Schauplatz Alpen

Lese- und Wanderbuch in einem, präsentiert mit tollen Fotos. Das neue Buch von Karin Steinbach Tarnutzer geht vor allem in der östlichen Hälfte der Schweiz auf Tour.

«Nach so vielen Jahren mit Seil und Kletterschuhen, Eispickel und Steigeisen ist der langsamere Rhythmus des Wanderns für mich eine Neuentdeckung. In leichterem Gelände geht es sich anders, ich mache bewusstere Pausen und geniesse die Bewegung ohne Zeitdruck. Das schafft Raum fürs Entdecken und ermöglicht es mir, Beobachtungen festzuhalten. Ich mache viele Fotos als visuelle Erinnerung, vermerke auf der Karte wichtige Orte und mögliche Alternativrouten. In dieser Hinsicht bin ich etwas altmodisch und drucke mir immer eine Papierkarte aus. So entdeckt man aber auch abgelegene und wenig begangene Pfade, die ganz neue Perspektiven eröffnen. Zu Hause schütte ich dann den Rucksack mit Bildern, Erinnerungen und Erlebnissen aus und setzte das Puzzle wieder so zusammen, dass andere daran teilhaben können.»

Das können sie – bestens! Und erst noch ganz unterschiedlich. Auf 264 Seiten im druckfrischen Buch „Schauplatz Alpen. Reportagen aus den Schweizer Bergen – mit 45 Wanderungen“. Dafür hat Karin Steinbach Tarnutzer – freie Journalistin, Autorin und Lektorin aus München und St. Gallen, bekannt geworden durch die Ueli-Steck-Bücher – 15 ihrer Reportagen ausgewählt, die sie seit zwölf Jahren für die Zeitschrift GEO schreibt, immer mit Schauplatz Schweiz. Und zu diesen Reportagen stellt sie nun jeweils je zwei bis vier Tourenvorschläge, damit die Reportagen mit eigenen Erlebnissen vertieft werden können. Wandern als neue Form bergsportlich-publizistischer Aktivität für Karin, wie sie im Interview in der Frühlingsausgabe der Transa-Zeitschrift „Four Seasons“ verrät.

Da kommen wir Andern also, beim Lesen und beim Gehen, in den Triassic Park im Parc Ela und zur Wallfahrtskirche Ziteil im Bündnerland, zu Permakulturprojekten im Appenzell-Innerrhoden, zu einer unterirdischen Chipfabrik im Gonzen, in die Stiftung Felsentor auf halber Höhe der Rigi, zu Hochspannungsleitungen beim Pumpspeicherwerk Limmern im Glarnerland. Eine der dortigen Wanderungen nimmt Tuchfühlung mit dem Tödi auf, der auch das Titelbild ziert – schön passend zu 200 Jahre Erstbesteigung, die in diesem Jahr hoch gefeiert wird (mehr dazu in einem späteren Buch der Woche). Von den 15 Schauplätzen mit dazugehörigen Touren liegen fünf in Graubünden, drei in der Zentralschweiz, zwei im St. Galler Rheintal, je einer im Appenzellerland, im Glarnerland, im zürcherischen Sihlwald, in den Berner und in den Walliser Alpen. Immer werden die Reportagen und auch die Wanderungen mit tollen Fotos präsentiert. Was aber fehlt, sind Karten, damit man sich bequemer orientieren kann, wohin die mit allen nötigen (wander-)touristischen Infos beschriebenen Touren führen.

Auf die Frage, welche Geschichte sie besonders beeindruckt hat, antwortete Karin Steinbach Tarnutzer im Transa-Interview: „Als ich einen Urner Wildheuer bei seiner Arbeit begleitete. Die Wildheuer schneiden Gras in hoch gelegenen, steilen Wiesen, die mit Tieren schwierig oder gar nicht erreichbar sind – eine jahrhundertalte Tradition im Alpenraum. Schon der Zustieg zu dem Hang, den er an diesem Tag mähte, war recht abenteuerlich und nicht leicht zu finden. Ohne Schwindelfreiheit und Trittsicherheit geht es da nicht. Die Nacht haben wir in einer sehr einfachen Wildheuerhütte verbracht, kaum mehr als ein hölzerner Verschlag unter einem Felsen mit einer offenen Feuerstelle – dafür mit fantastischem Panorama. Solche Erlebnisse wollte ich in Worten einfangen und für andere literarisch nacherlebbar machen.“

Karin Steinbach Tarnutzer: Schauplatz Alpen. Reportagen aus den Schweizer Bergen  – mit 45 Wanderungen. Mit Reportagefotos von Robert Bösch, Gaëtan Bally, Bruno Augsburger, Christian Beutler und Anthony Anex. AT Verlag, Aarau 2024. Fr. 44.-

Lesungen mit Karin Steinbach Tarnutzer zu „Schauplatz Alpen“, dreimal an einem Donnerstag: 18. April, 20.15 Uhr, in der Transa Filiale Zürich Europaallee; 25. April, 19 Uhr, in der Transa Filiale St. Gallen; 2. Mai, 19 Uhr, im Restaurant Myle ein paar Schritte neben der Transa Filiale Bern. Eintritt frei, Anmeldung hier: www.transa.ch/de/events/schauplatz-alpen-eine-lesung-mit-karin-steinbach-tarnutzer/

Liebe und böse Berge

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die durch einen Gipfel verbunden sind, der zur roten Liste des gefährdeten Welterbes der UNESCO gehört und der gleichzeitig Menschen gefährdet.

«Hier herrsche ich. Seit über 500 Jahren sitze ich in meiner Nische, dort, wo es in den Berg hinein geht. Meine Nase ist schwarz von den vielen Zigaretten, die sie mir anstecken, zwischen meinen Beinen steht die Flasche mit Zuckerrohrschnaps und die Tüte mit Coca-Blättern, meine Hörner sind mit bunten Luftschlangen behängt. Dies alles und das Lamablut, das sie um mich herum verschütten, soll mich gnädig stimmen. Ich soll sie beschützen. Ich bin der Tió, der Teufel, der Herrscher hier im Berg. […]
Klack, Klack, Klack, das Hämmern tönt von außen zu mir herein, dort sitzen die Frauen vor den Mineneingängen und klopfen über ihren Röcken das wenige Erz von den Gesteinsbrocken, die die Männer nach der Explosion auf dem Berg rausschaffen. Einmal in der Woche kommt ein Lastwagen und holt das Erz. 10 Dollar gibt es pro Tonne. Dann machen die Männer Pause. Wortlos hocken sie sich zu mir. Sie kauen Coca und rauchen, ich rauche mit ihnen. Wir harren aus, wir – und der Tod.»

