Das Päckchen

Happy Birthday! Heute feiert Franz Hohler seinen 75. Geburtstag. Sicher mit Blumen, Grüssen, Grussartikeln (z.B. WOZ) und vielleicht auch einem Päckchen. Und wenn nicht, so heisst doch wenigstens sein letzter Roman so. In dem vieles verschwindet, zum Beispiel auch ein Mann auf der Abfahrt zur Schreckhornhütte.

„Vor vier Tagen bin ich sechzig geworden.“

Der erste Satz in Franz Hohlers Buch „52 Wanderungen“, das 2005 herausgekommen ist. Ein Jahr lang machte sich der Autor auf den Weg und ging durch sein Heimatland, spazierend, wandernd und kletternd, einmal pro Woche. Die erste Tour führte in sihlaufwärts. Oft war er allein unterwegs, allein mit sich, seinen Gedanken, seiner Neugier, seinem Skizzenblock.

Allein unterwegs sein. Darum geht es auch im jüngsten Buch von Franz Hohler, dem Roman „Das Päckchen“. Ausschnitt von Seite 115:

„Hast du den Fehler schon herausgefunden?“
„Ich glaube schon“, sagte Ernst, „willst du mal schauen, wie man vom Jungfraugebiet zur Schreckhornhütte kommt?“
Jacqueline schüttelte den Kopf. Sie war keine Kartenleserin. „Hat er eine falsche Route genommen?“
„Nicht unbedingt“, sagte Ernst, „das Obere Eismeer hat er jedenfalls erreicht. Aber –„
„Aber?“
„Aber allein. Das war sein Fehler.“

Und dann ist Ernst Stricker auf dem Weg, den gleichen Fehler zu machen. In den Bergen, aber auch im Alltag. Alles nur wegen eines mysteriösen Telefonanrufes und in der Folge eines Päckchens mit einem kostbaren Inhalt, einer verschollenen Handschrift aus dem 8. Jahrhundert. Die Hauptfigur ist Bibliothekar und Bergsteiger, glücklich verheiratet mit Jacqueline. Bis er eben unvermutet und ungewollt in diese Geschichte mit dem Päckchen hineinschlittert, wie auf frisch gefallenem Schnee. „Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.“ Mit diesem Satz beginnt der neue Roman. Er erinnert an denjenigen der ersten Geschichte von Franz Hohler, die im Dezember 1972 in „Westermanns Monatshefte“ abgedruckt wurde: „Am Rand von Ostermundigen steht ein Telefon.“ So heisst auch die Erzählung selbst und der Erzählband: „Der Rand von Ostermundigen.“

Lang ist’s her. Viele wunderbare Bücher hat Franz Hohler geschrieben, „immer höher“ (Titel des Bergbuches von 2014) ist der Stapel geworden. Und nun also das Päckchen. Das aufgemacht wird, Schicht um Schicht. So verfährt auch dieser Roman. Denn der Autor verbindet geschickt die Geschichte von Ernst und Jacqueline mit derjenigen der Frau, deren Mann alleine mit Ski vom Jungfraugebiet zur Schreckhornhütte unterwegs war. Und mit dem Mönch Haimo, der das so kostbare Buch schuf, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch. Auf einem Berg, im Kloster Montecassino südlich von Rom, vereinigen sich beide Erzählstränge. Es ist das 25. Kapitel.

Franz Hohler wird heute, am 1. März 2018, auch ein Päckchen erhalten, bestimmt sogar mehrere. Den eingangs zitierten Satz zu den wöchentlichen Wanderungen schrieb er nämlich am 5. März 2003.

Lieber Franz: Alles Gute zum 75. Geburtstag!

Franz Hohler: Das Päckchen. Luchterhand Verlag, München 2017, Fr. 30.-, www.luchterhand-literaturverlag.de

Altherrentreffen im Schnee

Die erste (und vielleicht einzige) Skitour dieses Winters, ein sonniger Tag mit Überraschungen.

