Berge und Steine 1: Blatt Tödi – ein Privileg

Lange habe ich nichts mehr von mir hören lassen. Meine Geologenarbeit und mein Buchprojekt haben mich sehr eingenommen. Mittlerweile ist das Buch erschienen und ich kartiere im Tödi-Gebiet. Warum also nicht wieder schreiben. So möchte ich hiermit eine kleine Serie beginnen, die von Bergen und Steinen erzählt.

Zuerst ein Rückblick.

Ende 2018 war für mich eine persönlich spannende Zeit. Alpinist im Geist, Draussen-Mensch im Herzen und Geologe im Handwerk, hatte ich schon einige Jahre geologisch im Gebirge kartiert und die Landeskartenblätter Buchs, Sargans und Spitzmeilen, zusammen mit einer Handvoll wesensverwandter, für den Geologischen Atlas der Schweiz durchstreift. Mitte 2018 war, vielleicht ein letztes Mal, ein Kartenblatt ausgeschrieben und könnte meine Aufgabe für weitere fünf Jahre werden. Dabei ist das in Aussicht stehende Kartenblatt Tödi, ein raues Hochgebiet schwindender Gletscher, die blanken Felsen entblössen, dem Alpinisten-Geologen wie vorbestimmt. Anfang 2019 war dann der Zuschlag da. Mit Andi und Adrian würden wir in fünf Sommern die Blätter Tödi und Flims bearbeiten. Ein wenig machte sich damals auch Sorge breit. Sind die Beine, die Knie, ist der alternde Körper dem Kopfeswunsch gewachsen? Bin ich noch Geist und Willen, bin ich noch Alpinist genug, den Bogen rund zu schliessen?

Zwei Sommer sind seitdem verstrichen. Körper und Geist arbeiten zusammen in ausgewogenem Gleichgewicht. Jetzt, Mitte November, ist es im Hinter Sand still, schattig und kalt. Die KLL hat ihre Unterhaltsarbeiten an der Fahrstrasse beendet und in der Sandrisi die Brücken abgebaut. Man kann nicht mehr fahren und selbst die Älpler, die immer noch irgendetwas zu tun haben, sind, wenn überhaupt, dann nur noch mit leichtem und leisem Gerät unterwegs. Rings um den Talschluss steige ich, oberhalb von Schutzwald und Blockhalden, den Wandfuss entlang. Sandalp Quarzporphyr nenne ich im Kopf das Gestein, dessen Wesen unter modernen Gesichtspunkten, ich auf der Spur bin. Es ist der neueste der alten Begriffe, die frühere Geologen dafür brauchten. permische Bildungen ist ein anderer. Widmer, der von Quarzporphyr und Aufarbeitungsgesteine davon spricht, deutet es an: es könnte sich auch um mehr als einen Gesteinstyp handeln. Auch ich habe diesen Eindruck und schlage immer wieder kleine Stücke vom harten Felsen ab, halte sie unter die Lupe, zweifle, steige weiter. Auf und ab. Es ist mühsam. Das Steigen im Gelände ist stets unrhythmisch. Einmal hält ein Schritt, dann gibt Geröll wieder nach oder ein nasser Ast rutscht. Wegen einer Murgang-Rinne muss ich weit ab- und wieder aufsteigen. Oder ein Erlengestrüpp durchqueren. Ich bin in meinem Element.

Auch die Mittagspause bleibt heute schattig und kalt. Weiter oben, dort wo die Sonne hinkommt, wird ihre mögliche Wärme vom Neuschnee reflektiert. Nur kalte Luft ist weit und breit und zum Glück weht kein Wind. Dort oben in der blendenden Helle stieg ich im August über brüchige Felsbänder in Hochkare, unter Serac-Zonen am Gletscherrand in ein neues, frisch freigetautes und noch unberührtes Land, oder über Grate bis zu Gipfeln, von denen man weit über den Blattrand hinaus in die Ferne sieht. Und abends sass ich auf der Hütte, vor mir die bunt bemalten Kartierblätter. Müde repetierte ich in Gedanken oft die Geologie des Tages. Und die Berggänger, die beim Nachtessen den Tisch mit mir teilten, wie oft fragten sie mich nach meiner Tätigkeit, waren erstaunt und erfreut darüber, dass man im Hochgebirge arbeiten kann.

«Kennt man die Geologie hier nicht schon?»

Doch. Aber sie ist nicht vereinheitlicht. Die über hundertjährige Geologische Karte der Glarner Alpen von Jakob Oberholzer zum Beispiel, ist meine Grundlage – oft faltete ich dann das unhandlich grosse Papier auf – und es gibt eine Handvoll Dissertationen mit speziellem Fokus für einige Teilgebiete. Aber hier zum Beispiel, bei der Fridolinshütte, steht auf der Karte von Oberholzer Paragneise und -Schiefer, bei Widmer Grünhorn-Serie und bei Franks Bifertenfirn-Formation. Was davon ist nun sinnvoll? Der Stand des Wissens muss vor Ort geprüft, vereinheitlicht und über das ganze Gebiet auskartiert werden.

«Und du steigst wirklich überall hin?»

Ich durchstreife das Gelände und schaue in jede Geländekammer mindestens hinein. Kein Fels soll mir unbekannt bleiben. Bei den ganz steilen Wänden muss natürlich der Feldstecher reichen um das, was ich an beiden Rändern, unten am Wandfuss und oben auf dem Grat, bestimme, durch die Vertikalen Bereiche miteinander zu verbinden.

An den Sommerabenden am Hüttentisch war ich in Wahrheit oft sehr müde. Jetzt aber, wo es einsam ist, würde ich gerne etwas plaudern und erzähle es mir in Gedanken beim Weitergehen.

Du kommst zwar kaum noch zum Bergsteigen, sage ich mir, ich meine, zum ganz selbstbestimmten Zweck, einer bestimmten Route oder eines bestimmten Gipfels wegen, aber sich beschweren wäre auch Jammern auf hohem Niveau. Denn in Wahrheit tauchst du tief ein in die Wildnis des Gebirges. Machst nicht nur eine Route, zielst nicht nur auf den Gipfel, sondern steigst in jede Rockfalte und versuchst mit dem Stein, den du überall bestimmst, das Substrat aus dem die Berge sind zu verstehen. Das ist ein wahnsinniges Privileg!

Ich müsste es aufschreiben, denke ich als ich nach der durchfrorenen Mittagspause weitersteige, der nächsten Felswand zu. Dann kann ich trotz der Stille mitteilen. Oder, wenn ich zu müde bin, auf einen Text verweisen. So beschloss ich vor ein paar Tagen, während ich am frühen Novemberabend das Tal des Sandbachs hinauswanderte, hier, auf bergliteratur.ch, wieder zu schreiben. Eine kleine Serie soll es werden, in der es, aus Dank der Arbeit gegenüber, die mir das tiefe Eintauchen möglich macht, ein wenig auch um das Steinfach gehen wird.

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