Berge und Steine 5: Steine, die vom Himmel fallen

Die Kartierarbeit im Hochgebirge ist ernst und schön. Sie ist, an manchen Tagen weniger, an anderen mehr und an einzelnen besonders, wie ein schmaler Grat. Hoch und am Abgrund zugleich, besonders ernst und dabei ganz nah bei mir.

Einmal, im späten August, wollte ich die Gelbe Wand kartieren. Am frühen Morgen war ich hinter der Grünhornhütte auf den aperen Gletscher abgestiegen und hatte, im Zickzack auf den Eismäuerchen zwischen den Spalten gehend, den Kessel unter der Schneerus erreicht. Hier lagen unangenehm viele unangenehm grosse Eistrümmer herum und Seracs dräuten über die Gelbe Wand, funkelnd im ersten Morgenlicht. Wenig später stand ich auf Zehenspitzen am Rand des zurückgeschmolzenen Eises und erreichte mit der ausgestreckten Hand ein an den untersten Eisenstift geknotetes Seil. Der glatte Felsen ist hier bauchig. Ich hätte mich hinauf hangeln können, zögerte aber. Kein Gurt, dachte ich, kein Seil. Geht das später auch zurück? Um hinabzuspringen wäre es zu hoch. Ausserdem wäre dort, wo ich auf Zehenspitzen stand, kein guter Landeplatz für einen Sprung. Nur ein wirres Gekeile wackliger Blöcke, die einen Bergschrund, wer weiss schon wie gut, verstopfen. Nachdenklich sah ich auf den Gletscher hinab. Bald würden die Eistrümmer dort unten in die Sonne kommen. Die Seracs oben sind es schon länger. Es ist erstaunlich, dachte ich, wie still es noch immer ist…

Plötzlich kehrte ich um, hastete den Zickzack zurück und schwer atmend zur Grünhornhütte hinauf. Planänderung!

Von hier steige ich nun gegen Nordnordwest über Geröll zum Wandfuss und um das Eck in die Nordflanke des Ostgratvorbaus, wo ich über blockige Felsen dem Band des gelben Rötidolomits folge. Das Gelände ist unübersichtlich. Wandartig, dabei stark zerbrochen. Und die Geologie? Mehrere Formationen laufen gefaltet hindurch. Ich werde mich vortasten soweit es geht. Unmerklich wird dabei das Gelände wandartiger und zerbrochener. Die Felsstufen, die sich mir immer wieder in den Weg stellen, werden enger, höher und wackeln immer mehr. Immer öfter denke ich: Durchkommen wäre besser, zurück unangenehm! Und dann ist da auch wieder, ganz flüchtig erst, der Gedanke, wie peinlich es wäre, müsste man mich ausfliegen, weil ich nicht weiter- und auch nicht zurückkäme. Verletzt wäre zwar schmerzhaft, dafür entschuldbar. Und tot…

Wie oft ich abwäge, vor einem Schritt die Länge der Sturzbahn bestimme, sollte der Tritt nicht halten, und mir eine Strategie zurechtlege, wohin ich im letzten Moment zu springen versuche. Wägen, dann tun oder lassen.

Über den Tod redet man nicht, an den Tod denkt man nicht, der Tod ist ein Tabu. Und heute denke ich, der Tod ist inzwischen sogar verboten.

Mein Wägen. Ist es Todesverachtung? Ist es Glück? Ich spüre, es ist Freiheit. Der Tod, denke ich, ist eigentlich generös. Er lässt mich entscheiden. Lässt mich wägen, tun oder lassen.

Die Gedanken tragen mich zu einem etwa zehn Meter breiten Schneeband, das mich rechts hinab zum Hinteren Rötifirn bringen könnte. Vor mir ragt die Schattenwand über den halben Himmel. Hoch oben glitzern fallende Tropfen in der Sonne, die sich vom Rand, der über den Zenit läuft, lösen und im Nichts verschwinden. Eine Erosionsrinne, die von der Wand her das Schneefeld zerteilt, zerreisst bald die gerade aufgekommene Hoffnung. Gestemmt gegen die Schattenmauer gelange ich auf den Rinnengrund und müsste von dort einige Meter auf schmalen Leisten die fast senkrechte Wand zu einem Eck hin queren. Darunter bricht der Rinnengrund in einen Schlund ab, der, was er schluckt, tief unten ausspuckt und in breitem Fächer über den halben Gletscher verteilt.

Ich wäge. Im letzten Moment abzuspringen? – Nirgendwohin.

Die Sturzbahn? – Klar ist: Unten käme nur noch der Körper an.

Umkehr? – Ein unangenehmer Gedanke.

Ich setzte alles auf eine Karte und denke noch, oh shit, da macht es kurz und deutlich pffffttt, und hinter mir, auf dem Schneeband, liegt dunkel ein faustgrosser Stein. Ich konzentriere mich auf die Leisten, taste mich um das Eck und querend abwärts, bis ich wieder steilen Schnee erreiche. Er ist betonhart gefroren und während ich balancierend die Steigeisen anlege, macht es erneut pffffttt. Steinschlag? – Ist anders. Ist ein Rollen und Poltern, man schaut hinauf, sieht Steine springen, mit Glück etwas seitwärts, mit Pech direkt oberhalb und man sucht Deckung. Hier ist die Wand links und die Steine kommen rechts. Einzeln und direkt vom Himmel, gefallene Sterne. Pffffttt. Dieses Mal vorher ein längeres, leiseres fffffffffffftt… Der war wohl näher. Faustgrosse Gerölle stecken im Schnee und meine Gedanken stellen vergleichende Betrachtungen an zwischen den Härten meines Helms, des Firns, den darin steckenden Steinen und meinen darauf herumkratzenden Steigeisenspitzen, und rufen mir zu: Mach, dass du hier wegkommst!

Um vier Uhr bin ich bei der Hütte zurück. «Wo bisch gsi?», fragt mich Lisä, die Wirtin.

Ich sehe schwankende Felsstufen und sehe mich im Sternenregen stehen, lache: «I wüeschtem Gländ!»

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