Wir finden ja immer eine Ausrede, um die Skiausrüstung im Keller zu lassen. Enkelin hüten, schlechter Schnee, Nebel, Lawinengefahr, Sonne im Süden, perfekt zum Klettern. Wir sind auch langsam zu alt oder zu bequem, um uns mit Skiausrüstung und den dicken Plastikschuhen an den Füssen zum Tram zu schleppen, dann zum Zug, zweimal umsteigen und Postauto und so weiter. Auch bei Skitürelen gilt: der wichtigste Ausrüstungsgegenstand ist das Auto.
Aber diesmal half nichts. Wetter in der Höhe perfekt, unten ein grauer Deckel, eine schöne Schicht Neuschnee gefallen, Lawinenbericht gut – und in der Tiefgarage steht das Auto des Sohnes, der gerade durch Indien reist. Also die Skiroute aufs Laucherenstöckli von map.geo.admin.ch kopiert und dann los!
Den Parkplatz finden wir, ein Zufall eigentlich. Auf der Skikarte ist er nicht eingetragen. Zwei Autos stehen schon da, aus einem weissen Landrover steigt eine älterer Herr, weiss und hager und faltig und Stöpsel im Ohr. Die zieht er dann raus, Fredi ist’s und mit ihm da ist die Erinnerung. Grosse Zinne Nordwand, 1965. Wir kletterten die klassische Comici, Fredi mit Robi links von uns die direkte Hasse-Brandler. Ein Gewitter, kalter Regen, wir kamen noch zum Zelt, die beiden Jungs mussten in der Wand biwakieren. Später schrieb ich dann mal ein Porträt über den erfolgreichen Unternehmer in der Mode- und Gastrobranche Fredi Müller, Inhaber des Kaufleuten in Zürich. Wir unterhalten uns kurz übers Klettern, Jungstar der Szene war er damals, machte dann lange Pause, klettert heute wieder. «Am liebsten im Granit».
Dann fährt wieder ein Auto ein, wieder ein älterer Herr, es ist Willi. Auch er ein alter Bekannter vom SAC Zimmerberg, von Skitouren, auch er bekannt mit Fredi. Ein zufälliges Altherrentreffen also. Die Vergangenheit, alter Gemeinplatz, holt dich ein wo immer du bist. Selbst auf einer kleinen Skitour. «Die erste diesen Winter», gestehen wir etwas kleinlaut. «Ihr müsst nicht auf uns warten.»
Fredi rauscht ab, Willi fellt uns geduldig voraus, durch Wald, Nebelfetzen und auf weiter sanfter Schleife zum Gipfel. Dort trifft auch er einen Bekannten. Über uns spannt sich der Himmel wolkenlos, im Muotatal liegt dicker Nebel, das Panorama ist phantastisch, tausend Gipfel, Zacken, Hügel, die Mythen und überm Tal der Blüemberg, Teil unserer Familiengeschichte.
Der Schnee pulvrig doch wie immer, wenn wir uns mal aufraffen für eine Tour, schon ziemlich verfahren. Der treue Willi wartet immer wieder auf uns, sein Freund taucht ab. Dann sitzen wir in Oberiberg im «Roggenstock» auf der Sonneterrasse bei Kaffee, heisser Schokolade und Kuchen. Vielleicht war’s ja doch nicht die letzte Skitour des Winters.

Moderne Zeiten

«Modern times» sind eigentlich immer, und so ist es doch beruhigend (für Alt und Jung), dass auch die vorgestellten 100 modernen Top-Routen dereinst alt aussehen werden. So sind halt die Zeiten. Also nicht gleich hinlaufen und am Einstieg anstehen. Die Deluxe-Edition im edlen Schuber wird auch der Grossvater noch mit Freude durchblättern und sich erinnern.

„Für Jürg von Känel hat der neue Kletterstil mit dem Bergsteigen im üblichen Sinn nichts mehr zu tun‘. Es ist nicht mehr das Gipfelerlebnis gesucht, sondern man versucht, immer schwieriger zu klettern, die Sturzgrenze immer ein wenig weiter hinauszuschieben. Deshalb werden nur noch Routen geklettert, in denen der Fels absolut fest ist und wo ‚man gut sichern kann‘. Denn in solchen Schwierigkeiten, wo der Kletterer das Gesetz der Schwerkraft aufzuheben scheint, ‚liegt ein Sturz sicher drin…‘“

Ende der 70-er Jahre im letzten Jahrhundert waren neue Zeiten beim Klettern angesagt. Mit „Freier Gang an der Sturzgrenze“ ist mein Artikel vom 31. Oktober 1979 in der „Berner Zeitung“ überschrieben, im Untertitel heisst es: „Der sechste Grad aus ‚ausgedient‘ – ein neuer Kletterstil kommt auf: all free.“ Vor rund 40 Jahren begann beim Klettern ein neues Zeitalter, insbesondere in den Alpenländern. Einer der damaligen Pioniere war der Berner Oberländer Jürg von Känel. 1978 eröffnete er zusammen mit Martin Stettler am Granitpfeiler neben der Gelmerseebahn im Grimselgebiet die Route „Fair Hands Line“. Der Name war und ist Programm: klettern by fair means. „Verzicht auf alle künstlichen Hilfsmittel wie Felshaken, Klemmkeile, Trittleitern, Quergangsseile usw.“, wie in der BZ zu lesen war. „Der Kletterer darf zur Fortbewegung nur noch einsetzen, was er sowieso schon mitbringt: seinen Körper.“

