Bergende Berge

Schweizer Literatur vor Ort erleben und oft im Berginnern: Zwei Werke ermöglichen Lesepfade, die freilich mehr Kopf- als Fussarbeit verlangen.

«Arbeit, täglich, an den Bunkern. Ich gehöre zum Gärtnertrupp. Pflanzen, Giessen. (…) Ich requiriere 3 Gartenschläuche, der Mechaniker setzt sie zusammen, ich spritze den ganzen Morgen lang die braunen Bunkerhügel, damit die angesähten Heublumen rascher spriessen.»

Das notierte Max Frisch im unveröffentlichten Notizheft 115 am 15. Mai 1940. Im Zweiten Weltkrieg leistete der Schweizer Schriftsteller und Architekt als Kanonier von 1939 bis 1945 insgesamt 650 Aktivdiensttage, wobei er auch Baupläne für einzelne Bunker entwarf. Seine Notizen aus dem Aktivdienst erschienen im Dezember 1939 unter dem Titel «Aus dem Tagebuch eines Soldaten» in der Zeitschrift «Atlantis» und 1940 als Buch unter dem Titel «Blätter aus dem Brotsack». Daraus nochmals ein Zitat zu einem dieser Bunker, die als wichtiger Teil des Reduit in den Schweizer Alpen erstellt wurden:

«Natürlich ist es nicht möglich, dass man ihn mit dem Pinsel zum Verschwinden bringt. Er steht auch unter dem Netz seiner Tarnfarben, die aus Schwarz und Grün und Ocker bestehen, noch immer klotzig genug. Immerhin, es lassen sie die harten Geraden, die verräterischen Umrisse verwirren, fürs Auge zerstücken und zerbrechen, die harte Fremde eines solchen Menschenwerkes, das inmitten natürlichen Gewächses steht, mindestens verunklären. Das ist der mögliche Zweck der Tarnung.»

Die beiden kurzen Bunkertexte finden sich in der 309-seitigen Schrift «Bergende Berge. Reduitfantasien in der Literatur», die Andreas Bäumler als Dissertation im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Gebirgskrieg und Reduit in der Literatur – Prekäre Alpen in national-imperialer Verschränkung (2019–2023)» an der Universität Luzern verfasst hat. Die Titel zeigen sofort, dass da gehörig mit intellektueller Kelle angerichtet wird. Wer wie ich bei den helvetischen Epistemen des Kalten Kriegs (Seite 34) nicht gleich warm wird, auf der intradiegetischen Ebene (166) ins Trudeln kommt, die Zwischentitel Digression statt Dissuasion (171) und ontologische Instabilität des Bunkers (179) nicht locker mitnimmt und spätestens im Kapitel Rückzugsfantasien im Modus der Dystopie (189) leicht angestrengt auf die Zeilen starrt, muss die Lektüre halt kurz unterbrechen und dort weiterfahren, wo die (Lese-)Arbeit mit Schlauch und Pinsel spriesst. Und man darf sich auch nicht davon verwirren lassen, dass es im dritten Hauptkapitel zweimal das Unterkapitel 3.1.1 gibt, einmal als Die Reinheit der Erzählung: Geschichtspolitik in der Nachkriegszeit und zehn Seiten weiter hinten als «Ich sehe nichts»: Dokumentation der Ereignislosigkeit im Abschnitt zu Max Frisch.

Denn: Die gebirgige Lektüre der Reduit-Literatur lohnt sich allemal, zuerst mal die Einleitung. Darin geht es nicht nur um das Reduit, um dieses System aus militärischen Verteidigungsanlagen in den Schweizer Alpen, die insbesondere im Zweiten Weltkrieg erbaut wurden, wie eben die von Max Frisch erwähnten Bunker. Sondern überhaupt um das Verhältnis der Eidgenossen(schaft) zu ihren Bergen, zur beliebten Durchlöcherung derselben, immer belegt durch zahlreiche Literaturhinweise. Und dann eben die tiefbohrende Untersuchung literarischer Texte, die das Reduit und so den Rückzug ins alpine Refugium erweitern: Texte von Graf Frédéric Gonzague de Reynold de Cressier, Max Eduard Liehburg und Felix Moeschlin, von Max Frisch, Otto F. Walter, Hermann Burger und Jürg Acklin, von Getrud Wilker, Friedrich Dürrenmatt, Claude Delarue und Christian Kracht. Nicht alle Texte scheinen per se lesenswert, Reynold und Liehburg schon gar nicht; aber wie Andreas Bäumler diese zerstückt und zerbricht, ist schon faszinierend, auch wenn man nicht sofort (oder überhaupt) jedes Wort versteht.

Weniger Kopf-, dafür mehr Fussarbeit verursacht «WanderOrte. Literarische Werke und ihre Schauplätze». Cyrill Stieger besucht mit 17 Autorinnen und Autoren 18 Orte, wo sie gelebt und/oder die sie in ihre Werke aufgenommen haben; Friedrich Glauser begleitet uns zweimal, in Münsingen sowie zwischen Heiden und Grub in Appenzell-Ausserrhoden. Mit Hermann Burger lernen wir das Ruedertal und mit Otto F. Walter das Maderanertal kennen, mit Dürrenmatt tauchen wir ein in die Twannbachschlucht – um die drei Schriftsteller zu nennen, die ebenfalls im Reduit-Buch auftauchen. Im Tessin begegnen wir Erich Maria Remarque und Aline Valangin, im Wallis Rainer Maria Rilke, Corinne Bille und Charles Ferdinand Ramuz. Dies aber fast mehr im Buch als vor Ort, weil die (wander-)touristischen Infos eher karg daherkommen. Illustriert ist es mit ganzseitigen aktuellen Farbfotos, auf denen nichts mehr angesäht werden muss.

Andreas Bäumler: Bergende Berge. Reduitfantasien in der Literatur. Signaturen der Moderne, Bd. 7. Schwabe Verlag, Basel 2025. Fr. 64.- https://schwabe.ch/Andreas-Baeumler-Bergende-Berge-978-3-7965-5180-2

Cyrill Stieger: WanderOrte. Literarische Werke und ihre Schauplätze. Mit einem Nachwort von Urs Faes. Orte Verlag, Schwellbrunn 2025.

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