Aus dem Leben eines Bergpfarrers

Johannes Jegerlehner – ein grosser Erzähler der Bergwelt – der älteren Generation noch als Schulbuchautor bekannt, für die jüngere wieder zu entdecken.

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In Aroleid hat sich noch eine alte Sitte erhalten. Die jungen Burschen verteilen sich am Sylvestermorgen nach der Messe in zwei Chöre, die das Dorf bis zu den letzten Häusern nach beiden Richtungen durchziehen. An der Spitze marschieren zwei Musikanten mit Trompete und Klarinette, die andern folgen und stapfen, weder Mühe noch Strapazen scheuend, durch den gefrorenen Schnee zu den entlegensten Weilern und armseligsten Hütten. (…) Im Verlauf des Abends finden sich beide Chöre wieder im Dorfe ein.
Am Neujahrstag versammelten sich die Sänger zu gemeinsamer Mahlzeit im Gemeindehaus. Ich nahm ebenfalls daran teil und spendete der wackeren Gesellschaft ein Fäßchen aus meinem Keller. Ich wußte gar nicht, daß ich noch einen so guten Tropfen besaß. Zum Glück erging es mir nicht wie meinem Amtsbruder in der Talsohle. Als ich ihn eines Abends besuchte, da schnalzte er mit der Zunge und sagte: „Ich habe noch ein gutverzapftes Weinfäßchen im Keller, das wollen wir jetzt anstechen, komm mit!“ Wir stiegen die Treppe hinunter und rüttelten vorsichtig an dem Zapfen, dann zog er ihn langsam heraus, aber es floß kein Tropfen heraus, das Fäßchen war leer. Da rief er die Magd herbei. Er mußte ihr lange, lange rufen, denn sie war nicht zu Hause gewesen, wie sie eifrig beteuerte. Als er nun auf das leere Fäßchen klopfte und fragte, wie sie sich das erkläre, da er doch nie davon getrunken habe, da entgegnete sie, ihre Verlegenheit kaum verbergend: „Was weiß ich, Herr Pfarrer, da – da ist wahrscheinlich der Föhn hineingekommen!“ Ob sie dabei rot geworden ist, konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen.

Soweit ein zum Jahreswechsel passender Ausschnitt aus dem vor 100 Jahren erschienenen Bergroman „Aroleid – Aus dem Leben eines Bergpfarrers“ von Johannes Jegerlehner. Der Autor wurde am 9. Juni 1871 als Sohn des Gefangenenwärters auf Schloss Thun geboren und studierte in Bern und Florenz. Er war dreieinhalb Jahre Seminarlehrer in Hofwil bei Bern und 28 Jahre Deutschlehrer am städtischen Gymnasium zu Bern. Während der Grenzbesetzung kommandierte er als Oberstleutnant das Oberländer Gebirgsregiment 17, dem er in dem Buch „Grenzwacht der Schweizer“ ein literarisches Denkmal setzte. In Bern wohnte die Familie Jegerlehner an der Hallerstrasse 39 in der Länggasse. 1927 gründete Jegerlehner zusammen mit dem Industriellen (und Schwager) Albert Heiniger und dem Anwalt Ernst Brand die Helvetia-Film AG, um seinen historischen Walliser Roman „Petronella“ zu verfilmen – der Film wurde gelobt, floppte trotzdem, und die Produktion auf einer Alp oberhalb Arolla und im Berliner Studio war so teuer gewesen, dass die Helvetia 1931 Konkurs ging. Wegen eines Herz- und Leberleidens quittierte Jegerlehner 1928 den Schuldienst und zog mit Frau und Sohn ins Chalet Montana in Grindelwald – in das Haus also, in dem der streitbare Alpinist und Alpinhistoriker William Augustus Brevoort Coolidge von 1896 bis zum seinem Tod anno 1926 gelebt hatte. Sohn Hans Jegerlehner arbeitete während der mörderischen Durchsteigungsversuche der Eigernordwand Mitte der 1930er Jahre als Reporter unter anderem für die NZZ. Der Vater starb am 17. März 1937 im Viktoriaspital in Bern.

Johannes Jegerlehner war ein produktiver Schriftsteller: Von seiner Dissertation über „Die Politischen Beziehungen Venedigs mit Zürich und Bern im XVIII. Jahrhundert“ (1897) und der zweiten wissenschaftlichen Arbeit über „Die Schneegrenze in den Gletschergebieten der Schweiz“ (1902) bis zum letzten Roman, „Das Haus in der Wilde“ (1936), veröffentlichte er fast alle Jahre ein (Berg)-Buch. „Kein Dichter ist zwar Jegerlehner,/Doch findet viel Verleger jener,“ reimte die St. Galler „Volksstimme“ im Nachruf.

Johannes Jegerlehner: Aroleid – Aus dem Leben eines Bergpfarrers. A. Francke Verlag, Bern 1909. Zu lesen in der Nationalbibliothek Bern, auszuleihen in der Zentralbibliothek Zürich, zu finden auf www.zvab.com. Viel Spass.
Und no nes guets Nöis!

2 Gedanken zu „Aus dem Leben eines Bergpfarrers

  1. Lieber Daniel Anker,
    wissen Sie zufällig, welche wirkliche Gemeinde mit AROLEID gemeint ist? vermutlich St.Niklaus im Mattertal = Nikolaital, halbwegs zwischen Visp und Zermatt mfG Rumpf

  2. Lieber Herr Rumpf
    Besten Dank für die Anfrage. Ob das Dorf Aroleid aus Jegerlehners gleichnamigen Roman ein konkretes Vorbild hat (und welches), habe ich bei der Lektüre leider nicht herausgefunden. Und auch jetzt, wenn ich mir die notierten Stichworte anschaue, kann ich nicht sagen, ob St. Niklaus Vorbild bzw. Hintergrund ist. Auf S. 45 schreibt der Icherzähler, dass ihn ein Tier „aus dem Tal in drei Stunden in meine neue Bergheimat Aroleid“ heraufgebracht habe. „Der Weg führt in breiten Strichen dem Berghang entlang, der im Sengerhorn gipfelt.“ Letzteres gibt es so nicht, aber Seng und Sengg kommt als Name in der Schweiz oft vor.
    Was mich sehr interessiert, zumal ich mich zur Zeit grad mit dem Matter- oder Nikolaital beschäftige: Woraus schliessen Sie, dass Jegerlehner mit Aroleid St. Niklaus gemeint hat?
    Mit freundlichen Grüssen
    Daniel Anker

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