„Fair Hands Line“ gehört zusammen mit den Routen „Dingomaniaque“ in der Verdon-Schlucht und „Schwalbenschwanz“ in der Südwand der Marmolada zu den zweitältesten, die für den druckfrischen Bildbandführer „moderne zeiten. 100 legendäre Freikletterouten in den Alpen“ ausgewählt wurde. Die älteste aber sind die „Pumprisse“ am Fleichbankpfeiler im Wilden Kaiser, 1977 erstmals durchstiegen von Helmut Kiene und Reinhard Karl. Mit dieser Route wurde die starre sechsstufige Schwierigkeitsskala gesprengt und der siebte Grad offiziell eröffnet. Vom neuen Freiklettergeist beflügelt, erschlossen in der Folge Kletterer wie Jürg von Känel schier unzählige Routen: freier, schwerer und anders als das bisher Dagewesene. Moderne Zeiten eben.

Achim Pasold und Ralph Stöhr stellen 100 moderne Routen aus dem ganzen Alpenbogen vor, von den Gorges du Verdon in Südfrankreich bis zum Schneeberg bei Wien. 27 stammen aus der Schweiz, von der „Mamba“ am Miroir d’Argentine bis zur „Rialto“ an der Sulzfluh. Am Eiger wurden gleich zwei Linien ausgewählt: „Märmelibahn“ in der Südostwand und „Deep Blue Sea“ in der Nordwand, „die schwerste Route in diesem Buch“. Die 100 Routen werden jeweils auf einer Doppelseite vorgestellt: rechts ein ganzseitiges, bestens beleuchtetes Farbfoto des Kletterzieles mit kleinen roten Pfeilen für Ein- und Ausstieg, links ein gezeichnetes Topo mit Routenverlauf und wichtigen Infos; dazu ein locker geschriebener Text und kurze Angaben zu Zustieg, Zeitbedarf etc. Prima gemacht! Damit könnte man gleich einsteigen, vorausgesetzt, man habe den siebten Schwierigkeitsgrad bzw. ein französisches 6b+ locker drauf.

Zwei kleine geografische Fehler haben sich eingeschlichen: der Ofen mit dem „Indianerpfeiler“ im Melchtal steht nicht in den Berner, sondern in den Unterwaldner Alpen, und die berühmte Route „Motörhead“ der Gebrüder Remy im Eldorado am Grimselsee liegt nicht in den Urner, sondern den Berner Alpen. Und wenn wir schon am Mäkeln sind: Die Route vom atemberaubenden Titelbild, nämlich „Unendliche Geschichte“ an der 7. Kirchlispitze im Rätikon, fehlt unter den 100 vorgestellten; wahrscheinlich ist sie die 101. Sicher aber ist: „moderne zeiten“ ist der Nachfolger von „Im extremen Fels“ – der „Pause“ im heutigen Jahrhundert.

Achim Pasold, Ralph Stör: moderne zeiten. 100 legendäre Freikletterrouten in den Alpen. Inklusive Topo-ebook. Panico Alpinverlag, Köngen 2017, Fr. 59.90. Limitierte Deluxe-Edition (777 handnummerierte Exemplare) im edlen Schuber, inklusive zwei Topofächern der 100 Routen, dem Spiel „Kletterreise durch die Alpen“ in Tisch- und Zeltversion, einem Postkartenset und einem Poster; Euro 89.80. www.panico.de

Philosophie des Kletterns – ABC de l‘alpinisme

Wer eine Philosophie des Kletterns schreibt oder übersetzt, müsste wohl erst mal etwas vom Klettern verstehen, bevor er über das Einrichten von Routen und Schlagen von Haken tiefsinnige Gedanken verfasst. Selbst der renommierte Suhrkamp Verlag ist offensichtlich vor alpinliterarischen Missgriffen und Fehltritten nicht gefeit. Halten wir uns also an das alpine ABC in französischer Sprache über die Gründe, warum wir die Berge lieben. Da gibt’s wenigstens keine Übersetzungsfehler.

„Beim Sportklettern steckt man die Routen von oben her ab. Die Kletterer schnallen sich oben sicher fest und steigen dann langsam ab, um die Route zu bereinigen, zu üben und mit Haken zu versehen.“

Quatsch! Oder auf Englisch: Bullshit! Denn diese ziemlich falsche Definition von Sportklettern stammt vom amerikanischen Ethikprofessor und Kletterer Dane Scott aus seinem Beitrag „Freiheit und Individualität ‚on the rocks‘“ im Buch „Die Philosophie des Kletterns“. Es erschien 2014 erstmals auf Deutsch im mairisch Verlag und nun als günstige Taschenbuchausgabe im sehr renommierten Suhrkamp Verlag. Die Originalausgabe von 2010 heisst „Climbing – Philosophy for Everyone: Because It’s there“. Und genau hier mag der Haken stecken: In den USA wird vielleicht Sportklettern wie bei Dane Scott verstanden; hierzulande aber ist diese Definition schlicht falsch.

