Seit 2003 gibt es den Uno-Welttag der Berge. Motto in diesem Jahr: Berge lesen. Das machen wir ja wöchentlich. Heute aber erst recht.
„Weshalb wir eigentlich heraufgeklettert waren, weiss ich nicht.“
Ein Geständnis? Eine Koketterie? Ein sprachlicher Misstritt? Jedenfalls ein Satz so auffällig wie ein erratischer Block auf grüner Matte, erst recht in einem Bergbuch aus dem Goldenen Zeitalter des Alpinismus, das die Schönheit der Berge und des Bergsteigens beschreibt und besingt. Zugegeben: Der Autor relativiert sein Nichtwissen gleich in den folgenden Sätzen: „Freunden von Kletterpartieen ist sie zu empfehlen, andre mögen sie besser bei Seite liegen lassen. Ohnehin wird sich nur ein schwindelfreier Kopf sich auf ihr wohlfühlen.“ Auf ihr? Ja, auf der obersten, schmalen Spitze des Hangendgletscherhorns (3292 m) in den östlichen Berner Alpen, auf die am 15. August 1863 diese Personen hinaufgeklettert waren: Christoph Aeby, Professor für Anatomie und Anthropologie in Bern, Rudolf Gerwer, Pfarrer in Grindelwald, die Bergführer Peter Michel und Peter Inaebnit aus Grindelwald sowie ein leider nicht namentlich genannter Hirte von der Urnenalp, also von dort, wo seit 1895 die Gaulihütte SAC steht. Dieser führte das Quartett auf seinen Hausberg. Die vier Alpinisten umrundeten vom 12. bis 16. August erstmals die ganze Wetterhorn-Gruppe, mit Start und Ziel in Grindelwald. Aeby verfassten den Bericht für das Buch „Das Hochgebirge von Grindelwald. Naturbilder aus der Schweizerischen Alpenwelt“. Es liest sich so frisch, als wäre es gestern erschienen und nicht 1865 im Verlag von Karl Baedeker in Koblenz.
Erst recht heute, am Internationalen Tag der Berge, mit dem Motto „Berge lesen“. Das machen wir doch gleich mit Christoph Aeby, und zwar beim Aufstieg über den Oberen Grindelwaldgletscher zum Lauteraarsattel: „Mit unendlichem Behagen schritten wir über diesen prachtvollen Teppich, der vom Fusse der Wetterhörner und des Berglistockes bis hoch an die dunkeln Flanken der Schreckhörner sich ausbreitete. Da haftete kein Flecken, kein hässlicher Moränenschutt, und mit funkelndem Glanze wurde das Sonnenlicht wie von unzähligen Brillanten zurückgeworfen. Ringsum aber starrten die hohen Zinnen und Spitzen in wechselnden kühnen Formen und gaben ein Bild voll Pracht und Majestät, wie der sie nicht zu ahnen vermag, der unsre Gebirgswelt nur auf bequemen Touristenwegen zu begehen pflegt. Was ist Anstrengung und selbst Gefahr gegen solchen Genuss!“
Klasse, nicht wahr? Vor allem der letzte Satz: Da fragt sich der Autor nicht, warum er Berge besteigt. Anstrengung, Gefahr und Genuss bilden sozusagen eine Seilschaft. An die wir uns einbinden können, als Touristen und Leser. Berge lesen, eben. Davon schreibt Alena Stauffacher in ihrer 2016 eingereichten Masterarbeit an der Uni Bern: „Literarische Berggänger. Bergwanderer und Bergsteiger in Schweizer Erzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts“. Folgende Werke hat sie ausgewählt und untersucht: „Antwort aus der Stille“ von Max Frisch, „Die Furggel“ und „Drei Männer im Schnee“ von Meinrad Inglin, „LOS“ von Klaus Merz, „Niedergang“ von Roman Graf und – natürlich – „Bergfahrt“ von Ludwig Hohl. Dazu wurden weitere Werke beigezogen, wie „Es gibt kein Nachher“ von Alfred Graber, „Die Wand der Sila“ von Emil Zopfi oder „Ein grosses, weisses Auge“ von Franz Hohler. Anregende Bergliteratur, sowohl sekundär wie primär. In beiden finden wir Antworten, warum sie bzw. wir hinaufklettern.
Christoph Aeby, Edmund von Fellenberg, Rudolf Gerwer: Das Hochgebirge von Grindelwald. Naturbilder aus der Schweizerischen Alpenwelt. Verlag von Karl Baedeker, Koblenz 1865.
Alena Stauffacher: Literarische Berggänger. Bergwanderer und Bergsteiger in Schweizer Erzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Masterarbeit am Institut für Germanistik der Uni Bern, 2016.