alpinisten immer wieder erleben wollen und müssen: «Auf dem Weg», «Im Zelt», «In der Wand» und «Zu Hause». Dabei kommt Loretan mit seinen Fotos und Tourenbüchern, seinen Film- und Audioaufnahmen selbst zu Wort. Wie bereitete sich der Ausnahmebergsteiger vor (er stand als dritter Alpinist auf allen 14 Achttausendern), wie überstand er die langweiligen Tage im Basislager (da hatte er mehr als Zeit genug zum Schreiben und Lesen), wie plagten ihn Fragen nach dem Tun und dem Weg in steiler Wand? Antworten finden wir rechts und links, oben und unten und überall im Biwak am Helvetiaplatz. Diesmal ist es mehr ein Basislager mit all dem Material, das uns präsentiert wird. Am Berg und am Limit war Loretan mit der minimalsten Ausrüstung unterwegs. Wie am namenlosen, rund 4600 Meter hohen Gipfel in der Antarktis, den er am 28. Dezember 1995 als erster Mensch erreichte. Heute heisst dieser Berg inoffiziell Mount Loretan.
Wir bleiben bei den Fragen und Antworten. Und finden beides in einem der sinnigsten Bergbücher, das in den letzten Monaten in meinem Rucksack steckte bzw. auf dem Sofatischchen wartete: «Le Montagnard. Dans les pas de Lionel Terray» des französischen Extrem- und Expeditionsbergsteigers Lionel Daudet. Zweimal Lionel? Das will der noch lebende begreifen. Denn: Seine Eltern tauften ihn so, zu Ehren des grossen Terray, Zweitdurchsteiger der Eigernordwand, Erstbesteiger des Makalu (8485 m), des Jannu und des Cerro Chaltén in Patagonien, abgestürzt zusammen mit Marc Martinetti in den Ausstiegsseillängen der Fissure en Arc de Cercle des Gerbier im Vercors am 19. September 1965. Exakt diese Route wiederholte nun Lionel Daudet (Jahrgang 1968) mit seinem Freund Patrick Seillänge für Seillänge: zuerst immer ein paar Zeilen zur Route und zur Art, wie sie an diesem sonnigen Septembertag hochkletterten, darauf immer passend ein paar Seiten zu dem am 25. Juli 1921 geborenen Lionel Terray, seinem Leben und seinen Exploits, zum Alpinismus und Klettern ganz allgemein. Und dann, hoch oben, wo die grossen Schwierigkeiten vorbei sind, will Daudet herausfinden, warum die beiden Kletterer vor knapp 60 Jahren abstürzten, was ihnen wohl zum Verhängnis wurde. Er findet überzeugende Antworten. Zum Sinn des Bergsteigens übrigens auch. Was seinem Namensvetter 1961 mit «Les conquérants de l’inutile» ebenfalls gelungen ist, heute ein Klassiker der Bergliteratur. «Le Montagnard» könnte es auch werden.
Wir sind noch nicht ganz auf dem Gipfel. Jetzt die Konzentration voll beibehalten. Wie dies ein Kletterer immer wieder vorführt. Einer der besten der Welt. Der Tscheche Adam Ondra, Jahrgang 1993. «Adam. The Climber» heisst das Buch ganz simpel, das der italienische Spitzenkletterer Pietro Dal Pra zusammen mit seinem Schützling geschrieben hat und das nun auch in deutscher und englischer Ausgabe vorliegt. So schwierige Routen wie Ondra schaffen nur ganz wenige andere Kletterer, wenn überhaupt. Wer sich nun fragt, wie das möglich ist, erhält hier Antworten, nicht immer locker lesbare, weil es halt nicht leicht ist, sich vorzustellen, was nun in den Fingerspitzen, Nervenzellen und Gedankenblitzen alles in Sekunden abläuft, wenn man schier kopfüber an der überhängenden Wand hängt und der nächste Griff nur millimeterklein ist. Manchmal hängt auch die Sprache ein wenig durch, die Bildauswahl ebenso, mehr Jahreszahlen wären dienlich, eine Chronik zum Schluss würde helfen, Adams wirklich atemberaubende Karriere im Fels wie an der Hallenwand besser zu verstehen. Wie auch immer: Die letzte Seite in meinem Exemplar ist vollgekritzelt mit Notizen, beim Daudet ebenfalls.
Und auch in diesem Buch hier, zwei Seiten sogar. Es ist im Gegensatz zu den beiden andern – und in diesem Sinne auch zur Loretan-Ausstellung – kein Sachbuch, sondern ein Roman. Das steht jedenfalls unter «Der Sherpa, du und ich». Der Sherpa ist einer, mit dem das «Du», nämlich Ueli Steck (1976–2017), befreundet war; das «Ich» ist der Schweizer Filmer Armin Biehler, geboren 1963. In seinem ersten Roman hat er sich auf die Spuren von Ueli gemacht, nach dessen Tod, und nicht eben verständnisvoll, wie die Reaktionen von Befragten zeigen. Auch das kommt im Buch zur Sprache, und vieles mehr, kreuz und quer. Kurz: eine Wühlarbeit am Wandfuss ohne Antworten. Aber vielleicht waren die Fragen schon falsch. Deshalb zurück zu den Fakten.
«Liebe Freunde von Ueli. Heute jährt sich Ueli’s Todestag zum siebten Mal und es scheint mir ein guter Moment, nicht über den Verlust, sondern über das Weitergehen zu reden», schrieb Nicole Steck am 30. April 2024. Ziel sei es, etwas vom materiellen und ideellen Erbe Stecks an die lokale Klettergemeinschaft zurückzugeben. Der Bau der Kletterhalle «Orbit» in Interlaken mache grosse Fortschritte, auf Anfang 2025 sei die Eröffnung geplant. Und: «Zusätzlich beabsichtige ich, den Nachlass von Ueli an das Alpine Museum der Schweiz zu übergeben. Ueli hat die Entwicklung des Alpinismus geprägt. Indem er Grenzen verschoben hat, bereitete er den Boden für weitere Entwicklungen und inspiriert zukünftige Generationen von Bergsteiger/innen. Mit der Übergabe an das Alpine Museum möchte ich sicherstellen, dass sein Nachlass in guten Händen ist, sauber dokumentiert, archiviert und so zukünftigen Generationen zugänglich gemacht wird – so, dass auch daraus Neues entstehen kann!» Wir freuen uns schon jetzt auf die Biwak-Ausstellung mit Ueli Steck.
Lionel Daudet. Le Montagnard. Dans les pas de Lionel Terray. Éditions Stock, Paris 2023. € 20,90.
Pietro Dal Pra, Adam Ondra: Adam. The Climber. Versante Sud Edizioni, Milano 2024. € 25,00.
Armin Biehler: Der Sherpa, du und ich. Roman. Zytglogge Verlag, Basel 2023. Fr. 32.-
Jean Ammann, Erhard Loretan: Erhard Loretan. Den Bergen verfallen. Paulusverlag, Freiburg 1996. Im ALPS erhältlich für Fr. 10.-
«Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan»: Ausstellung im ALPS Alpines Museum der Schweiz (bis 16.3.2025) https://alps.museum/ausstellungen/am-limit