Nicht die einzige brüchige Passage im Buch mit dem hochtrabenden Titel. Die Schwierigkeiten beginnen bereits damit: climbing ist viel mehr als klettern; es umfasst auch das Bergsteigen im klassischen Sinn. Und so folgen sich ungenaue und falsche Begriffserklärungen und Übersetzungen wie die Griffe in einer Kletterhalle. Ein weiteres Beispiel: Bei der ersten freien Begehung der Salathé-Wall des El Capitan sei der Vorsteiger „ohne Sicherung geklettert.“ Quatsch: Da war das Seil zum Nachsteiger, da waren die mobilen Sicherungsgeräte, die der Vorsteiger gelegt hat und in die er mittels der Karabiner ins Seil eingehängt hat. Aber er hat die Sicherungsgeräte (Klemmkeile, Haken) nicht als Haltepunkte für Hände und Füsse benutzt. Anders gesagt: Es gibt ein ziemliches Gefälle zwischen der ungenügenden Übersetzung und der immer wieder herbeizitierten Phänomenologie des Geistes von Hegel.

Trotzdem: Ein paar der übersetzten Beiträge sollten durchaus gelesen werden, so derjenige „über das Schlagen von Griffen“. Und die beiden originaldeutschen „Klettern ist beides. Über Dualismus“ sowie „Abschied vom unendlichen Gipfel“ sowieso. Zum Beispiel auf der Fahrt nach oder zurück von Brig; dort findet von Mittwoch bis Sonntag zum 12. Mal das Multimediafestival „BergBuchBrig“ statt. Am Eröffnungsabend steht der Film „The Art of Climbing“ auf dem Programm, am Samstag Mittag zwei weitere Kletterfilme, am Sonntag Mittag der Kletterfilm „Tupendeo – one mountain, two stories“ von Robert Steiner. Nicht verpassen!

Zum ersten Mal hingegen findet der „Salon de la Montagne“ im Rahmen der Genfer Herbstmesse „Les Automnales“ statt, und zwar vom kommenden Freitag bis Sonntag im Palexpo. „Plus de 60 exposants venus de Suisse et de France se rassembleront pour vous présenter leurs activités et vous proposer des animations ludiques et évidemment sportives“, heisst es auf www.automnales.ch/salon-de-la-montagne. Mit dabei auch das Alpine Museum der Schweiz, das die Biwak-Ausstellung „Good News from Afghanistan“ und ein paar Exponate aus dem Nachlass von Erhard Loretan zeigt.

Und was lesen wir auf der Fahrt nach oder zurück von Genf? Ein aktuelles französisches Buch, das sich grundlegend mit dem Bergsteigen befasst, mais bien-sûr! Mein Vorschlag: „Pourquoi nous aimons gravir les montagnes“ von Marco Troussier, Bergführer, Ausbildner, Jazzer und Schriftsteller. Sein zugleich handliches wie tiefgehendes Buch über die Gründe, warum wir das Besteigen der Berge lieben, hat er als (nicht erschöpfendes) ABC aufgebaut, von A wie Air über C wie Cairn (Signal) bzw. (Andacht) und R wie Refuge oder Rêve bis Z wie die Z-Route an der Meije. Das ganze hübsch garniert mit meist älteren schwarzweissen Fotos und Zeichnungen. Un petit cadeau!

Stephen E. Schmid, Peter Reichenbach (Hg.): Die Philosophie des Kletterns. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, € 10.-, www.suhrkamp.de

Marco Troussier: Pourquoi nous aimons gravir les montagnes. Abécédaire (non exhaustif) de l’alpinisme. Les Éditions du Mont-Blanc, Les Houches 2017, € 14.90, www.leseditionsdumontblanc.com

www.bergbuchbrig.ch
www.automnales.ch/salon-de-la-montagne

Die Schlange

Eine Begegnung am Fuss der Wand. Vor lauter Freude über die kleine Schlange vergessen wir fast das Klettern.

Ich bin schon beim erste Haken, als meine Partnerin ruft: «Komm nochmals herunter, das ist eine kleine Schlange.»

