Berge und Steine 3: Sandwald

Wenn ich bei der Feldarbeit durch den Bergwald oder über das baumlose Hochland streife, ist in Gedanken oft auch der ein oder andere der alten Geologen dabei. In ihren Ausführungen und Kartenskizzen habe ich vorher gelesen, sie sind meine Grundlagen.

Einmal begleitet mich P. von Schumacher, dann Felix Frey, Hans Widmer oder Friedrich Weber, Theodor Hügi oder Geoffrey Franks, der auf Englisch schrieb. Sie alle arbeiteten in einem Teilgebiet und oft am Detail. Jeder erschuf sich eine Welt und beschrieb sie in einer Monographie, die keine Zweifel zulässt. Frey, der stets versucht Heim zu widerlegen und sich so zwischen den Zeilen als Schüler Staubs verrät. Schumacher, der offensichtlich alpinistisch einiges auf dem Kasten hatte, da er es nicht lassen kann, haarsträubende Mergelbänder am Bocktschingel und Speichstock als gut zugängliche Aufschlüsse zu beschreiben und im Nebensatz als Wegabkürzungen zu loben. Immer wieder ergeht es mir gleich mit ihren wohlgeschliffenen Argumentationsketten aus schlingen- und adjektivreichen Sätzen in hundert-, zweihundert-, dreihundertseitenlangen Monographien: Draussen, am Wandfuss, am Tobelbach, bleibt es ernüchternd rätselhaft. Die Kalke, die alle geschiefert und rekristallisiert sind, oder die Granite, Gneise, Quarzite, die alle feinkörnig, hart und grünlich aussehen. In Gedanken diskutiere ich mit den Alten, verwerfe ihre Details. Ich soll ja zusammenfassen, denke ich, und steige weiter zum nächsten Aufschluss.

Dort dann wieder Rätselraten. Gedanken verfolgen mich: Wie haben die früheren Geologen das gemacht? Ihre Augen müssten doch ungefähr dasselbe gesehen haben wie meine. Ich werde den Verdacht nicht los, auch nach so vielen Jahren keine Ahnung von der Gesteinsansprache zu haben. Was konnten sie, dass ich nie gelernt hatte? Ich steige die nächste Halde hinauf und versetze mich währenddessen in meine Vorgänger. Waren sie nicht alle «nur» junge Doktoranden? Wie ich einmal? Ich denke zurück wie das war, jung und voller Forscherelan. Wie viele Hänge bin ich seitdem hinaufgestiegen? Wie viele Steine habe ich seitdem gesehen? Und wie wenig wusste ich damals? Ich erreiche den Wandfuss über dem Märenwald und blicke über die Alp Hinter Sand zur Tentiwang. Aus der eigenen Erfahrung verstehe ich meine Vorgänger besser. Jeder schuf sich aus dem Chaos seiner Beobachtungen eine eloquent formulierte Welt, um zu bestehen. Und deshalb widersprechen sie sich auch. Deshalb denke ich bei dem einen Aufschluss: ah, das hat Franks gemeint! Und beim nächsten: Widmer hatte doch das bessere Konzept! Dann diskutiere ich in Gedanken nicht mehr mit dem einen oder dem anderen, sondern lasse sie untereinander das Streitgespräch führen. Franks, der zwanzig Jahre später Widmer mit neuen Untersuchungsmethoden kommt und Widmer, der ältere, der denkt: dieser junge Spund!

Anders ist es mit Jakob Oberholzer. Er war Vorgänger auch der anderen. Seine Monographie ist stolze 626 Seiten lang. Und er hat dazu eine Karte veröffentlicht, nicht nur eine Übersichtsskizze. Oder, wie Weber, eine Karte ohne jede Beschreibung. Wenn ich bisher etwas anders kartierte als Oberholzer, dann weil ich es präzisierte. Wenn ich in einem Tobel oder irgendwo im Wald einen Aufschluss entdeckte, dann fand ich ihn so oder zumindest in der seiner Zeit entsprechenden Form auch auf der Oberholzer-Karte. Das machte Eindruck. Mit einem Lächeln nahm ich dann, tief im Erlengestrüpp, zur Kenntnis: Oberholzer war hier wohl auch! Mit Oberholzer diskutiere ich in Gedanken nie.

Kürzlich, im November, stand der Sandwald auf meinem Kartierprogramm. Zwischen der Einmündung des Limmerenbachs und der Alp Vordersand gelegen, nahm ich ihn bisher nur als Etappe beim Zustieg wahr. Auch auf der topographischen Karte wirkt der Sandwald unscheinbar. Ein einziger, gleichmässiger Hang wie er typisch für überwachsene Geröllhalden ist. Von der Kiesstrasse erscheint es im Augenwinkel ebenso: Quinten-Formation, die die darüberliegenden Wänden aufbaut, liegt in Blöcken herum.

Zunächst umkreiste ich ihn. Vom Vorderleger dem Wandfuss entlang umging ich die Sandrisi, die man kaum durchsteigen kann. Bei der Seilrichti bog ich um die Bergecke in den Schatten, in dem dünn etwas Schnee lag, und erst am Nachmittag drang ich von der Nordseite her in den eigentlichen Sandwald ein. An einem Kamm aus alter Moräne absteigend, erreichte ich den Punkt 1307 m, der eine Sackgasse ist. Die Vorstellung der Gasse ist allerdings irreführend. Es schliessen sich nicht ringsum die Häuser, man kommt hier nicht weiter, weil es ringsum hinuntergeht, der Boden wegbricht. Zehn Meter vor der äussersten Kanzel liess mich ein auffälliger Spalt zögern. Halt, läuteten Alarmglocken, das sieht wacklig aus! Nein, da stehen Bäume, mein Fliegengewicht mag es auch noch leiden. Ein Sprung. Nichts geschah. Zurück, wo der Waldboden breiter ist, malte ich auf meine Feldkarte um den Punkt 1307 die Farbe für den Nummulitenkalk. Dann drang ich südwärts vor. Der Waldboden war steil und ich musste vorsichtig gehen. Unter mir war es felsig. Auf der Oberholzer-Karte ist hier Quintenkalk eingetragen. Fast zweihundert Meter ging ich nach Süden, ehe ich absteigen und die Felsen von unten erreichen konnte.

Und da, da stimmt doch etwas nicht!

Dickbankige Sandsteine und Feinkonglomerate tauchen aus den herabgefallenen Blättern. So sieht keine Quinten-Formation aus. Ich suche weiter nach Süden und weiter unten. Überall dasselbe. Manchmal auch grobspätige Kalke. Das ist Bürgen-Formation. Abgelagert in einer viel jüngeren Zeit und in küstennahem Flachwasser, nicht im offenen Meer auf einem Aussenschelf. Für einmal ist es eindeutig.

Eindeutig ist auch: Hier war Oberholzer nicht! Ein Bann ist gebrochen. Wird auch er sich nun einreihen in den Kreis meiner Begleiter, einer zwischen Schumacher, Hügi und Franks? Wie wird es sein mit ihm zu diskutieren? Noch kann ich es mir nicht vorstellen. Ich bin gespannt und ein wenig verunsichert.

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