Anfang und Ende des Textes zum 28. Berg, zum Cerro Rico (4800 m), im Buch „Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben“ von Lucia Jay von Seldeneck (Text) und Florian Weiß (Illustrationen). Vor dem Silberberg von Potosí in Bolivien stellen die beiden den Uschba vor, anschliessend den Mont Blanc, immer zu einem passenden Thema sowie mit einigen lexikalischen Angaben. Mit dabei in diesem liebevoll und witzig gemachten Lese- und Zeichnungsbuch sind vier helvetische Gipfel: erwartet Monte Verità (Nr. 3) und Matterhorn (Nr. 25), überraschend als Nr. 20 das Wellhorn (3191 m) in den Berner und als Nr. 23 die Pointe Burnaby (4134 m) in den Walliser Alpen, und zwar mit den Geschichten „Wer möchte schon schreckliche Unholde auf Gemälden betrachten“ bzw. „Stop her!“. Tiefster Gipfel ist der künstliche Fliegeberg (59 m) in Berlin, höchster der fiktive Mont Analogue. Viel Spass beim Abhaken! Wobei man den Cerro Rico besser weglässt: Er gilt als der Berg, der Menschen frisst.

Genau so heisst auch das Buch von Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes.“ Anhand der vierzehnjährigen Halbwaise Alicia, ihrer Familie und des Ortes, an dem sie lebt, erzählt der spanische Journalist die Geschichte des „Rohstoffsegens“ in Bolivien: von den spanischen Eroberern, die Mineralien in Sklavenarbeit abbauen liessen, über den Aufstieg einer lokalen Oligarchie im 19. Jahrhundert bis hin zu einer Reihe von Militärdiktaturen, oft installiert mithilfe der USA, um die Rohstoffversorgung des Nordens zu sichern. Nicht gesichert ist aber das Leben von Alicia, die für zwei Euro pro Nacht einen Wagen voller Steine durch die unterirdischen Stollen schiebt, um die Familie mitzuernähren. Der giftige Staub der Mine schwebt in der Luft, die sie einatmet, und sickert ins Wasser, das sie trinkt. Und das auf 4400 Metern, also auf einer Höhe, auf der in den Alpen die Gletscher noch ein paar Jahrzehnte am Leben bleiben werden. „Der Berg, der Menschen frisst“ ist ein buchstäblich atemberaubendes Bergbuch.

Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß: Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2022. € 28,00.

Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes. Rotpunktverlag, Zürich 2022. Fr. 29.-

150 ans du Club alpin français

Ein Fünftel des Alpenbogens liegt in Frankreich. Bei den Gründungen bergsportlicher Verbände liegt das Land an fünfter Stelle.

«Le Club alpin français aide à faire de la montagne un sport de masse, c’est-à-dire pratiqué par le plus grand nombre. Comme de nombreuses associations, il communique à chacun de ses membres la passion de la nature. Mais sans doute est-il l’un des seuls, et là est sa grande ambition, à préparer l’homme à la vie.»

Schrieb ein Mann vor 50 Jahren, der es am Berg wie im Leben ganz hoch hinauf schaffte: Pierre Mazeaud, geboren am 24. August 1929 in Lyon. Der promovierte Jurist hatte eine Professur an der Pariser Sorbonne inne, war Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, Vizepräsident der französischen Nationalversammlung, Präsident des französischen Verfassungsgerichts, Staatssekretär für die Bereiche Jugend, Sport und Freizeit sowie zuletzt noch Vorsitzender der Commission Mazeaud, die mit der Ausarbeitung eines Berichts zur Einwanderungspolitik der Regierung beauftragt war – das war 2008! Pierre Mazeaud gehörte seit den 1950er aber auch zu den besten Alpinisten in Europa: 1959 Franzosenweg in der Nordwand der Westlichen Zinne, 1961 Fast-Erstbegehung des Frêney-Pfeilers am Mont Blanc (sie führte zu einer der bekanntesten Tragödien im Alpinismus), 1978 erster Franzose auf dem Everest zusammen mit Jean Afanassieff und Nicolas Jaeger. Was für ein volles Leben!

Sein Text zu Alpenclub und Lebensvorbereitung erschien 1974 in der Zeitschrift „La Montagne et Alpinisme“, dem Organ des Club alpin français. Heute feiert dieser Verein seinen 150. Geburtstag, und der Text von Pierre Mazeaud bildet den Auftakt für den zweiten Teil im Jubiläumsbuch „Club alpin français. Une histoire d’alpinisme volontaire“. Dieser Teil beleuchtet die letzten 50 Jahre unter dem Titel „Les horizons gagnés“ mit Porträts von Alpinisten und Alpinistinnen: „Depuis cinquante ans, ils marquent la vie du CAF et en portent les couleurs plus haut, plus loin.“ Höher, weiter, und immer mehr Mitglieder wohl auch.

Am 2. April 1874 verabschiedeten 137 Gründungsmitglieder in Paris die Statuten des Club alpin français. Etwas verspätet, darf man sicher sagen, wenn man die Gründungen der  Bergsportvereine der andern wichtigen Alpenländer anschaut: Österreichischer Alpenverein, 19. November 1862; Schweizer Alpen-Club, 19. April 1863; Club Alpino Italiano, 23. Oktober 1863; Deutscher Alpenverein, 9. Mai 1869. Im seinem 150. Jahr zählt der CAF 110000 Mitglieder in 430 Sektionen, verwaltet 120 Hütten in den Alpen, Pyrenäen, Vogesen und im Massif central. Seit 2005 heisst der Club alpin français offiziell Fédération française des clubs alpins et de montagne (FFCAM), aber der alte Name wird zum Glück immer noch gebraucht, und seine Mitglieder nennen sich cafistes. Der CAF hat das Gesicht des Bergsteigens in Frankreich nachhaltig geprägt. Als Verband bildet er weiterhin aus, inspiriert und begleitet alle Arten von Bergsteigern – junge und alte Menschen, Männer und Frauen, Amateure und Profis. Sie sind es, die diese Geschichte im reich illustrierten, roten und quadratischen Jubiläumsbuch erzählen. Den Schluss bildet die Chronologie. Gleich zu Beginn eine Tragödie: Édouard de Billy stirbt zwei Tage nach seiner Wahl zum ersten Präsident des Club alpin français bei einem Eisenbahnunglück.

Club alpin français. Une histoire d’alpinisme volontaire. Sous la direction de Thomas Vennin. Iconographie Catherine Cuenot. Guérin, éditions Paulsen, Chamonix 2023. € 59,00.

Berggeister

Ein Fotoband mit geheimnisvollen Fotos. Daniel Pittet lotet mit der Kamera eine andere Realität aus, wie es vor 200 Jahren Rudolph Meyer mit der Schreibfeder zeigte.

«Und rings um die Berge zog sich unten ein Saum von Alpenrosen im Glutfeuer der Rubinen; dann dehnten sich wieder Abhänge aus, blumig durchwoben wie der Ornat eines Priesters; oben schimmerte ein Saphirstreifen, der im Schneefeld sich verlor. Die Spitzen der Eisfelsen blitzten im Sonnenlicht als ein Brillanten-Diadem. Der Himmel war ein tiefer See, der zündete im Widerschein der Alpenrosen, und alle Blumen spiegelten sich in ihm glühend und goldig, wie Morgen- und Abendroth im Gewässer, und die Farben schwankten und schillerten im Wellenschlage.»