In Zeitlupe windet sich das Reptil durch Schotter und Laub, grau gemustert, einen halben Zentimeter dick und fast zwanzig lang, der Kopf dunkel gefärbt. Ein mikroskopisches Zünglein tastet sich durch die winzige Welt dieses einsamen Wesens. Ein Wunder, dass es überlebt hat an diesem Ort, an dem oft ziemlich Betrieb herrscht, die Leute nicht immer darauf achten, was da kreucht und fleucht. Was ist es wohl? Auch die jungen Kletterer, die wir fragen, wissen es nicht. Wohl am ehesten eine Kreuzotter. So winzig und schon halb in Winterstarre wird sie uns bestimmt nicht beissen. Wir haben keine Angst vor Schlangen. Hier auf der Galerie haben wir auch schon junge Ringelnattern gesichtet, die kennen wir. Das ist dieses kleine Wesen wohl nicht, die gelbe Schuppe am Kopf fehlt. Eine Aspisviper? Wohl eher selten in der Gegend.

Zwischen den Seillängen beobachten wir unsern neuen Freund oder unsere Freundin, wie er oder sie verschwindet, wieder auftaucht in einem Polster von feinem Klee. Diese Ruhe, diese Gelassenheit. Die fehlt uns. Ein deutscher Kletterer fällt uns ein, der ein Buch veröffentlicht hatte mit Tipps, wie man die persönliche Klettertechnik verbessern könnte. Einer lautete: Stell dir vor, du bist ein Tier. Ein Affe, eine Eidechse oder Schlange zum Beispiel, ja, das stand in dem Buch. Per Zufall kam dieser Kletterautor einmal auf die Galerie, alles schaute zu, wie er eine schwere Stelle versuchte, sich abmühte. Wir munterten ihn auf, riefen: «Stell dir vor, du bist eine Schlange!» Fies eigentlich, aber schliesslich schaffte er die Stelle, als Schlange, Eichhörnchen, Schwalbe oder was immer.

Mit der Zeit verlieren wir unser Reptil aus den Augen. Wir hoffen, es überlebe den Winter und begegne uns im nächsten Frühling wieder, grösser und schneller noch. Gebt acht auf der Galerie, liebe Kletterfreunde und -freundinnen. Schaut auch mal nach unten, nicht nur nach oben.

Mettmen im Schnee

Früh ist der Schnee gefallen. Gestern noch bis 1700 Meter. Ob Mettmen noch geht?

Noch einmal in diesem Herbst. Es sind noch Rechnungen offen. Hakenhänger, an Stellen, die einst leicht von der Hand gingen. Das Alter, aber bitte nicht ständig klagen. Schau nach vorn.
Die Seilbahn ist gut besetzt, Wanderer, Rentner, Familien mit Kindern, ein Hund. Sonne, Schnee liegt bis zum Stausee. Wir könnten ja auch wandern, aber zuerst einen Kaffee im neuen Berghaus, Berghotel-Mettmen. Die Bedienung freundlich, Glarnertüütsch, heimatlich. Das Haus passt gut in die Landschaft, Holzfassade. Initiative eines mutigen Ehepaars, das zuvor die Leglerhütte bewirtschaftet hat, Chapeau! Und es läuft gut, hören wir, besser als erwartet. Als wir erwartet haben. Was uns doch sehr freut.
Der See, randvoll, ein Spiegel. Wir stapfen durch den Schnee hinauf gegen die Felsen. Klettern? Ja, es geht. Der Fels ist trocken, sonnenwarm, griffig, herrlich. Mettmen eben. Wir sind allein, Stille, nur der Piff eines Murmeltiers schreckt uns auf.
Am Fuss der Wand bilden sich Pfützen vom schmelzenden Schnee. Aufgepasst, dass die Seile nicht nass werden! Auch das schaffen wir. Und auch die Stellen, die mir das letzte Mal zu schaffen machten. Es geht, es geht, es geht noch immer. Fein! Noch was Leichtes, als Kletterdessert. Das dann doch nicht ganz so leicht ist. Aber leichten Herzens steigen wir ab. Noch ein Kaffee auf der Sonnenterrasse. Blick zum tief verschneiten Glärnisch. Glück.

Die Gürbe

Hommage an einen Fluss, die Gürbe. Fluss der Kindheit unseres Rezensenten. Verdammt wild und nie ganz zu zähmen. Also der Fluss. Die besprochene Dissertation widmet sich dem Hochwasserschutz, ein aktuelles Thema, nicht nur an der Gürbe.

