Fünf Tage auf Gletschern unterwegs. Fünf Tage weg von allem, was nach Alltag riecht. Fünf Tage können lang und nass werden, denke ich, während auf dem Jungfraufirn ein Gewitter auf uns niederprasselt. Doch danach wird alles gut. © Annette Frommherz
Jungfraujoch – Aletschgletscher – Konkordiaplatz – Konkordiahütte
Als der Bergführer sieht, dass ich den Achterknoten binde, befördert er mich kurzerhand zur Aspirantin. Noch weiss er nicht, dass ich auch den Doppelten Bulin beherrsche… Ab jetzt ‚führe’ ich also meine eigene Seilschaft – und werde das Seil tragen, wenn wir es nicht benötigen. Der Nebel hatte sich schon in den Tunnel der Jungfraujochbahn hereingedrückt. Bereits da ahnte ich, was kommen werde. Draussen lässt man uns bald im Regen stehen. Ein nasses Unterfangen. Die Regenjacken und -Hosen werden einem Härtetest ausgesetzt. Hörner und Jungfrauen wollen sich an diesem ersten Tag des Gletschertrekkings nicht zeigen und verstecken sich hinter der Gewitterfront, während die Gruppe sich durch Graupel in Richtung Konkordiaplatz bewegt. Die Aussicht reicht gerade mal bis zur nächsten Nebelschwade, die ungeniert sich flächendeckend breitmacht. Was nicht nass wird, ist zumindest feucht. In der Konkordiahütte wird alles, was am Körper klebt und im Rucksack nicht verschont blieb, zum Trocknen ausgebreitet.
Konkordiahütte – Grünhornlücke – Finsteraarhornhütte
Das Seil tragen ist flugs zur Tradition geworden. Dafür ist mir der spendierte Zwetschgenkuchen auf sicher. Die Sonne hat gegen den Regen gewonnen und strahlt heute in bester Sommermanier. Firn und Eis schmelzen unter unseren Bergschuhen weg. Wir wollen auf den Gletschern gehen, so lange sie noch vorhanden sind. Es knirscht im Gleichschritt unter unseren Steigeisen. Mir ist, als seien wir bereits seit Tagen unterwegs. Nicht, weil die Gletscher endlos lang sind, sondern weil ich alles weglassen kann, was mir unwesentlich scheint. Die Zeit ist hier eine andere, eine fast vergessene.
Bergdohlen umkreisen uns wie Aasgeier. Sommervögel flattern lautlos um uns. Was tun die hier in dieser Höhe, mitten auf dem Firnfeld? In der Hütte, die eher Alpengaststätte als Hütte ist, sind die Betten breiter und ist der Hunger noch grösser. Gute Nacht sagen sich hier nicht Fuchs und Hase, sondern Alpenfreunde. Es sind die Gleichgesinnten, die ihren Weg suchen. Berge, geht es mir durch den Sinn, sind Orte, an denen es sich niemand leisten kann, sich wie Hund und Katz’ zu benehmen.
Finsteraarhornhütte – Fieschergletscher – Rotloch – Oberaarjochhütte
Wo sich der Fieschergletscher und der Galmigletscher die Hand geben, da sind auch wir im Nu. Keine Wolke verunreinigt heute den blauen Himmel; wir suchen umsonst nach Herrn Schleier und Frau Cumulus. Blau und Weiss geben sich in makelloser Eintracht. So lässt es sich gut leben, und mit dem Aufstieg zum Oberaarhorn wird der Tag vollkommen; denn auf den Gletschern gibt es keinen Gipfelkuss. Später schaue ich zum Matterhorn hinüber, das in der Ferne und im Abendlicht ganz hübsch sich zeigt. Dann, in der übervoll besetzten Oberaarjochhütte, die Bergschuhe in Reih’ und Glied zum Lüften ins letzte warme Licht stellen und sich den Platz, das Bett und das Bier sichern.
Ich ziehe in Erwägung, zu Hause die stinkenden Socken auf den Nachttisch zu legen, Schnarchgeräusche abspielen zu lassen, am Fenster ein Bild mit Berggipfeln und aufgehender Sonne hinzukleben, mich in meinen Seidenschlafsack zu kuscheln und morgens ein Chacheli Incarom-Kaffee zu schlürfen – auf dass die Hüttenromantik nicht so rasch verloren gehe.
Oberaarjochhütte – Oberaargletscher – Grimsel-Passhöhe
Im Massenlager mit zwanzig Betten – ich hatte es geahnt – war an tiefen Schlaf nicht zu denken. Mit mindestens fünf gleichzeitig schnarchenden Männern in verschiedenen Tonlagen ist die Nacht träge vorüber gegangen. Frühmorgens versöhnt der Blick auf die sanft geröteten Berggipfel. Galmihörner, Finsteraarhorn, Oberaarrothorn, Wasenhorn. Alle wollen sie sich von der besten Seite zeigen. Ich kann mich kaum satt sehen.
Unsere Tour über den Oberaargletscher und entlang dem Oberaarsee dehnt sich in die Länge. Als willkommener Abstecher bietet sich das Sidelhorn an, das wir unter die Füsse nehmen, und das uns den Rundblick auf Seen und Berge bis in verwaschene Farben preisgibt. Hinunter zur Grimsel-Passhöhe ist es steil und lässt unsere Zehen taub werden. Abends findet ein reger Handel mit Diagnosen, Pflastern, Salben und Tabletten statt, und so mancher Ratschlag macht die Runde. Einer muss mit Knieschmerzen aufgeben. Ein anderer schluckt gleich zwei Schmerztabletten – eine für das linke, die andere für das rechte Knie.
Grimsel-Passhöhe – Rhônegletscher – Furka Belvèdere
Die Tour des letzten Tages führt uns über romantische Pfade erst hinauf und dann hinüber zum Rhônegletscher. Viel Aus- und Weitblick und die imposanten blauen Spaltentiefen garantieren uns bleibende Erinnerungen. Ich schliesse die Augen, um die Bilder in aller Ruhe in mein Inneres ablegen zu können.