Dieser wundervolle Blick auf die Landschaft stammt von einem Schriftsteller und Alpinisten, der vor 200 Jahren unterwegs war. Rudolph Meyer (1791–1833), Spross der Aarauer Fabrikantenfamilie Meyer, Sohn des Jungfrau-Erstbesteigers Johann Rudolf Meyer. Rudolph Meyer selbst gelang fast die Erstbesteigung des Finsteraarhorns (4274 m) am 16. August 1812. Ob seine Führer Arnold Abbühl, Joseph Bortis und Alois Volken wirklich den allerhöchsten Punkt erreicht haben, ist eines der grössten Rätsel der Alpinismusgeschichte. Meyer selbst blieb mit einem weiteren Führer, Kaspar Huber, auf dem Südostgrat des Finsteraarhorns zurück. Rudolph Meyer lehrte von 1821 bis zu seinem Tod als Professor der Naturwissenschaften an der Aarauer Kantonsschule; sein Hauptwerk heisst „Die Geister der Natur“ von 1820. In „Alpenrosen. Ein Schweizer-Taschenbuch auf das Jahr 1831“ publizierte Meyer die Erzählung „Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte“, aus der das Einstiegszitat mit sich spiegelnden Landschaftseindrücken stammt.

Hauptfigur dieser Rahmenerzählung, die 1815 im sturmumtosten Grimsel Hospiz spielt, ist der Walliser Gemsjäger Joseph Walcher. Er reisst die meisten Zuhörer mit seiner ebenso stürmischen Geschichte fort, die von romantischen Einfällen nur so spukt. Dazu gehören die schicksalshafte Begegnung und die Gespräche mit dem Berggeist. Eine der Weisheiten des Berggeistes sei hier widergegeben: „Der Mensch ist aus dem Urmeere noch nicht aufgetaucht, aber es schlagen in diesem Meere schon die Pulse eines höhern Lebens. Das Meer versinkt; doch sein Leben geht nicht unter!“

Rätselhaft, nicht wahr? Rudolph Meyer hätte Freude am geheimnisvollen Fotoband, der vor rund zwei Monaten aufgetaucht ist: „Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft.“ Lassen wir Daniel Pittet gleich selber erzählen. Der 1967 im Greyerzerland geborene Ingenieur, Architekt und Fotograf wollte nach einer Novemberwanderung im Basodino-Gebiet noch einmal seine Bilder anschauen – und kippte eines um 90 Grad um: „Ich trug keine Brille und konnte das Bild nicht gut erkennen, aber ich hatte dennoch die Offenbarung eines Gesichts, das mich anstarrte. Der entschlossene Blick faszinierte mich. ‚Ich bin hier und sehe dich!‘ sagte es zu mir.“ Der Schlüsselmoment: Die Spiegelung der Landschaft auf dem glatten Wasser eines Sees und die anschliessende Drehung des Bildes von der Horizontalität in die Vertikalität schufen neue Formen, mysteriöse Gestalten, phantastische Körper und Köpfe. „Diese Begegnung mit den Berggeistern ist eine Einladung, einen tiefen Blick auf die Welt um uns herum zu werfen, die Umgebung intensiv zu beobachten, in die sichtbare Materie einzudringen, um ihr innerstes Wesen zu erkennen und sich davon zu nähren.“

Tauchen wir also ein in diese andere Welt, nehmen wir Kontakt auf mit den Kreaturen und Gespenstern, den Engeln und Ungeheuern, die uns da plötzlich begegnen, uns anschauen, vielleicht auch etwas mitteilen wollen, wie es einst Joseph Walcher erlebt hat. Im Anhang des Fotobandes steht, wo und wann Daniel Pittet seinen Berggeistern begegnet ist, im Tessin, am Zmuttgletscher bei Zermatt, im Toggenburg, aber auch auf Island. Auf einzelnen Bildern erkennt man noch, wie sie entstanden sind, sieht man noch das Ufer. Andere jedoch haben sich völlig gelöst vom Ursprung, sind sozusagen vergeistert, nur noch fremde Wesen tauchen auf. Oder doch nicht? Denn auf dem Bild auf Seite 67 versteckt sich ein Hase. In diesem Sinne: Frohe Ostern!

Rudolph Meyer: Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte; erstmals veröffentlicht 1830, abgedruckt in Fundstücke der Schweizer Erzählkunst. Erster Band 1800–1840. Birkhäuser Verlag 1990.

Daniel Pittet: Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Ausstellung „Esprits de la montagne. Photographies de Daniel Pittet“ im Musée gruérien in Bulle bis am 26. Mai 2024; https://musee-gruerien.ch

Schneebücher zum Frühlingsbeginn

Bevor die Skigebiete die Lifte abstellen und wir die Tourenski gegen Gravelbikes tauschen: ein Blick zurück auf vier farbig-verlockende Skipublikationen.

«Je me répète souvent que nous avons une chance extraordinaire d’avoir cet élément magique pour glisser.»

Wenn dieses magische Element denn vom Himmel fällt oder gefallen ist bzw. aus der Kanone gepulvert wurde! Aber wollen wir überhaupt noch Schnee? Heute am 20. März 2024, wenn um 4.06 Uhr mitteleuropäischer Zeit auf der Nordhalbkugel der Frühling begonnen hat – der früheste astronomische Frühlingsanfang seit 1896. Winter ade, auch wenn es am Palmsonntag-Wochenende nochmals Schnee bis unter 1000 Meter geben könnte. Jedenfalls Grund genug, um mit vier noch immer frischen Skibüchern kurz zurückzuschauen.

Das Eingangszitat zum magischen Schnee stammt von Émile Allais (1912–2012), dem Grand Old Man der französischen Skirennfahrer, gefunden im Vorwort zum vierten Band von „ski français“, der sich dem „aventure humaine“ widmet. Wer sind die Leute hinter dem Skilauf? Erfinder wie Allais, Ingenieure, die Lifte und Pisten entwickel(te)n, Arbeiterinnen, die den ganzen Pistenbetrieb im Auge behalten. Spannende Geschichten, die neben die Skiliftbügel und zurück in die Geschichte blicken, comme toujours fein präsentiert.

Das gilt bien-sûr auch für den dritten Band von „ski français“, der das magische Element unter die Lupe und die Latten nimmt. Im hinteren Teil der Publikation auf sieben Seiten ein Artikel, der die schweizerischen Tourismusanbieter sicher freut: „La Suisse, pionnière de la mobilité douce en montagne.“ Uns würde es freuen, wenn es hierzulande auch solch gut gemachte Skihefte à je 96 Seiten gäbe. In einem könnte dann das viertgrösste Skigebiet in Frankreich vorgestellt werden, das man aber gar nicht kennt. Nicht mal das gebirgige Dreigestirn, das die Region symbolisiert wie beispielweise Eiger, Mönch und Jungfrau das Oberländer Skigebiet Grindelwald-Wengen.