„Für Wattenwil war die Gürbeverbauung ein grosser Segen. […] Die Arbeiter sahen den Erfolg selber ein; an Stelle der Geisslein kamen Kühe in den Stall und die alten russigen Hüttli mussten sauberen neuen Häuschen Platz machen.“

Freute sich Wilhelm Bettschen, Amtsschwellenmeister und Bauleiter der Hochwasser-Schutzarbeiten im Oberlauf der Gürbe, im Jahre 1925. Er und die Arbeiter konnten sich so lange freuen, bis das nächste Hochwasser, der nächste Starkregen über dem Gantrisch-Gebiet in den Berner Voralpen die bisher getroffenen Schutzmassnahmen und die besser gewordenen Lebensbedingungen erneut beeinträchtigte oder gar zerstörte. Zwischen 1575 und 2010 passierten am 29 Kilometer langen Lauf der Gürbe, von der Quelle auf etwa 1680 Meter unterhalb der Gantrisch-Nordwand bis zur Mündung in die Aare auf rund 500 Metern, 75 Hochwasserereignisse, davon 12 in der Schadensklasse 4 (sehr schwer) und 3 in der Klasse 5 (katastrophal; so auch am 29. Juli 1990). Ein verdammt wilder und nie ganz zu zähmender Fluss, diese Gürbe. An ihrem Ufer habe ich in Belp neun Jahre lang gewohnt, bis in die vierte Klasse, am Parkweg 4, gleich neben einer Schwelle. Das Rauschen von Wasser, am Fluss oder am Meer, liebe ich noch heute – wenigstens so lange das Wasser nicht zu hoch kommt.

Die Gürbe also. Mein Fluss der Kindheit. Deshalb interessierte mich die Dissertation von Melanie Salvisberg, die nun der Basler Schwabe-Verlag als siebter Band der Reihe Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte publiziert hat: „Der Hochwasserschutz an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855–2010)“. Ein wissenschaftliches Buch, klar. Eines, das minutiös aufzeigt, alle Nebenbäche (auch die geologischen, technischen, sozialen, demographischen, juristischen und politischen) einbeziehend, was so ein harmlos scheinendes Bergbächli anstellen und kaputt machen kann. Zuerst noch unverbaut, dann immer mehr verbaut. Aber, so hat man das gerade an diesem Nebenfluss der Aare erkannt: Die Natur bleibt immer stärker – einmal wird es im Gäntu, wie die Berner das Gantrisch-Gebiet und ihren Hauptgipfel nennen, wieder zu stark regnen, und dann donnert das Wasser ins Gürbetal hinab und durch dieses dem Flugplatz Belpmoos zu. „Da die Hochwasserschutzmassnahmen an der Gürbe nie abgeschlossen werden konnten und im Oberlauf seit 1855 ohne Unterbruch und im Unterlauf nur mit wenigen Pausen Schutzprojekte umgesetzt wurden, sind an diesem Gewässer noch heute Bauten aus allen Bauphasen vorhanden“, schreibt Melanie Salvisberg im Ausblick. „An ihnen lässt sich der Wandel der Technik und der Wasserbauphilosophie erkennen. Die Gürbe ist damit ein interessanter Untersuchungsgegenstand und auch ein Anschauungsobjekt.“ Und ebenfalls ein Wanderziel, gerade am Oberlauf zwischen Quelle und Wattenwil, aber nur bei trockenem Wetter. Kurz: ein aktuelles, spannendes Buch. Bloss schade, dass viele der 42 Abbildungen zu klein gedruckt sind (vor allem die Karten), dass durchaus noch ein paar mehr Illustrationen (zum Beispiel über die Schutzbauten) hätten eingebunden werden können.

Bevor nun „meine“ Gürbe unweit der Elfenau in der grünen Aare verschwindet, noch zwei Zitate. Aus dem Berner Heimatbuch „Das Gürbetal und sein Bauernhaus“ von Paul Howald (1944): „,Ghörscht d’Gürbe rusche?‘ In der Gewitternacht sagten es Vater und Mutter zueinander, wenn sie aufgestanden waren und wachten.“ Und vom Song „Gürbe“ der Band Stop the Shoppers auf ihrem 1993er-Album „Kurt“ die ersten beiden Zeilen: „Gürbe chumm abe nimm d‘Schwelle riis Böim us friss Chempe / und usem nüüt wird e Donner es Grolle u Gröll chunnt cho z’rolle.“

Melanie Salvisberg: Der Hochwasserschutz an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855–2010). Schwabe Verlag, Basel 2017. Fr. 89.- www.schwabeverlag.ch

Daniel Anker: Rund um Bern. Rother Wanderführer, München 2013. Fr. 24.- www.rother.de

Nieder mit den Alpen!

Man fühlt sich an den Opernhauskrawall im Jahr 1980 erinnert. Doch diesmal befinden sich die Chaoten nicht auf der Strasse, sondern im Bundesamt für Kultur. Das Alpine Museum soll kaputt gespart werden.

