Das neue Jahr mit dem neuen Alpenvereinsjahrbuch beginnen – gewiss doch! Im Fokus: Ortler, Freiheit und zwei mutige Alpinistinnen/Ballonfahrerinnen.
«An der „Roten Schule“ läuft knapp unter Höhe des ersten Stockwerkes ein schmaler Sims um das ganze Gebäude mit all seinen Eck- und Schmuckpfeilern. Uns auf diesem Sims entlangzutasten, Rücken an der Wand, war uns höchste Wonne! Das Schönste dabei – nervenkitzelnd, so daß das Herz ein wenig klopfte! –: das sich Halbumdrehen und Hinumgreifen und -treten um den Pfeiler wie am Floitentritt der Zsigmondyspitze! Nur hieß es leider: gleich nach Bezwingung des Eckpfeilers wieder kehrtmachen; denn die Straße kam in Sicht! Dann, ehe die Treppe gebaut ward, Schi-Abfahrt auf Schuhsohlen über sehr steile, blanke Eisbahn von dem Renaissancebau des Tuchmachertores hinab bis zur Eingangstür der Stadtkirche! So kurz die Bahn war: in einem Schuß ging es hinab – wir beide mit Jungen um die Wette!»
Hoffentlich habt Ihr, liebe Bergfreundinnen und Bärgfründe, den Rutsch ins Neue Jahr so gut überstanden wie Margarete (1876–1951) und Elsbeth Grosse (1879–1947) jeweils ihre gefährlichen Schi-Abfahrten auf Schuhsohlen in Meißen. Und vielleicht habt Ihr die verschiedenen Festessen des Jahresendes bzw. -beginns gar auf Meissener Porzellan genossen. Gefunden habe ich das jugendlich-übermütige Zitat im Buch „Frauen auf Ballon- und Bergfahrten. Ein Lebensbuch. Dem Andenken meiner einzigen Schwester und Lebensgefährtin Elsbeth Grosse gewidmet von Margarete Grosse“; es erschien 1951 im Verlag der Österreichischen Bergsteiger-Zeitung in Wien, offenbar in einer sehr kleinen Auflage. In schweizerischen Bibliotheken ist das Werk nicht vorhanden, obwohl beschriebene Touren von der Rigi über die Grosse Windgälle und die Jungfrau bis aufs Matterhorn führen.
Margarete und Elsbeth Grosse waren Pionierinnen im Berg- und Ballonsport. Von 1899 bis 1944 unternahmen die Schwestern aus Meißen – immer selbständig organisiert – über 40 Alpen-, Gebirgs- und Italienfahrten. Darüber berichteten sie in alpinen Zeitschriften und in öffentlichen Vorträgen, ein ziemliches Novum in jenen Tagen. Und gleichzeitig wurde über die beiden sächsischen Frauen berichtet, insbesondere über ihre Ballonfahrten. Die Ungarn-Fahrt im März 1910 mit gut 22 Stunden Dauer, 871 Kilometern Entfernung und einer erreichten Höhe von 6000 Metern galt als Weltbestleitung. Mehr zu den Grosse-Frauen im Beitrag von Joachim Schindler im Alpenvereinsjahrbuch BERG 2022. Haupthemen im frischen Jahrgang: Ortler und Freiheit.
Nirgendwo in den Arbeitsgebieten der Alpenvereine von Deutschland, Österreich und Südtirol geht es höher hinauf als auf den Ortler (3905 m); der gewaltige Gletscherberg liegt nur gerade 7,5 Kilometer südöstlich der italienisch-schweizerischen Cima Caribaldi oberhalb des Stilfserjochs. Also sozusagen am Rande der Schweiz. Der zweithöchste Gipfel des Ortler-Massiv ist die Königsspitze (3851 m), auch Gran Zebrù genannt. Die erste Skibesteigung machten am 8. Januar 1911 Guido Miescher, Rudolf Staub und Karl Steiner, alle Mitglieder des Akademischen Alpenclubs Zürich; zuoberst zog Steiner in der warmen Wintersonne das Hemd aus – und hisste die Schweizer Fahne. Apropos Skilauf: Matthias Heise und Christoph Schuck widmen sich im neuen BERG dem „Après-Ski ohne Party. Stillgelegte Skigebiete in den Alpen“.
Der Schwerpunkt des neuen Alpenvereinsjahrbuches befasst sich mit der Freiheit, dem immer wieder angestrebten und vielleicht auch erfüllten Versprechen des Bergsteigens. Verschiedene Autorinnen und Autoren geben auf die Frage, warum wir uns in den Berg frei fühlen (können bzw. konnten), ganz verschiedene und immer lesenswerte Antworten – zum Nachdenken und -ahmen, zum Schmunzeln und Mutschöpfen. Insgesamt ist BERG 2022 ein starker Jahrgang. Da knotet sich der Satz, mit dem Margarete Grosse das Buch „Frauen auf Ballon- und Bergfahrten“ ausklingen lässt, bestens ein: „Als Höhenfeuer lodre der edle Dreiklang: Friede – Freiheit – Freundschaft.“
Margarete Grosse: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten. Ein Lebensbuch. Dem Andenken meiner einzigen Schwester und Lebensgefährtin Elsbeth Grosse gewidmet. Verlag der Österreichischen Bergsteiger-Zeitung, Wien 1951.
BERG 2022. Alpenvereinsjahrbuch Band 146, herausgegeben vom Deutscher Alpenverein (DAV), Österreichischer Alpenverein (OeAV) und Alpenverein Südtirol (AVS). Redaktion Axel Klemmer. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2021, € 20.90.