Zuerst diese Trio, das im Winter am schönsten anzuschauen ist, wenn die felsigen Gipfelwände rötlich und die Hänge darunter weiss leuchten. Es sind dies die Aiguilles d’Arves auf der Grenze zwischen den Departementen Savoie und Hautes-Alpes; von links nach rechts: Aiguille Septentrionale mit dem Bec Nord (3364 m) und dem Bec Sud (3358 m), Aiguille Centrale (3513 m) und Aiguille Méridionale (3514 m). Erstbesteiger der Südspitze sowie der doppelgipfligen Nordspitze waren, nicht ganz zufällig, William Augustus Brevoort Coolidge und sein Leibführer Christian Almer aus Grindelwald in den 1870er Jahren. Auf der Mittelspitze der Aiguilles d’Arves standen erstmals zwei französische Gemsjäger anno 1839. Soweit kurz die Alpinismusgeschichte. Diejenige zum Skifahren begann so richtig vor zwanzig Jahren, als sich die sechs Skiorte La Toussuire, Le Corbier, Saint-Sorlin-d’Arves, Saint-Jean-d’Arves, Les Bottières und Saint-Colomban-des-Villards zusammenschlossen. Seither treten sie unter dem geschützten Namen Les Sybelles auf. Geschichte und Gegenwart der sechs so Schönen erzählt Hervé Bodeau in „Les Sybelles. Une domaine, six stations de ski pour une histoire“. Müsste man vielleicht mal hin, im nächsten Winter.

Ebenfalls eine Reise wert, ja wohl sogar zwei oder drei Reisen, sind die Ziele, die der Bergführer Shams Eybert-Berard zusammen mit seiner Partnerin Charlotte Villez und dem Fotografen Stéphane Guigné im Bildbandführer „Voyages à ski. Des Alpes aux neiges de l’Asie centralevorstellt. Ubaye, Queyras und Korsika in Frankreich, die Dolomiten, dann Albanien, Kosovo und Griechenland: Traumdestinationen für Skitouren. Das gilt auch für die Länder weiter östlich, obwohl dann zum erhabenen Gefühl, im Schnee hoch oberhalb von Meer und Wüste zu kurven, das beengende dazukommt, dort freiheitlich unterwegs zu sein, wo dies den Einheimischen kaum bis nicht möglich ist. Die Pulverschneewoche in Sibirien jedenfalls, so cool das sicher für die Reisenden und die Bereisten gewesen ist, hätte man streichen müssen: Skiferien im Putinland, das geht schlicht nicht. Dann schon eher, wenn man so weit fliegen will, in die Mongolei mit Ski im Gepäck reisen. Von ihrem höchsten Gipfel, dem Chüiten (4374 m), durch das weisse Element hinabgleiten: mais c’est fantastique!

ski français. Tome 3: Neige; tome 4: L’aventure humaine. Éditions Glénat, Grenoble 2023/24. Je € 20,00.

Hervé Bodeau: Les Sybelles. Une domaine, six stations de ski pour une histoire. Éditions Glénat, Grenoble 2023. € 26,00.

Shams Eybert-Berard: Voyages à ski. Des Alpes aux neiges de l’Asie centrale. Éditions Glénat, Grenoble 2023. € 36,00.

Nicolas de Staël

Grossartige Gemälde mit Meer und Bergen: jetzt nach Lausanne, später mal nach Antibes.

«Bei den Remparts in der Altstadt von Antibes gehe ich nicht zum Strandtor – man käme nicht weiter –, sondern steige hoch auf die Umfriedungsstrasse auf der Mauer oben zwischen Meer und Stadt. Am ersten Hau entdecke ich zufällig die Erinnerungstafel für Nicolas de Staël, französisch und russisch. Er lebte in diesem Haus und stürzte sich am 16.3.1955 vom Balkon oben hinab.»

Eintrag vom 7. Februar 2017 im 33. Tourenbuch von Daniel Anker zur Küstenwanderung von Nizza nach Antibes, inkl. Besteigung der Anhöhe Notre Dame de Bon Port de la Garoupe (75 m) auf dem Cap d’Antibes. Ich wusste schon, dass sich Nicolas de Staël, einer meiner Lieblingsmaler, in Antibes das Leben genommen hatte. Aber wenn man dann in dieser Strasse steht, in der er tot lag, und hinaufschaut zur Terrasse seines Ateliers, von wo er gesprungen ist, dann ist das ein ziemlicher Schock. Nun ist das Werk des französischen Malers russisch-baltischer Herkunft (1914–1955) in einer grossartigen Retrospektive in der Formation de l’Hermitage hoch oberhalb der Altstadt von Lausanne zu bewundern.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, darin sehr viele der einzigartigen Gemälde und Zeichnungen von Nicolas de Staël abgebildet sind. Und auch ein Foto der Terrasse des Ateliers, mit Blick aufs Meer und das Cap d’Antibes. Diese Sicht hat de Staël immer wieder festgehalten, zum Beispiel in „Le Fort Carré d’Antibes“, einem fast zwei Meter breiten Ölgemälde, das im Musée Picasso in Antibes zu sehen ist, oder im kleinformatigen „Le Bateau“ ebenfalls von 1955, darauf ein dick aufgetragenes rotes Rechteck inmitten grau-blau-schwarz-weisser Farbschichten hervorsticht. Ein solcher roter Farbfleck findet sich auch auf „Pont de Bercy“ von 1939, das den Anfang der Ausstellung in der Fondation macht.

Farben, Farbschichten, abstrakt oder später immer mehr figurativ: Nicolas de Staël setzte in seiner Kunst neue, bis heute überraschende und überzeugende Akzente in Farbe. 1934 weilte er in den Bergen oberhalb Grenoble und schrieb seiner Adoptivmutter: „Imaginez une ferme à mi-pente d’une montagne, grands toits gris-rouge, petites fenêtres, la vigne y grimpe n’importe comment et tout autour, les Alpes avec le vent. Vers le couchant un pic couvre d’une ombre verte ou noire l’avant-plan du tableau. De-ci de-là des masses grises peu éclairées. Puis très loin, en face de nous un massif puissant et rocailleux en pleine lumière – radieux. Il semble un diamant aux mille couleurs fortement encastré dans le vieil or des blés qui ornent la vallée.“ Was er da sah und beschrieb, das malte de Staël in seinem Leben. Nicht Berge, aber Landschaften und Städte am Meer. So Agrigento in Sizilien – atemberaubend die Gemälde, die in der Hermitage hängen. Die Tochter Anne de Staël sagt im Interview im Ausstellungskatalog von ihrem Vater: „Son regard pouvait conduire les choses à leur idéal. Agrigente, c’est pareil. C’est l’abîme, c’est l’horizon, il n’y a presque rien, il y a une chute de lumière. C’est là la forme d’imagination visuelle de ce peintre.“