Damals ging es auch um Kulturpolitik. Millionen fürs Opernhaus, nix für alternative Kultur. «Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer», so klang der wohl bekannteste Schlachtruf aus jenen heissen Tagen.
Nun, die Bundesberner Kulturbürokraten wollen nicht gerade die Alpen schleifen, aber irgendwie haben sie die freie Sicht, bzw. den klaren Blick verloren mit dem Entscheid, den Bundesbeitrag ans Alpine Museum zu vierteln. Eine finanzielle Schmalkost, die das Kulturhaus in Sichtweite des Bundeshauses voraussichtlich zu Grunde gehen lässt. Zur musealen Dokumentation der Alpinen Kultur genügt offenbar das Freilichtmuseum Ballenberg.
Man müsste den Subventionen verteilenden Beamtinnen und Beamten ihre prächtige Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau tatsächlich wegschleifen. Brauchen die Alpen kein Museum, keine Dokumentationsstelle, kein aktuelles Ausstellungs- und Diskussionsforum, keinen Kulturplatz mit spannenden Events und aktuellen Interventionen? Zur Ressource Wasser zum Beispiel, zum Wolf in den Alpen.
Am kommenden 1. August werden sie wieder zelebriert und besungen, unsere Berge, Gipfel, Gletscher, «wenn der Alpen Firne sich röten». Réduit und Matterhorn, Gotthardbasis und Grimselsee, Wildheu und Alpkäse, Hannibal und Suworow. Die Alpen sind patent, wenn es um Festreden, Militärübungen, Skizirkus und Wasserzinsen geht. Oder als Magnet für Investitionen aus Ägypten, Katar oder China in touristische Megastrukturen. «Betet, freie Schweizer, betet.»
Eigentlich müssten jetzt die 140 000 Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs mit Seil und Pickel auf dem Bundesplatz für die Erhaltung des Alpinen Museums demonstrieren. Wie die Bauern oder die Walliser. Oder die Jungen damals vor dem Zürcher Opernhaus. Einfach, ohne Pflastersteine zu werfen oder Gülle zu verschütten.

Den Drachen besiegen!

Am Balladrum stossen wir unverhofft auf eine Spur des Tessiner Sportkletterpioniers, Bergführers und Autors Luca Sganzini.

Die Sonne heizt schon am Morgen die Wand im Wald unterhalb des Balladrum auf. Nur die linke Kante liegt noch im Schatten. Etwas abdrängend der Einstieg, dann um die Kante, leichter über einen Gneisrücken, ein versteinerter Drachenrücken. Wir haben ihn besiegt! «Sconfiggere il Drago» heisst die Route. Es ist der Titel des einzigen Buchs von Luca Sganzini, der jetzt 65 Jahre alt wäre – im November 1979 ist der Tessiner Jurist, Autor und Bergführer im Hohen Atlas beim Abseilen zu Tode gestürzt. Es war ein Schock für die Tessiner Kletterszene, war doch Luca einer der Pioniere, aktiv vor allem in den Denti della Vecchia bei Lugano, wo er aufgewachsen ist. Aber auch auf schwierigen Routen in den Dolomiten. Er war einer der Ersten, die systematisches Training im Klettersport einführten und darüber publizierte. Als Teilnehmer der ersten Tessiner Himalayaexpedition erreichte er am 18. Oktober 1978 den Gipfel des Pumori. Im September 1979 erhielt er das Diplom als Bergführer.
Freunde gaben nach seinem Tod zur Erinnerung das Buch «Sconfiggere il Drago» heraus (Edizioni Bernasconi. Agno 1983), eröffneten in den Denti eine schwierige Mehrseillängenroute mit diesem Namen. Die Familie unterstützte den Bau einer Schutzhütte in den Denti della Vecchia, die «Baita del Luca».
Unsere Route am Balladrum ist nicht so schwierig, aber vermutlich haben sie die Einrichter 1987 ebenfalls im Andenken an Luca so benannt.
Inzwischen scheint die Sonne auch um die Kante, zu heiss zum Klettern. Wir packen Seile, Expressen, Kletterschuhe und Gürtel in den Rucksack, los geht’s zum Kaffee.

Weiterlesen:
Den Drachen besiegen. In: Emil Zopfi: Dichter am Berg. AS Verlag, Zürich 2010

Plouf!

Die Sommerhitze hat unserem Alpinrezensenten offenbar so heftig zugesetzt, dass er für einmal Literatur für Bade- statt für Bergfreunde bespricht. Wobei: wer macht nach einer heissen Berg- oder Klettertour nicht gern einen Sprung ins kühle Nass! Plouf! So platscht es zum Beispiel am Lac Léman. Und auf geht’s, erfrischt zur nächsten Tour.

