Das Selbsanft-Massiv ist ein Hochplateau, kaum von Erosion zerschnitten. Eine Handvoll Wege führen hinauf, keiner davon ist leicht zu begehen. Auf jedem aber erschliesst sich der Geologische Aufbau und jeder ist ein alpinistisches Abenteuer.
Bei Dunkelheit starten wir im Tierfed. Im Dämmerlicht rauscht der Sandbach unter der Pantenbrugg. Zu dritt wollen wir aus den Schluchten auf die dreitausend Meter hohe Fläche des Selbsanft, dem Tisch aus Stein an dem sich Tödi und Hausstock gegenübersitzen. Ich kartiere, Aikko und Tobi begleiten mich, falls es Seilsicherung braucht. Für den späten Nachmittag sind Gewitter angesagt. Bis dann würden wir durch sein. Durch Schluchten, stundenlang über Felsbänder und quer über den Tisch. Noch sieht man die Sterne, die im hellblauen Morgenhimmel verblassen.
Ein Pfad führt in den Wald, der zwischen Blöcken noch erstaunlich eben ist. Erstaunlich dafür, wie bald danach das Gelände wie steil zu wie hohen Wänden ansteigt. Schon nach wenigen Kehren werden wir um ein Eck in die Schlucht des Limmerentobels gedrängt und steigen zwischen rundgewaschenen Felsen hinein in den Berg, der links und rechts derselbe ist, lediglich von einem tiefen Spalt zerrissen. Bei der Wasserfassung führt westseitig ein Band hinauf, hinaus auf einen steilen Wiesenplatz mit ein paar Birken. Über Grashalden und Stufen, stets hart geneigt, erreichen wir später, noch im Schatten des sonnigen Vormittags, den Wiesenvorsprung Luegboden, eben wie die Aussparung für eine nicht aufgestellte Säulenfigur. Durchatmend stellen wir uns hinein. Schon tausend Höhenmeter sind wir gestiegen und noch immer unten, am Eck zwischen den Schluchten.
Dreihundert Meter weiter oben queren wir unter einer hohen, gelbgrauen Felswand nach rechts. Sie sieht aus, als wäre sie für Extremkletterer ein Traum, nur von Mauerläufern bewohnt, nur von Alpendohlen umtanzt. Wo sie in einer Ausbuchtung stärker gegliedert ist, können auch wir in die Steinwelt einsteigen und, hundertfünfzig Meter höher, den Grat wieder erreichen. Über mauerhohe Stufen kletternd, zum Kartieren immer wieder seitlich querend, folgen wir dem Grat und kommen nun langsam aus den Schluchten heraus.
Unterhalb des Goldenen Horns quere ich etwas länger nach rechts, um für die Karte zu zeichnen, während die beiden in den Felsen etwas essen. Es ist schon Mittag und Wolken ziehen beängstigend rasch am Himmel auf. Erste Tropfen brechen Pause und Zeichnen ab. Wir wollen die Schlüsselstelle noch im Trockenen überwinden. Rasch steige ich ein und bin fast schon zu hoch, als mir Aikko noch das Seilende mitgibt. Von oben sichere ich nach, dann muss das Seil wieder weg, damit wir schneller sind. Als wir über eine plattige Rampe klettern, grenzwertig ohne Seil, setzt der Regen endgültig ein. Die Hände, die nur stützen, werden kalt. Wo Tropfen aufschlagen, färbt sich der Fels dunkel. Die Füsse suchen die hellen Flächen, die zwischen den dunklen immer kleiner werden, bis wir unsere Tritte dem nassen Fels anvertrauen müssen, der dann doch auch ein wenig hält. Als wir oberhalb über schuttbedeckte Platten nach links queren können, und es am Hausstock blitzt, am Tödi donnert, entdecken wir östlich unter der Scharte hinter dem Hauserhorn eine Höhle. Sie ist ausgekleidet mit fingerlangen, faustdicken Kristallen. Alle drei passen wir gut hinein.
Wieder durchatmen. Viel rascher war das schlechte Wetter gekommen. Den Tischrand haben wir zwar fast erreicht, weit ist es aber noch in die schützende Trockenheit.
Nah dagegen wäre der Gipfel des Hauserhorns, eine exponierte Spitze. Können wir sie uns erlauben? Wir lavieren herum.
«Eigentlich bin ich schon ein Gipfelsammler», sagt Tobi und trifft damit die Entscheidung, denn eigentlich sind wir anderen es auch.
Zwischen Tödi und Hausstock, über uns, ist der Himmel fast schon wieder blau, als wir dem Gipfel zusteigen. Hinter Felstürmen erreichen wir eine Scharte und bald den höchsten Punkt.
«Hört ihr das auch?» fragt Tobi. Wir lauschen in die Stille, die zwischen Hausstock und Tödi herrscht. Wir hören nichts. Aikko ist etwas unterhalb, um ein Foto zu machen, als es am eisernen Gipfelkreuz knackt wie wenn ein Grashalm zu nah am Weidezaun steht oder wie, wenn ich den Faserpelz vom Merino-Shirt ziehe. Tobi zeigt mir die Tropfen am Querbalken. Sie hängen nicht, sie stehen seitlich nach oben. «Komm» rufen wir Aikko zu, «wir steigen ab». «Eines noch», erwidert er, da sind wir schon an ihm vorbei.
Doch es bleibt ruhig zwischen Hausstock und Tödi. Nur einzelne Tropfen fallen aus dem immer noch blau erscheinenden Himmel, als wir uns auf den Weiterweg machen. Nach dem nächsten Felsaufschwung sind wir endgültig oben. Nur noch wenig ragen sie über die Fläche hinaus, der Hausstock auf der einen, der Tödi auf der anderen Seite. Wie am Wirtshaustisch sitzen die zwei sich gegenüber, diskutierend, vielleicht ihre Kräfte messend, wer weiss das so genau. Rasch wollen wir hinüber, ehe vielleicht einer in Zorn gerät und mit der Faust auf den Tisch schlägt. So lange es geht, halten wir uns lieber seitlich etwas unterhalb. Erst am Mittler Sebsanft müssen wir ganz nach oben und mitten über den Tisch hinweg, gerade als es ohne Vorwarnung zu schütten beginnt. Es strömt aus einem fahlen, fast noch hellen Himmel endlos auf uns herab, die wir schweigend, jeder für sich, stundenlang über rundgeschliffene Felsen steigen, die vor Jahrmillionen eine tropische Rifflandschaft waren. Doch nur ich sehe die Korallenstöcke. In den Mulden der Felsbuckel sammelt sich überall Wasser, dessen Oberflächen vom prasselnden Regen in zahllosen kreisrunden Fontänen explodiert. Wäre es nicht so kalt, erschiene es im Augenwinkel fast, als erwache das Riff zum Leben.
Schöner Text, sehr anschaulich! Geologie ist offenbar ein gefährliches Geschäft.