Also, nicht zögern: auf nach Lausanne! Und wenn wir schon dort sind, könnten wir noch das neue Musée cantonal des Beaux-Arts ein paar Schritte westlich des Bahnhofs besuchen. Im zweiten Raum im ersten Stock sind drei grossformatige Gemälde zu entdecken – Ikonen der Bergmalerei: „Le glacier de Rosenlaui“ (1841) von François Diday, „Taureau dans les Alpes“ (1884) von Eugène Burnand und „Lioba! Berger de l’Oberland bernois rappelant son troupeau“ (1886) von Auguste Baud-Bovy. Vor allem der Stier ist eine echte Wucht: Stehen wir direkt vor ihm, sind wir irgendwie froh, dass er gemalt ist.

Noch ein zweiter Hinweis auf Bergmalerei: Der Katalog „Peaks & Glaciers 2024“ von John Mitchel Fine Paintings ist da. Wie immer sind wunderbare Berggemälde zu sehen (und vielleicht zu kaufen). Mehrere Werke stammen von Charles-Henri Contencin (1898–1955) und Angelo Abrate (1900–1985): Ihre „The Wetterhorn in Winter“ bzw. „The Lac de Goillet and the Cervino“ würde ich sofort aufhängen. Einen de Staël selbstverständlich ebenfalls.

Apropos Nicolas: Sein letztes Gemälde, „Le Concert“, unglaubliche dreieinhalb auf sechs Meter gross, hängt im Musée Picasso in Antibes. Am 16. März 1955 schrieb er dem Kunsthändler Jacques Dubourg: „Je n’ai pas la force de parachever mes tableaux. Merci pour tout ce que vous avez fait pour moi. De tout cœur. Nicolas.“

Weilt man in Antibes, sollte man dieses Museum unbedingt besuchen. Das machte ich am 10. Februar 2017, nach der Wanderung von Cannes her, immer am Meer entlang. Den Aufstieg zum Caroupe-Hügel liess ich diesmal aus. Den Blick über die Baie des Anges hinweg auf die weissen Alpes Maritimes hatte ich noch gut vor Augen. Auch die eine Votiftafel drinnen in der Église Notre-Dame: Sie zeigt einen im März 1865 von einer Leiter stürzenden Mann.

Nicolas de Staël. Sous la direction de Charlotte Barat et Pierre Wat. Fondation de l’Hermitage, Lausanne 2024. Fr. 58.-
Die Ausstellung Nicolas de Staël in der Fondation de l’Hermitage in Lausanne ist noch bis 9. Juni 2024 zu sehen; alle weiteren Infoshier https://fondation-hermitage.ch/ . In der Buchhandlung liegen zahlreiche weitere Publikationen zu de Staël auf.

Musée cantonal des Beaux-Arts à Lausanne; www.mcba.ch

Peaks & Glaciers 2024, John Mitchel Fine Paintings; www.johnmitchell.net

Alle «Bücher der Woche» unter: www.bergliteratur.ch

Von ruhigen Männern und regen Frauen

Drei ganz unterschiedliche Romane, geschrieben von zwei Frauen und einem Mann. Zweimal sind Männer die Hauptfiguren, einmal Frauen. Zweimal sind die Walliser Alpen der Schauplatz, einmal Berner Oberland, Bayern und Berlin.

«Inzwischen hat sich Galel zu seinen Freunden auf die große Holzbank gesetzt, Paul hat Wein in das dritte Glas eingeschenkt, sie stoßen auf ihr Wiedersehen an. Paul und Jonas fällt auf, dass Galel eine kleine Baldrianblüte hinter dem Ohr hat. Sie lächeln darüber und wissen nicht warum. Sie trinken Wein, und man sieht ihnen beim Trinken zu. Man sieht ihnen zu, wie sie miteinander lachen, wie sie sich in einer Sprache unterhalten, die nur für sie zu existieren scheint, nur für sie in diesem Moment.»

Szene aus dem Roman „Galel“, der 2023 den Schweizer Literaturpreise erhielt und nun auf Deutsch vorliegt, unter dem passenden Titel „Berghütte“. Die Lausannerin Fanny Desarzens, geboren 1993, erzählt in ihrem Erstling von den Begegnungen der drei Männer Paul, Jonas und Galel, denen sich manchmal der Hirte Joseph anschliesst. Paul und Joseph arbeiteten einst als Bergführer, Jonas und Galel sind es noch immer. Einmal im Jahr treffen sie sich in der von Paul geführten Hütte, sprechen über ihre Touren, über ihr Leben vielleicht, über ihre Berge sicher. Es sind die Walliser Alpen, irgendwo im Unterwallis, Fanny Desarzens verrät nicht wo genau, den Mont Osanne, die Aiguille du Suleg oder die Cabane de l’Orsinal wird man auf der Landeskarte nicht finden. Um lokalisierbare Orte geht es in diesem Roman auch nicht, sondern ganz allgemein um das Unterwegssein in Bergen und das Ankommen, um Freundschaft und wie sie sich verändern kann, wenn ein Ereignis die gewohnte Bahn stört. Wie der Sturz von Galel, ausgerechnet von ihm. Fanny Desarzens erzählt in ruhigen, unaufgeregten Sätzen, Schritt für Schritt, wie auf einer Bergtour. Dass ihr dabei der grosse Waadtländer (Berg-)Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947) über die Schulter mit dem Rucksackriemen schaut, macht das Lesen und Schreiten nur angenehmer.

«Endlich entdeckte er am Waldende, zwei oder dreihundert Meter über sich, die Scheune von Prariond. – Gut, das ist von nun an deine Heimat… Als er klein war, hatte er in der Schule einen ähnlichen Satz auswendig lernen müssen. Er setzte sich, denn der Pfad ging nun steil und schnurgerade den Abhang hinauf, ehe er das Häuschen erreichte, das ihm da oben in der Lichtung gehörte. Er musste wieder Kraft schöpfen. – Das ist nun deine Heimat…»

