Bergluft

Klettern 1869 – das war noch sportliches, literarisches und feuchtfröhliches Abenteuer! Eine echte Trouvaille aus Ankers antiquarischen Bücherbergen.

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„Meine Versuche, mich unter dem Felsen durchzudrücken, werden von einem Male zum andern ängstlicher und in demselben Grade auch erfolgloser. Mit dem Muthe schwinden auch die physischen Kräfte oder jener mit diesen, – es  ist hier nicht der Ort zu logischen Distinktionen.
‚Ein Königreich um einen Schnaps!‘ rief ich in meiner Bedrängniß. Ich hatte freilich mein Cognacfläschchen noch halb voll zur Seite hängen, aber wie dazu gelangen? Keine meiner Hände durfte ich von dem Felsbande loslassen, sie waren mir zu unentbehrliche Stützen. – Was halfen mir nun meine spitzen Nägel in den Schuhen? Die wären jetzt anderswo besser am Platze gewesen! – Jetzt ward die Vernunft, die ich vor einer halben Stunde verabschiedet, wieder zu Rath und Ehren gezogen. Sie hieß mich, meine hinunter hängenden Füßen an mich zu ziehen, die Kniee im edeln Spitzbogenstyl in die Höhe zu halten, den eisenbeschlagenen Rand meiner Absätze fest gegen den Felsen zu stemmen und mich so der Beine auf einige Augenblicke statt der Hände als Stützen zu bedienen. Der Rath war gut. Bald hing das Fläschchen, statt an meiner Seite, am schon längst darnach dürstenden Munde, der es aber auch nimmer loslassen wollte, so lange er auch nur noch die Nagelprobe darin wußte.
Ah!!! – Was doch die Welt nach solchem Göttertranke für ein ganz anderes Aussehen gewinnt! – Herkules! – Und dieser Muth!! – ‚Vreneli, jetzt laß‘ uns ein Tänzchen wagen!‘ lachte ich herausfordernd, – und ‚Ha, ha, ha‘ lachte ein Geisterchor in den Klüften hinter meinem Rücken. ‚Lacht nur darauf los! das ist mir Wurst!‘ entgegne ich trotz meines St. Gallischen Ursprungs.“

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Neue Bergbücher stapeln sich bei mir fast so hoch wie das Vreneli (ca. 1860 m), dieser verwitterte, halb eingestürzte Felszahn oberhalb Isenfluh im Lauterbrunnental – es gäbe also viel zu lesen und vorzustellen. Doch alte Bergbücher wollen auch immer wieder in die Hand genommen werden (fast wie das Fläschchen), und wenn man dann eines zufällig findet, von dem man noch nie etwas gehört hat, weder vom Titel noch vom Autor, dann steigt man ein – und bleibt hoffentlich drin, klettert weiter (auch ohne Cognac), erstaunt und erfreut darüber, einen neuen Buchberg entdeckt zu haben.

Das ist mir mit „Bergluft. Sonntagsstreifereien eines alten Clubisten“ von Arnold Halder passiert. Das Vorwort stammt von Abraham Roth (den ich kenne, hat er doch auch ein Buch übers Finsteraarhorn veröffentlicht, 134 Jahre früher…). „Bergluft“ erschien 1869 in der Dalp’schen Buch- und Kunsthandlung in Bern, wie zum Beispiel auch das Standardwerk von Gottlieb Studer über die höchsten Gipfel der Schweiz und die Geschichte ihrer Besteigung. Aufgestöbert habe ich Halders Buch im Antiquariat Wild an der Rathausgasse in Bern. Preis: – ist ja wurscht, so eine Rarität darf schon etwas kosten.

Sechs hübsch illustrierte Texte sind in der „Bergluft“ abgedruckt, Tourenberichte wie über den Juchlistock oder das Schilthorn, eine Reportage aus Mürren, die Novelle „Gyre-Jäggel. Sage über Entstehung der beiden Bergnamen Gummihorn und Daube“ (ganz stark; das Gummihorn oberhalb der Schynigen Platte ist auch so ein brüchiger, nur in halsbrecherischer Kletterei besteigbarer Turm wie das Vreneli). Und eben die Schilderung des Besteigungsversuchs des Vreneli – der Ich-Erzähler schafft es nämlich trotz des Cognacs nicht, auf die Spitze zu kommen. Zu Hause in Unterseen erwartet ihn dann nicht etwa eine feine St. Galler Wurst (über seine Lieblingsspeise lässt sich Halder auf fast vier Seiten aus), sondern „schallendes Hohngelächter“ der Gattin.

Aber wer war dieser Arnold Halder? Das Historische Lexikon der Schweiz weiss es:

Halder, Arnold
30.11.1812 St. Gallen, 23.4.1888 St. Gallen, ref., von St. Gallen. Sohn des Daniel, Kaufmanns. ∞ 1837 Maria Susanna Schwander, Tochter des Johann Jakob. 1832-33 kaufmänn. Tätigkeit in New York, danach in St. Gallen, wo er versch. Ämter bekleidete. Nach dem Ruin seiner Unternehmen 1858-78 Buchhalter in Unterseen. 1884 Rückkehr nach St. Gallen. Dort wie auch im Berner Oberland war H. als Mittelpunkt geselliger musikal. und literar. Bestrebungen geschätzt. Er verfasste Gedichte in Mundart und Schriftsprache (u.a. „Kleine poet. Versuche“ 1836, in Appenzeller und St. Galler Mundart, weitere Auflagen 1854 und 1884; „Vergissmeinnicht“ 1838), ungedruckte Dialektlustspiele, Wanderbeschreibungen („Bergluft“ 1869) und die Erzählung „Die Stiefelchen, oder Was sich in Interlaken Alles treffen kann“ (1884). Mit seinem Werk trug er zur Bekanntheit des Berner Oberlands als Touristenregion bei.

Arnold Halder: Bergluft. Sonntagsstreifereien eines alten Clubisten. Vorwort von Abraham Roth. Dalp’sche Buch- und Kunsthandlung, Bern 1869.

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