«Quin ne connaît pas les vins de St-Saphorin? Mais, qui connaît les Bains Reymond ? Aussi poétiques que le village, en bordure du vignoble omniprésent à St-Saphorin. Les Bains Reymond, on les ‘déguste’, on les ‘savoure’.»

Stellte Gilbert Schopfer vor einem Vierteljahrhundert im Führer «64 Plages autour du Léman» fest. Der Genfer See ist mit 582,36 km2 der grösste See am Rande der Alpen – die Bains Reymond sind wahrscheinlich die kleinste Badi der Schweiz. Eine felsige Plattform, die ins Wasser hinausragt. Platz für vielleicht ein Dutzend Badegäste, wenn sie sich gut mögen. Ein Sprungbrett. Ein Kieselstrand für eine Mutter mit einem Kind. Zwei kleine Umkleidekabinen, halb im Bahndamm drin. Aber zwischen dem Ufer und den Geleisen noch ein kleiner Rebberg. Nicht ganz in Bahnhofsnähe, weil man von der Station St-Saphorin noch knapp zehn Minuten gehen muss.

Direkt bei einer Haltestelle hingegen befindet sich der Plage de Rivaz. Die Unterführung dient nämlich gleichzeitig als Zugang zum Strand. Wir können in den Badekleidern aus dem Zug und in den Léman steigen – und umgekehrt. Und dann zur Station Epesses weiterfahren, wo nochmals zwei offizielle Badeplätze auf uns warten. Richtung Montreux ein Kiesuferplätzli, Richtung Lausanne die Bains de Moratel, die grösste der drei Seebadis von Cully. Kiesig, grasig, grosszügig, mit Pinien wie am Mittelmeer. Warum denn in die Ferne schweifen? Ferienlektüre haben wir auch schon zur Hand: Den Roman «Samuel Belet» von Charles Ferdinand Ramuz: «‘Setzen Sie sich, da ist es angenehm.‘ Und wirklich, es war angenehm. Man sass im feinen Sand, er gab nach wie ein Federkissen. Vor uns war der See; an jenem Tag wehte die Bise, sie trieb die Wellen auf den See hinaus; es schienen gar keine Wellen zu sein, denn man sah nur ihre sanft ansteigende Fläche, erst weiter draussen kamen die Schaumkronen. Das Wasser war so blau, dass es schwarz schien.»

Ein zweites Buch passt ebenso gut: «Plouf! Une histoire de la baignade dans le Léman» von Lionel Gauthier. Die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im «Musée du Léman» in Nyon zeichnet schön ausgelegt wie Badetücher (und ebenso farbig!) die Geschichte des Badens im Genfer See nach. Von einst, als baden und waschen noch am gleichen Uferabschnitt stattfand, bis heute, wo das Plaisir mit Action wie dem Flyboard aufgespritzt werden muss. Sonnige (und freilich manchmal auch trübe) Geschichte(n), Aufsehen erregende Illustrationen (und Badekleider) – das Buch bringt uns das Baden näher, im Léman und anderswo. Und macht natürlich Lust, mindestens eine der 121 offiziellen Badeplätze rund um den Leman zu entdecken. Hier schon mal ein paar Begriffe zum Badevokabular: barboter, patauger, faire trempette, boire la tasse, faire la planche, piquer une tête, nager et plonger.

Compris? Verstanden? Teilweise wenigstens. Wer lieber auf Deutsch schwimmt und taucht, hier ein kleiner Hinweis. Unter den Schweizer Outdoor-Publikationen ist ein neues Heft (nicht Hecht!) aufgetaucht: Bergwelten. Für deutsche und österreichische Leser gab es Bergwelten schon. Nun können damit auch die schweizerischen ihr Land neu entdecken. Die zweite Ausgabe vom Sommer 17 mit 150 Seiten widmet sich im Hauptthema dem Wandern am Wasser. 20 Touren führen zu Bergseen und Wasserfällen. Auf bzw. hinein geht’s! Platsch!

Lionel Gauthier: Plouf! Une histoire de la baignade dans le Léman. Éditions Glénat Suisse, Morges/Musée du Léman, Nyon, 2017, Fr. 22.90.

Musée du Léman & Aquarium à Nyon: Offen von Dienstag bis Sonntag, April-Oktober 10-17 Uhr, November-März 14-17 Uhr.
Die Ausstellung «Plouf! Une histoire de la baignade dans le Léman» ist noch bis zum 20 September 2018 zu sehen. www.museeduleman.ch
Und das Paléo Festival Nyon beginnt am 18. Juli 2017.

Bergwelten Schweiz ist am Kiosk erhältlich. Das Herbst-Heft wird am 14. September 2017 erscheinen. www.bergwelten.com