Szene aus dem Roman „L’homme aux herbes“, der 1980 bei Denoël in Paris erschien und nun – endlich – auf Deutsch publiziert wurde, von einem kleinen Verlag in Berlin. „Der Kräuterarzt“ ist ein Alterswerk des einst viel gelesen und hoch geschätzten Walliser Autors Maurice Zermatten (1910–2001). Doch 1970 kippte die Bewunderung, weil Zermatten, damals Präsident des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, das arg reaktionäre „Zivilverteidigungsbuch“ ins Französische übersetzt hatte und sich davon nicht distanzieren wollte. In der Folge traten viele (Deutsch-)Schweizer Schriftsteller aus dem Verband aus und gründeten die Gruppe Olten. Nun ist der Verfemte zurück auf der literarischen Bühne, passend mit einem Roman aus den Walliser Alpen. Der alte Dorfdoktor Niclas, der seine Leute mehr oder weniger erfolgreich mit selbst gesammelten Kräutern und gemachten Tinkturen heilte, fürchtet die Konkurrenz eines modernen Arztes aus dem Tal und zieht sich zurück in seine Alphütte, begleitet von einem Hund und einer Ziege. Dort oben lebt und überlebt er im Sommer und Herbst, nur noch ab und zu Kräuter wie Edelraute und Baldrian suchend. Zermatten begleitet seinen Helden hautnah, die Erzählhaltung wechselt dauernd von draussen nach drinnen, von der Gegenwart zur Vergangenheit, von Naturbeobachtungen zu Selbstgesprächen. Erlebte Geschichten als Arzt, als Ehemann, als Vater tauchen immer wieder auf. Nur die Leute vom Dorf tun das nicht, lassen ihn verkümmern dort oben in den Bergen. Man muss sich Zeit lassen bei der Lektüre, sich einstellen auf diesen Lebensfluss, der auf Prariond bei der uralten Lärche zum Rinnsal wird. Sie wird die Winterstürme überleben, das Häuschen wohl auch. Aber der welkende Mann?

«Die Zelte waren schnell aufgestellt. Nachdem Hedis stand, machten sich Thomas, Anderl und Hias an ihr eigenes. Derweil legte Hedi ihre Ausrüstung sorgfältig auf dem Boden aus. Eishaken, Mauerhaken, Karabiner, zwei Eispickel, Kletterhammer, Steigeisen, Hanfseile, Benzinkocher, Verbandszeug, Arznei. Die Provianttasche stellte sie in die Ecke, ihren Rucksack mit Kleidung und Pflege daneben. Dann ging sie hinaus. Thomas und Hias saßen vor dem Eingang des Männerzeltes. „Wo ist Anderl?“, fragte sie.»

Szene aus dem Roman „Am Ende des Seils“ von Birgit Zimmermann. Sie lebt in der Eifel, ihr grösstes Interessengebiet sind, so heisst auf dem Klappentext, „starke Frauenfiguren, die gegen die Konventionen ihrer Zeit ankämpfen und dabei auch ihre Liebe finden.“ Genau das passiert der jungen Lehrerin Hedi Landauer aus Bayrischzell im Jahre 1936. Ihre Leidenschaft gilt dem (Frauen-)Bergsteigen – und Thomas Leitner. Und wenn beides nun unter und in der undurchstiegenen Eigernordwand klappte? Im Zelt finden Hedi und Thomas ihr Gipfelglück, aber bei der versuchten Durchsteigung stürzen Anderl und Thomas ab, Hedi rettet sich und Hias im eigertypischen Schneesturm zurück ins Leben. Es wird noch schlimmer, denn die Nazis überwachen immer stärker das Land, Leni verliert ihre Stelle, weil sie Hitlers Partei nicht beitreten will, und ihr Anliegen eines alpinen Frauenvereins gerät ebenfalls in politischen Steinschlag. Birgit Zimmermann hat einen spannenden, zuweilen auch etwas kitschigen (Berg-)Roman in einer spannungsgeladenen Zeit geschrieben. Nur schade, dass das, was „Am Ende des Seils“ in der Eigerwand passiert ist, ziemlich unwahrscheinlich ist. Mehr sei nicht verraten. Selber lesen, am besten auf der sonnigen Bank an der Holzwand einer Berghütte.

Fanny Desarzens: Berghütte. Atlantis Verlag, Zürich 2023. Fr. 28.-
Maurice Zermatten: Der Kräuterarzt. Edition Noack & Block, Berlin 2023. € 22,00.
Birgit Zimmermann: Am Ende des Seils. HarperCollins, Hamburg 2023. € 16,00.

Carl Egger

Wiederentdeckung eines alpinen Schriftstellers, der auf den Tag genau vor 4 mal 38 Jahren geboren wurde.

«Wenn ich dagegen z.B. an die Scheidegg denke mit ihrem ganzen Jahrmarkt, der Fernrohrbatterie, dem Glockenspiel, den farbigen Gläsern, dem lächerlichen Kinderkanönchen, den ausgestopften Gemsen und – so wird es noch kommen – ausgestopften Bergsteigern – –; wo der Hotelwirt es nicht unter seiner Würde hält, bei Ankunft eines neuen Zuges selbst mit einem Plakat „Eigerbesteigung“ oder „Gemsen zu sehen!“ auf der Tischplatte herumzutrommeln – –! Ich sah ihn, als ich einmal zur Guggihütte abmarschierte, an den Tischen herumrennen und den Gästen auf deutsch und englisch zuzurufen: Aufbruch eines Führerlosen nach der Jungfrau! Worauf wir, der Obexer und ich, aus Rache in der Nähe der Hütte unter einem Wasserfall hüllenlos badeten, damit die Zeissgucker unten auch auf ihre Rechnung kämen.»

Erfrischender Ausschnitt aus dem Kapitel „Montanvert“ in „Aiguilles. Ein Bergbüchlein von Carl Egger“, das vor 100 Jahren erschienen ist. Hier wird die Kleine Scheidegg dem ebenso berühmten und mit einer Zahnradbahn erschlossenen Aussichtspunkt Montanvers ob dem Mer de Glace gegenüber gestellt. Und mit den titelgebenden Aiguilles sind natürlich die Granitnadeln von Chamonix gemeint, inklusive ein paar zackige Gipfel in der Nähe. Wie die Dent du Géant (4013 m), an der Egger eine weitere hübsche Fernrohrgeschichte platzierte. Eine berühmte Bergsteigerin, leider wird kein Namen verraten, liess sich von einem jungen Bergsteiger den Hof machen; ob damit der Autor gemeint ist, wird ebenfalls offengelassen. Sie unternahmen zusammen Touren, zuletzt noch auf die Dent du Géant. Aber da schaute der Verlobte dem Kletterpaar zu, und zwar vom nahen Rifugio Torino, wohin ihn vier Führer geschleppt hatten:

«Nun begab sich etwas wie schöner nicht im Kino! Der dicke Mann am Fernrohr wurde rot vor Aufregung und der Schweiss perlte ihm an der Stirn. Was enthüllte das verräterische Rund? Er sah, wie sich – Teufel! – ein Arm immer fester um eine Taille legte, wie sich zwei Köpfe immer näher gegeneinander neigten, wie sich sogar ein Lippenpaar zum Kusse spitz – – in diesem Moment wurde alles grau! Ein Nebelchen stieg und wallte, gütig das Unvermeidliche verdeckend, oben um die granitene Spitze des Géant, und ein Fleischkoloss unten knirschte aus Wut vor der leeren Bildfläche – –.»

Nicht alle der neunzehn Geschichten sind so amüsant und elegant zu lesen. Da legt sich dann schon immer wieder echt deutsches alpines Pathos auf den Text. Trotzdem: Die „Aiguilles“ lohnen durchaus eine Wiederlektüre, und die hinten beigelegten sechzig schwarzweissen Fotos korrespondieren oft mit den beschriebenen Klettereien an den berühmten Spitzen; es sei nur der Mummery-Riss am Grépon erwähnt. Mein Exemplar stammt aus der Bibliothek meines Grossvaters Hermann Anker und hat die Nummer 451. Ein Wort noch zu Franz Obexer, Mitglied des Akademischen Alpen-Clubs Zürich wie Egger selbst: Er stürzte am 12. August 1912 bei einer Erstbegehung kurz unterhalb des Gipfels des Pflerscher Tribulaun in den Stubaier Alpen wegen Seilriss zu Tode.

Dem am 20. Februar 1952 verstorbenen Carl Egger gelangen 36 Erstbegehungen in den Schweizer Alpen. 1914 war er zusammen mit Guido Miescher im Kaukasus; neben neun Erstbesteigungen machten sie am 29. Juli die erste Skibesteigung des Elbrus (5642 m). „Miescher schlief auf dem aperen Boden der Westseite lang ausgestreckt den Schlaf des Siegers. Ich aber machte ein paar Aufnahmen, pflanzte auf den höchsten Punkt in Ermangelung eines besseren mein Appenzeller Halstuch mit dem Alpaufzug am Skistock auf, um doch wenigstens etwas Schweizerisches an der Stange zu haben, und saβ vergnügt wie ein Schneekönig in Hemdsärmeln an der warmen Sonne.“ Eggers Bericht über die Sommerskitour erschien im Jahrbuch des Schweizerischen Ski-Verbandes von 1914 und im Jahr darauf in seinem ersten Buch mit dem Titel „Im Kaukasus. Bergbesteigungen und Reiseerlebnisse im Sommer 1914.“

Weitere Bücher des gelernten Kaufmanns, Kunstmalers und Ehrenmitgliedes des Schweizer Alpen-Clubs (1934) folgten. Neben kunsthistorischen Abhandlungen und einem Gedichtband sind dies wichtige Werke zur Geschichte des Alpinismus: „25 Jahre Ski-Club Basel, 1904-1929“, „Die Eroberung des Kaukasus“ (1932), „Michel-Gabriel Paccard und der Montblanc“ (1943) sowie – bei mir immer griffbereit – „Pioniere der Alpen. 30 Lebensbilder der grossen Schweizer Bergführer von Melchior Anderegg bis Franz Lochmatter“ (1946). Eine besondere Ehre erfuhr Carl Egger 1930, als er mit seinen Schriften in die Reihe „Grosse Bergsteiger“ des Bergverlages Rudolf Rother aufgenommen wurde. Acht Bände erschienen, darunter von so herausragenden Alpinisten und Autoren wie Mummery, Purtscheller, Weilenmann und Zsigmondy. Eggers Buch, darin „Im Kaukasus“ und erweitert „Aiguilles“ Platz fanden, heisst „Höhenluft. Erlebtes und Erfühltes.“ Die Einleitung beginnt so:

«Höhenluft, frische, belebende – sie hat zwiefach in mein Leben hineingeweht: einmal hat sie mich körperlich geheilt und gekräftigt und mir dann, in einem Lebensabschnitt voll tiefer Entmutigung, das seelische Gleichgewicht wieder verschafft. Deshalb, zum Dank, stehe hier das Wort voran!

Soweit es nun auf mich ankäme, wären damit eigentlich meine biographischen Mitteilungen erledigt. Denn die Berge machen nicht geschwätzig, sondern herb und verschlossen. Was braucht es noch mehr der Alltäglichkeiten wie: geboren am 29. Februar 1872 in Basel?»

Aiguilles. Ein Bergbüchlein von Carl Egger. Orell Füssli, Zürich 1924.

Carl Egger: Höhenluft. Erlebtes und Erfühltes. Bergverlag Rudolf Rother, Reihe „Große Bergsteiger“, München 1930.

Beide Werke sind auf zvab.com erhältlich. Und in der Nationalbibliothek Bern und der Zentralbibliothek Zürich ausleihbar. Die andern Bücher von Carl Egger ebenfalls.

Nées pour skier

In einem eleganten Bildband porträtiert Lucy Paltz 27 Skifahrerinnen aus der halben Welt, viele Französinnen, aber auch eine Schweizerin.

«Quand je m’élance et que je glisse sur la neige, tout s’évanouit: les doutes, le stress, les contrariétés. Il ne reste que l’instant présent, l’envie d’aller vite, la maîtrise de mes trajectoires, l’adrénaline et l’ultra-concentration.»

Sagt die beste aktive Skirennfahrerin der Schweiz. Sie ist im Moment auch diejenige, die das Zwischenklassement im alpinen Skiweltcup anführt, vor der verletzten Mikaela Shiffrin. Die US-Amerikanerin ihrerseits sagt: „Je préfère la notion d’établir des records sportifs plutôt que les battre.“ Leicht gesagt, aber schwierig zu machen. Nun, Mikaela wird die 100 Weltcup-Siege noch einfahren, wenn nicht in diesem Winter, dann im nächsten. Eine Landsfrau von ihr hat im Weltcup zwischen 2004 und 2018 82 mal gewonnen.

Die Schweizerin heisst Lara Gut-Behrami, die zurückgetretene Rennfahrerin Lindsey Vonn. Das Trio gehört zu den 27 Skifahrerinnen aus der halben Welt, die Lucy Paltz im Bildband „Nées pour skier“ porträtiert. Mit Texten, in denen die Skifahrerinnen direkt von ihrem Leben und ihrer Passion sprechen. Mit tollen, oft ganzseitigen Fotos, die die Sportlerinnen bei und neben ihrer Lieblingstätigkeit zeigen. So Federica Brignone, „la reine de la polyvalence“, in voller Montur ausser Helm und Brille, wie sie in der Hocke in ein Schwimmbecken getaucht ist.

Wer ist sonst noch dabei in dieser Buch gewordenen Ode an Wettkämpferinnen und Extremskifahrerinnen, an Pulverschneejägerinnen und Biathletinnen, an Skitourenläuferinnen und Freestylerinnen, an Pionierinnen in Sachen weiblicher Bergsport mit den Gründungen von Sister Summit und Girls on the Top? Die Namen Tessa Worley und Tina Maze dürften noch bekannt sein, vielleicht kennt man auch die ehemalige Kletterweltmeisterin Liv Sanzoz, die heute als Bergführerin arbeitet. Andere Namen waren auch dem Skichronisten und Skibuchsammler neu. Natürlich, was auffällt: Ein solches Buch aus einem französischen Verlag, gesponsert von Rossignol, porträtiert viele Französinnen. Aber dass Lara Gut eine andere Marke fährt, ist gut lesbar.

Was fast in jedem Text vorkommt, ist das, was der Titel dieser eleganten Publikation zum Skilauf und Frauensport sagt: „Nées pour skier“ – zum Skifahren geboren. So Marie Bochet, Gewinnerin von 102 Weltcup-Rennen und acht Goldmedaillen an den Paraolympischen Spielen: „Je suis née par un frais matin d’hiver, un 9 février, comme prédestinée à la neige et au ski.“ Dass ihr links Hand und Unterarm fehlen, hat sie überhaupt nicht vom leidenschaftlichen Skifahren zurückgehalten.

Zum Schluss noch eine traurige Nachricht zu einer Skiläuferin, die ihr Leben ebenfalls diesem Sport geweiht hat; sie ist im Buch nicht porträtiert. Die 1970 geborene US-Amerikanerin Catherine „Kasha“ Rigby galt als eine der besten Telemarkfahrerinnen; so fuhr sie als erste Person mit den Telemarkski vom Cho Oyu (8188 m) ab. Am 13. Februar 2024 löste sie im Skigebiet Brezovica im Kosovo ein Schneebrett aus, das sie mitriss und gegen einen Baum drückte. Dabei zog sie sich schwere innere Verletzungen zu. Obwohl Magnus Wolfe Murray sofort bei ihr war und Wiederbelebungmassnahmen ergriff, konnte er seine Kasha nicht mehr retten. Die beiden waren verlobt, im September dieses Jahres wollten sie heiraten. Geboren zum Skifahren kann leider auch verdammt tragisch enden.

Lucy Paltz: Nées pour skier. Éditions Glénat, Grenoble 2023. € 36,00.

Gipfelsturm und Talliebe

Zwei neue Serien um Rettung und Liebe am Berg und im Tal. Nur lesen ist schöner als fernsehen. Am Valentinstag erst recht.

«Es knackte in ihrem Funkgerät. „Gottverdammt, was tust du?“, schrie Jonas in ihr Ohr. „Bist du okay?“

Sie gab keine Antwort, sondern hob nur den Daumen, wissend, dass er ihren Aufstieg mit dem Fernglas verfolgte. Der Schock hatte ihre Nervosität vertrieben. Sie lauschte auf ihren Herzschlag und atmete wieder ein paar Mal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Dann erst stieg sie weiter, Armlänge und Armlänge, bis sie endlich die Höhe des Vorsprunges erreicht hatte.»

Kurzes Aufschnaufen auch unsererseits. Das war knapp für Lena Veith, Hauptfigur in der Romanserie „Die Bergwacht“ von Sophie Zach. Und der lebensgefährliche Rettungseinsatz am berühmten Jubiläumsgrat an der Zugspitze, dem höchsten Gipfel Deutschlands, ist noch keineswegs vorbei. Denn hinter dem Vorsprung liegt Franz. Ob es der jungen Bergführerin und dem ganzen Team der Bergwacht gelingen wird, den Schwerverletzten heil ins Tal zu bringen?

Aber um Gottes Willen, heute ist doch Valentinstag! Da möchte man andere Passagen lesen, schon auch solche mit Knistern, aber nicht im Funkgerät. Bitte: «Während Ramsauer die Sitzung eröffnete und zunächst ein paar unwichtigere Dinge besprochen wurden, war sich Lena Bens Nähe so deutlich bewusst, dass sie fast versucht war, mit ihrem Stuhl etwas nach hinten wegzurutschen. Es erschien ihr geradezu ungehörig, so nah beieinanderzusitzen. Sie konnte die Wärme spüren, die Bens Körper ausstrahlte, nahm seinen Geruch nach frischer Luft, Holzrauch und irgendetwas Herbem wahr und wagte es nicht, den Kopf zu drehen und ihn anzuschauen. Ihr war heiß.»

Uns auch! Ausgerechnet der unsympathische Ben, den Lena seit der Schulzeit kennt. Und was ist eigentlich mit Jonas, dem Kollegen im Team der Bergwacht im fiktiven Ort Bichlbrunn bei Garmisch-Partenkirchen? Selber lesen und mitfiebern in den beiden erschienenen Bänden „Alpenglühen“ (daraus das erste Zitat) und „Gipfelsturm“ (daraus das zweite). Und sich freuen auf den dritten Band, der allerdings erst in einem Jahr erscheinen wird.

Action am Berg und in der Stube, unterbrochen von idyllischen und herzzerreissenden Szenen. Die Berge, die so unberechenbar wie das Leben sind. Man kennt das von erfolgreichen alpinen TV-Serien. Im ZDF treten die „Die Bergretter“ auf, deren ersten Folgen ab November 2009 unter dem Namen „Die Bergwacht“ ausgestrahlt wurden; 2012 erfolgte die Umbenennung in „Die Bergretter“. Im ORF hilft „Der Bergdoktor“ seit 2008 am Berg wie im Tal; die Arztserie ist eine Neuauflage der gleichnamigen deutsch-österreichischen Fernsehserie „Der Bergdoktor“ (1992–1997). Beide basieren auf Motivvorlagen der erfolgreichen Heftromanserie gleichen Namens. Lesen und fernsehen verstehen sich gut.

Dieser Meinung war offenbar nicht nur der Rowohlt Verlag mit „Die Bergwacht“. Denn ebenfalls im letzten Jahr startete der Ullstein Verlag die Serie „Der Bergretter“ von Vero Adler. Auch sie spielt in Garmisch-Partenkirchen und am Jubiläumsgrat, auch da gibt es alpine Rettungseinsätze sowie Konflikte und Konsolation weiter unten. Hauptfiguren sind Leonhard Gerstorff, Arzt in der Kinder-Rheumaklinik, und Frederika Altenberger, Mitglied der Bergwacht. Finden sich die beiden endlich, oder kommen immer Einsätze sowie Leonhards Exfrau dazwischen? Genau so ist es. Ein dritter Band ist noch nicht angekündigt. Doch so offen soll der Lektüre-Hinweis am Valentinstag nicht enden. Deshalb hier ein Zitat von Seite 250 in Band 2: „Oft lief Leonhard abends mit Frederika durch die erleuchteten Straßen, meist schneite es, und das machte alles noch viel schöner.“ Schön wär’s, diese Bemerkung sei erlaubt, wenn es auch ausserhalb von Romanen wieder mal schneite.

Sophie Zach: Die Bergwacht. Band 1: Alpenglühen; Band 2: Gipfelstürme. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2023. Der dritte Band, Schneetreiben, erscheint im Januar 2025. Je € 12,00.

Vero Adler: Der Bergretter. Band 1: Zwischen den Gipfeln das Glück; Band 2: Zwischen den Gipfeln die Liebe. Ullstein Verlag, Berlin 2023. Je € 12,00.